Vielleicht ist die neoliberale Gesellschaft einfach nicht individualistisch genug?
Individualismus ist eine ideologische Herausforderung für die linken Kräfte des 21. Jahrhunderts. Er konfrontiert sowohl die Gewerkschaftsbewegung als auch die globalisierungskritischen Kräfte.
30. November 1999. An diesem Morgen habe ich gewagt zu träumen. "In Seattle haben die Behörden den Ausnahmezustand erklärt. Die Polizei hat Tränengas gegen Tausende von Menschen angewandt, die gegen das Ministertreffen der Welthandelsorganisation demonstrierten." Das waren die 7-Uhr-Nachrichten. Aber es war wie ein Funke, der den ganzen Weg über den Atlantik geflogen kam und meinen Radiowecker durchdrang. Ich war angesprochen. Ich war sofort wach. Und ich hatte diesen Traum von einer Welt, die aus dem amerikanischen Traum erwacht.
Der amerikanische Traum ist der des Individuums. Die Vereinigten Staaten hatten nie eine starke Aristokratie, kein mächtiges Papsttum, es bestand nie ein "ancien régime" mit strikten Unterscheidungen von Klasse und Stand. Die Verdikte "des Marktes" machen keinen Unterschied zwischen den vornehmsten Familiennamen und dem gewöhnlichsten der John Smiths. Der Markt erkennt nur Plus oder Minus. Überschuss oder Mangel.
Unter dem Neoliberalismus ist der amerikanische Traum großzügig hergefallen über Männer und Frauen, und dies in Ländern auf der ganzen Welt. In ihm sind wir alle Individuen und nichts als Individuen. Er sagt nichts über Gruppen. Er weiß nichts von im Kampf geeinten Klassen. Jede Person ist nur eine Person, weder mehr, noch weniger - das ist die symbolische Quelle dieses sozialen Idylls des Universalismus.
So zauberhaft es auch sein mag, dieses Bild amerikanischer Freiheit und Gleichheit deckt doch nicht alles ab. Es gibt andere Visionen. So wie die, die am 11. Februar 1956 im Montgomery Advertiser gedruckt war: "Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich, dass alle Weißen gleich geschaffen sind mit gewissen Menschenrechten; darunter sind Leben, Freiheit und das Recht zur Verfolgung von Schwarzen." Einige Monate vorher war etwas geschehen. Lasst uns zurückgehen zu dem Tag im Dezember 1955, als es Rosa Parks endgültig reichte.
Sie war 43 Jahre alt, und sie arbeitete als Näherin. Sie nahm ihren Platz im Bus der Cleveland Avenue Linie in Montgomery ein. Wie immer war die Busfahrt erniedrigend. Wenn Weiße rein kamen, befahl der Busfahrer den schwarzen Passagieren, nach hinten zu gehen. Alle gehorchten. Außer Rosa Parks. Sie fing nicht an zu streiten, sie sprach kein Wort, aber sie bewegte sich auch nicht. Einige Minuten später erschien die Polizei am Tatort des fürchterlichen Vergehens. Parks wurde in Gewahrsam genommen und musste Strafe zahlen.
Das überfüllte Gemeinschaftstreffen, das von schwarzen Gemeindeführern für den Tag nach Rosas Festnahme einberufen wurde, rief alle farbigen Menschen dazu auf, die Busse der Stadt Montgomery zu boykottieren. Viele waren für ihre tägliche Fahrt zur Arbeit auf den Bus angewiesen, aber vom Tag Eins an war der Boykott nahezu vollständig. Die Schwarzen schafften es zu Fuß, in Taxis, in Privatautos und sogar auf Eseln zur Arbeit. Während des einjährigen Kampfes, der sich hieraus entwickelte, fuhren Farbige in Montgomery einfach nicht Bus. Die Behörden und die weißen Rassisten waren außer sich. Sie versuchten alles Mögliche. Von der Durchsetzung einer gesetzlichen vierfachen Erhöhung der Taxipreise hin zur Festnahme von Schwarzen wegen "illegalen Autostopps". Sie legten sogar eine Bombe am Haus des örtlichen Kirchenvorstehers Martin Luther King Jr. Aber die schwarze Gemeinde hielt zusammen.
Am 20. Dezember 1956 wurde der Stadt Montgomery das Urteil des Obersten Gerichtshofes zugestellt. Die Rassentrennung wurde als Bruch der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika anerkannt. Es war Martin Luther King Jr., der am folgenden Tag als erster Schwarzer einen Bus in Montgomery bestieg. Er nahm einen vorderen Sitzplatz ein.
Rosa Parks löste den Beginn der Bürgerrechtsbewegung aus, einer Massenmobilisierung, die es in zehn Jahren schaffte, Rassendiskriminierung aus den US-Gesetzen zu verbannen. Rosa Parks war ein mutiges Individuum. Wofür stand sie, als sie an jenem Morgen auf ihrem Platz sitzen blieb, in jenem Bus in Montgomery, Alabama? Parks selbst drückte es so aus: "Es war sehr erniedrigend, die Gemeinheit ertragen zu müssen, zwei Mal pro Tag in nach Rassen getrennten Bussen fahren zu müssen, und zwar fünf Mal die Woche, um in die Innenstadt zu gelangen und dort für weiße Leute zu arbeiten."1 Parks hatte aufbegehrt für die Würde des Individuums. Sie verlangte das Recht, mit Respekt behandelt zu werden, leben zu können in der Gesellschaft als ein Individuum, gleich mit anderen Individuen. Rosa Parks war für den Individualismus aufgestanden. Und die gesamte afrikanisch-amerikanische Gemeinschaft stand mit ihr auf.
Gegenwärtig gehört der Individualismus der politischen Rechten. Man sieht ihn als untrennbar verbunden mit Kapitalismus, Selbstsucht und liberalistischen Wirtschaftspolitiken. Der Individualismus scheint die Antithese zu jedwedem Begriff der Solidarität, gemeinsamer Interessen und des kollektiven Kampfes zu bilden. Er sieht wie das Gegenteil dessen aus, woran - glaubt man gängigen Stereotypen - sich die politische Linke halten müsse: Kollektivismus.
Die vorherrschende politische Denkweise des 20. Jahrhunderts operierte mit einem bipolaren ideologischen Schema. Entsprechend diesem Schema bildete individualistische Freiheit den rechten Pol der Achse und kollektivistische Gleichheit weit außen den linken Pol.
Kollektivismus zur Linken, Individualismus zur Rechten. Sie kennen die Achsen. Aber können Sie sich selbst darauf platzieren? Wo bringen wir den gemeinsamen Kampf für individuelle Freiheit durch Rosa Parks und die ihren unter? Und was ist Individualismus überhaupt?
In unserem kürzlich auf Norwegisch erschienenen Buch "Die Dritte Linke - Für einen Radikalen Individualismus"2, verwenden Bendik Wold und ich "Individualismus" als ein Etikett für einige wertegeleitete Bestrebungen, die über die letzten Jahrhunderte in den westlichen Kulturen hinweg weitreichende Durchbrüche erzielt haben. Wir betonen drei davon.
Individualismus strebt nach:
1. dem Respekt für die Würde des Individuums;
2. der Unabhängigkeit des Individuums;
3. der Selbstentfaltung des Individuums.
Wenn das Individualismus ist, gehört er dann wirklich ausschließlich der politischen Rechten? Wenn dem so wäre, wie hätte dann der amerikanische Sozialistenführer Daniel De Leon in einer heftigen öffentlichen Debatte im April 1912 auf seinen Opponenten, den Generalstaatsanwalt von New York, Thomas F. Carmody, weisen und kühn behaupten können: "Wir klagen den Kapitalismus der Zerstörung des Individualismus an!"? 3
Wir denken, dass De Leons Anklage sich ganz in jene geistige Tradition einfügt, die durch den radikalsten unter den Philosophen der Aufklärung - Jean-Jacques Rousseau - entwickelt wurde. Rousseau hielt die individuelle Freiheit für das größte Gut von allen und für das angemessene Ziel eines jeden Rechtssystems. Aber an die Seite der Freiheit und mit ihr gleich stellte Rousseau die Gleichheit, "weil die Freiheit ohne sie nicht bestehen kann"4.
Die anbrechende bürgerliche Gesellschaft des großstädtischen Paris, die Rousseau um sich beobachtete, wies schreiendere Ungerechtigkeiten auf als alle anderen Orte der Welt. Die bürgerliche juristische Gleichheit (vor dem Gesetz) sei tatsächlich eine gute Sache, meinte Rousseau, aber sie sei, gemessen an den Erfordernissen einer moralischen Gesellschaft, keineswegs hinreichend. Nicht so lange, wie die großen wirtschaftlichen Ungleichheiten weiter anhielten, argumentierte Rousseau. Dieser Stand der Dinge sei ein "Gesellschaftsvertrag ", den der reiche Mann zu seinem eigenen Nutzen konzipiert habe. Er legt "das Eigentum und die Ungleichheit für immer als Gesetz fest", macht "aus einer listigen Usurpation ein unaufhebbares Recht".5 Der bürgerliche Gesellschaftsvertrag schuf "für die Schwachen neue Fesseln, für die Reichen aber neue Macht"6.
Rousseaus Ansicht nach waren große wirtschaftliche Ungleichheiten unvereinbar mit individueller Freiheit. Ungleichheit schafft wirtschaftliche Abhängigkeit. Wenn Ungleichheit besteht, muss ein Mensch sich dem anderen verkaufen, um überleben zu können. Die Reichen können die Armen für ihre eigenen Zwecke ausbeuten. Die Freiheit der Armen ist dahin. Die ungleiche Gesellschaft wird eine der Unfreiheit, gegründet auf Abhängigkeit und Ausbeutung, eine Gesellschaft starker Antagonismen.
Daher: Damit die Freiheit gedeihen kann, ist es "eine der wichtigsten Aufgaben" des Staates, "die extreme Ungleichheit des Besitzes zu verhindern", "aber nicht dadurch, dass man das Vermögen einzieht, sondern dass man allen die Möglichkeiten nimmt, Vermögen zu erwerben, nicht dadurch, dass man Armenhäuser baut, sondern dass man die Bürger vor der Armut schützt"7, sagt Rousseau. Die individuelle Freiheit erfordert, dass es in der Gesellschaft "weder Reiche noch Bettler"8 gibt. Für Rousseau gehören Freiheit und Gleichheit zusammen. Nicht als Gegensätze, sondern weil sie einander gegenseitig schaffen.
Dieser radikal-demokratische Individualismus wurde von Marx weiterverfolgt. Im Gegensatz zum weit verbreiteten Bild von Marx als dem Erfinder einer kommunistischen Religion, die jeder und allen Formen von Individualismus feindlich gegenüber stehe, betraf MarxÂ’ Kritik am Kapitalismus nicht die bürgerlichen Ideale von Freiheit, Demokratie und Individualität als solche. Er klagte den Kapitalismus an, dass seine nach Klassen geteilte soziale Ordnung zum Haupthindernis für die tatsächliche, realistische Verwirklichung dieser Ideale geworden sei. MarxÂ’ Ziel war nichts weniger als individualistisch, er strebte die Entwicklung der "freien Individualität des Arbeiters"9 an. Der Fokus seiner Kritik lag auf dem "Widerspruch zwischen der Persönlichkeit des einzelnen Proletariers und seiner ihm aufgedrängten Lebensbedingung, der Arbeit"10 (Hervorhebung hinzugefügt - d. Verf.). Und der Weg vorwärts, den Marx sich zur Realisierung seines Ziels vorstellte, war die politische Mobilisierung der Arbeiter selbst für eine umfassende Demokratisierung der Verwaltung der lebenswichtigen Ressourcen der Gesellschaft - "der Produktionsmittel".
Kann man, unserer Definition des Individualismus folgend, sagen, dass Marx ein begeisterter Individualist war? Ja. "Die Anziehungskraft des Kommunismus für ihn war, dass dieser die Möglichkeiten schaffen würde, damit sich alle und jedes menschliche Individuum, und nicht nur eine kleine Elite, selbstverwirklichen können. [Â…] In diesem normativen Sinne war Marx ein Individualist"11, schreibt Jon Elster, Professor an der Columbia Universität.
Heutzutage ist dieser revolutionäre Individualismus ein wohl gehütetes ideologisches Geheimnis. Aber wir finden die gleichen Gefühle auch bei Oscar Wilde. Dieser Dandysozialist argumentierte, dass der Sozialismus "schon darum wertvoll sei, weil er zu Individualismus führen würde."12 Ungefähr zur gleichen Zeit propagierte der französische Sozialistenführer Jean Jaurés, dass der "Sozialismus die logische Vollendung des Individualismus"13 sei. Und am Abend jener hitzigen Debatte in New York City im Jahr 1912 erklärte Daniel De Leon: "Wir Anhänger der sozialistischen Bewegung sind der Überzeugung, dass wir die wirklichen Förderer des Individualismus oder der Individualität in diesem Land sind. [Â…] Wir klagen die moderne Gesellschaft, d. h. den Kapitalismus, an, die Individualität vernichten zu wollen."14
De Leons Worte fielen in die Mitte einer tobenden ideologischen Schlacht: Wer würde sich als der wahre Verteidiger des Individualismus erweisen? Würden die rechten oder die linken Kräfte das Vorrecht erringen, das Banner des Individualismus durch das 20. Jahrhundert zu tragen? Im rechten Lager wurde der Individualismus als eine Ideologie gesehen, die einen durch und durch amerikanischen Kapitalismus und die Feuerwerke der Freiheit, die seine bürgerliche Demokratie uns bringe, feiert. Im linken Lager brüteten die Bestrebungen nach Individualismus eine beißende moralische und soziale Kritik des kapitalistischen Systems aus und stärkten ihre Argumentation für revolutionäre Veränderung. Dann kam die Revolution von 1917. Vieles würde sich nun ändern.
Mit der Konsolidierung der Sowjetunion in den 1930er Jahren als einer monopolistisch-bürokratischen Diktatur etablierte sich der Kreml als die globale Autorität des "Marxismus-Leninismus". Dem vom Stalinismus wiedererfundenen Karl Marx wurde die undankbare Aufgabe übertragen, einen Staat ohne wirkliche Rede- und Versammlungsfreiheit, ohne unabhängige Gewerkschaften und ohne individuelle Rechtssicherheit zu verteidigen. Dem Kreml zufolge war ein solcher Staat Sozialismus.
Was diese besondere Frage anging, wurde Joseph Stalin (aus dem einen oder anderen Grund) in den westlichen Politikwissenschaften zu einer Quelle der Autorität erklärt. In der Folge entwickelte sich ein das kritische Nachdenken erstickender ideologischer Konsens, der den Sozialismus als die "kollektivistische Unterordnung der Individuen unter den Staat" definierte. Auf diese Definition konnten sich sowohl kommunistische als auch bürgerliche und sozialdemokratische Regime einigen. Es war im Interesse aller drei, dass der Sozialismus so definiert wurde.
Es entstand auf dem ideologischen Schlachtfeld eine bürgerlich-stalinistische Koalition. Auf ihrer Grundlage war man in der Lage, jenes bipolare Schema zu etablieren, das daspolitische Denken während des Großteils des 20. Jahrhunderts dominierte. Sehen Sie es sich an: das Schema des Liberalismus!
SOZIALISMUS - WOHLFAHRTSSTAAT - MARKTLIBERALISMUS
+ GLEICHHEIT- FREIHEIT >>WACHSENDE INDIVIDUALISIERUNG >> - GLEICHHEIT + FREIHEIT
Diesem Schema nach wird Sozialismus als ein Machtmonopol des Staates in allen Bereichen der Gesellschaft angesehen, der Wohlfahrtsstaat als paternalistische Regulierung und Einmischung, während der Marktliberalismus zum Äquivalent für das Recht auf Leben, Freiheit und die uneingeschränkte Verfolgung des persönlichen Glücks wird. Es wird zugegeben, dass der Neoliberalismus einen Schritt weg von der Gleichheit bedeutet. Aber es gäbe eine wertvolle Kehrseite: Der Neoliberalismus wird auch als ein Schub in Richtung erhöhte individuelle Freiheit gesehen.
Dieses Schema hat viel mit dem Aufkommen des Neoliberalismus (und des "Dritten Weges") zu tun. Das Schema des Liberalismus war ein günstiges ideologisches Klima für die darauf folgende Durchsetzung dessen, was Pierre Bourdieu die "elementaren Formen des neoliberalen Denkens"15 nannte. Die folgenden Dichotomien sind feste Bestandteile der großen ideologischen und wirtschaftlichen Restauration, die in Folge der fallenden amerikanischen Profitraten um 1968 begann.
Elementare Formen des neoliberalen Denkens
STAAT: beschränkt; geschlossen; starr; unbeweglich; erstarrt; Vergangenheit, überholt; Stasis; Gruppe, Holismus, Kollektivismus; Uniformität, Künstlichkeit; autokratisch ("totalitär")
MARKT. frei; offen; flexibel; dynamisch, selbsttransformierend; Zukunft, Neuheit; Wachstum; Individuum; Individualismus; Vielfalt, Authentizität; demokratisch
Auf der Grundlage dieser Interpretation der Geschichte des 20. Jahrhunderts waren die Neoliberalen in der Lage, ihren globalen Sturmangriff auf Wohlfahrt und Gewerkschaften als "Fortschritt" und "Befreiung" darzustellen. Diese Erzählung hat sich als sehr machtvoll erwiesen. Aber der Neoliberalismus ist nicht das einzige Element der ideologischen Hegemonie dieser Tage.
"Was ist die Matrix", fragen wir in unserem Buch. In anderen Worten: Welche Weltanschauungen haben es geschafft, die Matrix, die die wachsende Arbeiterbewegung prägte, das Bewusstsein von der "Klasse", zu ersetzen? Eine Antwort könnte damit beginnen, die Dreieinigkeit des bürgerlichen Individualismus zu rekonstruieren:
1. Neoliberalismus - wirksam in der ökonomischen und politischen Elite.
2. "Postmodernismus" - wirksam in der intellektuellen Elite.
3. Die Unterhaltungsindustrie - mit Einfluss auf die ganze Bevölkerung.
Zusammen genommen sind dies Diskurse mit der Fähigkeit, Anschauungen der Welt und des Ichs von der Spitze herab bis zur untersten Schicht der Gesellschaft zu formieren. Diese Dreieinigkeit trägt zur Konsolidierung des bürgerlichen Individualismus mittels dreier verschiedener und unabhängiger Konstruktionen des sich selbst genügenden Individuums bei:
- Die Wirtschaftstheorie konstruiert den Menschen als homo oeconomicus, als Nutzen maximierendes vereinzeltes Individuum, wie es den theoretischen Modellen der neoklassischen Wirtschaftstheorie innewohnt.
- Vieles in der so genannten postmodernen Kulturtheorie (de)konstruiert ein menschliches Wesen, das von Klassenzugehörigkeit, Nationalität und anderen sozialen Identitäten befreit ist. Dazu mengt es oft eine jugendliche Zelebrierung der mit Güterkonsumtion verbundenen befreienden Effekte. Dieses Individuum des Postmodernismus ist der verspielte und triebhafte Cousin des homo oeconomicus.
- Die Werbemanager und die Unterhaltungsindustrie konstruieren ihre Ansprechgruppe nicht als BürgerInnen, sondern als konsumierende Individuen. Derartige Individuen finden ihr Glück, Unglück und den Sinn ihres Lebens innerhalb des Horizontes der Güter, Dienstleistungen und der Unterhaltung auf dem kapitalistischen Markt.
Die ideologischen Effekte dieser Dreifaltigkeit geben dem bürgerlichen Individualismus eine Definitionsmacht, die außerordentlich stark ist. Dies kann man zum Beispiel an den elementaren Formen des (amerikanisierten) "postmodernen" Denkens sehen:
Elementare Formen des (amerikanisierten) "postmodernen" Denkens
MODERNE: beschränkt, geschlossen, starr, unbeweglich, erstarrt, Vergangenheit, überholt, Stasis, Gruppe, Holismus, Kollektivismus, Uniformität, Künstlichkeit, Wahrheit
POSTMODERNE: frei, offen, flexibel, dynamisch, selbsttransformierend, Zukunft, Neuheit, Wachstum, Individuum, Individualismus, Vielfalt, Authentizität, Unverständlichkeit
Wir sehen, wie gut diese Weltanschauung des Postmodernismus zu den Dichotomien des Neoliberalismus passtÂ… Zusammengenommen zeichnen die Diskurse der Dreifaltigkeit das folgende Bild des westlichen Kapitalismus:
"Alle Individuen sind frei. Wir sind frei als Konsumenten. Wir sind frei als Wählerinnen und Wähler. Wir sind frei, auf dem Arbeitsmarkt zu kaufen und zu verkaufen. Dank dieser Freiheiten haben wir Demokratie. Je mehr Güter, Dienstleistungen und Symbole produziert werden, desto größer das Maß an Glückseligkeit. Je mehr wir deregulieren, desto mehr Produktion - und daher desto größer das Glücksgefühl. Wir gestalten unsere eigenen Leben. Wir sind nicht länger an engstirnige Traditionen und eingleisige Ideologien gebunden. Wir sind alle Individuen und nichts als Individuen."
Man trifft diese Weltanschauung überall an. Die Haltungen unter Wirtschaftsmanagern, Politikern, Werbefachleuten, Kulturkommentatoren und den Leuten auf der Straße bestärken sich alle gegenseitig. Sie sind geprägt durch die amerikanische Ideologie, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts durch Neoliberalismus, "Postmodernismus" und Unterhaltungsindustrien in so viele Ecken der Welt verbreitet wurde. Klassentrennungen, Klasseninteressen und alles, was mit ihnen einhergeht, gehören nun der Vergangenheit an. Die Arbeiterklasse gibt es nicht mehr. Alles, von dem Du dachtest, dass es festen Bestand hätte, löst sich in Luft auf.
In dieser globalisierten Netzwerkgesellschaft ist es hoffnungslos altmodisch zu denken, dass man eine "Position einnehmen" könne. Es ist sinnlos zu denken, dass eine andere Welt möglich ist. Lang vergessen ist der radikale Individualismus von Jean-Jacques Rousseau. Karl Marx wird als irgendein verrückter, kollektivistischer Sozialingenieur dargestellt. Und niemand scheint sich an das Paradox zu erinnern, dass eine 43 Jahre alte Näherin in Montgomery, Alabama, sich für individuelle Freiheit nur durch den gemeinsamen Kampf einsetzen konnte.
Der Individualismus ist eine immense ideologische Herausforderung für die linken Kräfte des 21. Jahrhunderts. Er konfrontiert sowohl die Gewerkschaftsbewegung als auch die globalisierungskritischen Kräfte. Dieser Herausforderung muss begegnet werden. Aber wie?
Ich dachte schon, Ihr würdet mich das nicht fragen! Hier sind vier frische rote Paprika, an denen Ihr kauen müsst:
- Die linke Anklage gegen den Neoliberalismus sollte nicht sein, dass er zu exzessiv individualistisch sei. Im Gegenteil: Diese Marktgesellschaft ist noch lange nicht individualistisch genug. Wir sollten fragen: Wie befreiend für Individuen ist eine Weltwirtschaft, die Millionen von Menschen in Arbeitslosigkeit und Armut stürzt? Ist es aus Fürsorge für Individuen, dass die in festen Arbeitsverhältnissen verbleibenden Lohnabhängigen immer höherem Druck ausgesetzt werden, Überstunden ohne Ende leisten müssen und schweren Belastungen für Körper und Geist unterworfen werden? Und was auf der Welt hat es mit Individualismus zu tun, wenn das Marketinggeschäft Milliarden Dollars in die zynischste Manipulierung und Ausbeutung der Gefühle und der sozialen Unsicherheit der Individuen steckt?
- Wir müssen darauf hinweisen, dass für uns einfache Leute wachsende individuelle Freiheit bisher immer nur durch gemeinsamen Kampf erreicht worden ist. In dem frappierenden Beispiel des Busboykotts von Montgomery sehen wir, wie Individuen täglich Freiheiten opferten, indem sie den Bus nicht benutzten und Belästigungen von Weißen über sich ergehen ließen - und zwar für ein höheres Ziel. Aber was war das für ein Ziel? Es war keine kollektivistische Sehnsucht, die Individualität im schwarzen Körper der Gesellschaft aufzulösen. Opfer wurden gebracht für ein konkretes, erreichbares Ziel erhöhter Freiheit und Würde für alle Individuen der Gruppe. Das gleiche gilt für die Arbeiterbewegung: Der Arbeiter oder die Arbeiterin gibt einen Teil seiner oder ihrer individuellen Zeit und Ressourcen für die kollektive Bewegung auf, weil dies wiederum seine oder ihre Position als einem Individuum in einer vom Kapital dominierten Gesellschaft stärkt. Dies gilt für jegliches Beispiel dieser aufgeklärten Form des Eigeninteresses, die wir Solidarität nennen. Nichts war befreiender oder hat mehr zur Verbesserung der Position der britischen oder norwegischen Individuen im 20. Jahrhundert beigetragen als die Entwicklung des Wohlfahrtsstaats. Er schuf soziale Institutionen, die einfachen Leuten, auf individueller Basis, ein gewisses Maß an wirtschaftlicher Sicherheit anboten, und uns damit gegenüber den Reichen stärkte. Wie Ulrich Beck betont, ist die Individualisierung kein individueller Prozess, sondern ist von Institutionen und insbesondere denen den Wohlfahrtsstaates abhängig.
- Die Linke muss danach trachten, das Schema des Liberalismus durch das Schema des Sozialismus zu ersetzen. Hier sehen Sie es in einer Version, wie man sie auf die Zeit des Kalten Krieges anwenden könnte:
Das Schema des Sozialismus (1)
Stalinismus - Marktliberalismus - Wohlfahrtsstaat - Sozialistische Demokratie
- Freiheit >> wachsende Individualisierung >> + Freiheit
Hier wird Sozialismus als demokratische Verwaltung der lebenswichtigen Ressourcen der Gesellschaft ("der Wirtschaft") definiert.
Unter dem Stalinismus war die Wirtschaft unleugbar ausgesprochener politischer Administration unterworfen, aber niemand würde diese politische Ökonomie je "demokratisch" nennen. Er gehört an das äußerste Ende unserer Achse, mit mageren individuellen Freiheiten. Beachtet, wie nahe der ungezügelte Kapitalismus in dieser Hinsicht dem "Imperium des Bösen" ist! Der Marktliberalismus schwächt die Position des arbeitenden Individuums auf dem Arbeitsmarkt soweit, wie er kann, und tut so ziemlich dasselbe mit den politischen Organen der Demokratie. Unter dem Wohlfahrtsstaat werden wesentliche "sozialistische Breschen " in das kapitalistische System geschlagen. Dieser partielle Schutz gegen die "Tyrannei der Reichen" stärkt die Position des Individuums.
Der Anstieg an individueller Freiheit, der entlang der Achse von links nach rechts angezeigt ist, entspricht dem Grad an Demokratie. Das wird durch das Schema des Sozialismus in seiner allgemeinen Form demonstriert.
Das Schema des Sozialismus (2)
Feudalismus - Marktliberalismus - Wohlfahrtsstaat - Sozialistische Demokratie
- Freiheit - Gleichheit >> (Wirtschafts-) Demokratie >> + Freiheit + Gleichheit
Wenn der historische Fortschritt der Demokratie so gesehen wird, wirkt die augenblickliche Position der "neuen Bewegungen" - die argumentieren, dass "eine andere Welt möglich ist" und gleichzeitig die bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Institutionen glühend verteidigen - weniger paradox. Der Neoliberalismus wird als reaktionär gesehen. Die Feinde des Wohlfahrtsstaats sind wirklich dabei, "die Uhr zurückzudrehen". Daher kämpfen wir für die Verteidigung des schon Bestehenden. Aber über den instabilen Waffenstillstand der so genannten gemischten Wirtschaft der keynesianischen Zeiten hinaus gibt es etwas, für das es zu kämpfen lohnt. Darum kämpfen wir auch für das, was es noch nicht gibt. - Wenn wir kämpfen, um den Wohlfahrtsstaat zu verteidigen, tun wir dies im Namen des radikalen Individualismus. Die kollektiven Einrichtungen des Wohlfahrtssystems werden eingesetzt, um die Würde, die Unabhängigkeit und die Selbstentfaltung der Individuen zu erhöhen.
Nach Seattle haben wir die Konturen einer mächtigen Allianz zwischen der globalisierungskritischen Bewegung und der traditionellen Arbeiterbewegung gesehen. Die Mission dieser vereinten Kräfte ist es, die gemeinschaftliche Mobilisierung für individuelle Freiheit fortzusetzen, die im vergangenen Jahrhundert so viel erreicht hat.
Uns ist der Wohlfahrtsstaat nicht sakrosankt. Aber er sollte auch nicht abgebaut und privatisiert werden. Was jetzt vorgeht, ist wie eine Frühwarnung der neuen Gesellschaft. Für uns ist der Wohlfahrtsstaat eine lebende und sich aufbäumende Erinnerung daran, dass wir es immer wagen sollten zu träumen, er ist das hart erkämpfte Zeugnis, dass eine andere Welt tatsächlich möglich ist.
Übersetzt von CARLA KRÜGER und bearbeitet von MICHAEL BRIE
Magnus Marsdal - Jg. 1974; Journalist, seit April 2005 Sprecher von Attac Norwegen; gemeinsam mit Bendik Wold Verfasser des im Verlag Oktober 2004 in Oslo erschienenen Buches "Tredje venstre - for en radikal individualisme" (Dritte Linke - für einen radikalen Individualismus).
1 Freddie Parker: Malcolm X and Martin Luther King, Jr. http://www.dlt.ncssm.edu/lmtm/docs/MXnMLK/Script.pdf, S. 3.
2 Magnus Marsdal und Bendik Wold: Tredje venstre, for en radikal individualisme. Forlaget Oktober, 2004.
3 Daniel De Leon und Thomas F. Carmody: De Leon-Carmody Debate: Individualism vs. Socialism: Delivered at ProctorÂ’s Theatre, Troy, NY, April 14, 1912. New York Labor News, 1955.
4 Jean-Jacques Rousseau: Der Gesellschaftsvertrag, Leipzig: Philipp Reclam jun. 1978, S. 83.
5 Ders.: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, in: Ders.: Frühe Schriften, Leipzig: Philipp Reclam. jun. 1970, S. 178.
6 Ebenda.
7 Ders.: Von der Ökonomie des Staates, in: Ebenda, S. 271.
8 Ders: Der Gesellschaftsvertrag, a. a. O., S. 169.
9 Karl Marx: Das Kapital. Erster Band, in: MEW, Bd. 23, S. 789.
10 Karl Marx: Die Deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, S. 77.
11 Jon Elster: Making Sense of Marx, Cambridge University Press 1990. Norwegian edition (Hva er igjen av Marx?, Universitetsforlaget, 1988) p. 36.
12 Oscar Wilde: Complete Works of Oscar Wilde, Collins 1969, p. 1080.
13 Jean Jaurès: Socialisme et liberté, quoted in Stephen Lukes: Individualism, Blackwell 1973, p. 12.
14 Daniel De Leon und Thomas F. Carmody: De Leon-Carmody Debate: Individualism vs. Socialism: Delivered at Proctor's Theatre, Troy, NY, April 14, 1912. New York Labor News, 1955.
15 Pierre Bourdieu und Loïc Wacquant: Neoliberal newspeak, notes on the new planetary vulgate, in: Radical Philosophy 105, January 2001.
in: UTOPIE kreativ, H. 177/178 (Juli/August 2005), S. 619-627
aus dem Inhalt des Heftes:
VorSatz
Essay
HELMUT BOCK Die schöne Revolution. "Von nun an werden die Bankiers herrschen!"
Gesellschaft - Analyse & Alternativen
ULRICH BUSCH 15 Jahre Währungsunion. Ein kritischer Rückblick
JOACHIM TESCH Demographischer Wandel, wachsende Einkommensarmut und Wohnungspolitik
MAGNUS MARSDAL Sozialistischer Individualismus. Vielleicht ist die neoliberale Gesellschaft einfach nicht individualistisch genug?
HANS-GERT GRÄBE Die Macht des Wissens in der modernen Gesellschaft
BRIGITTE STOLZ-WILLIG Geschlechterdemokratie und Arbeitsmarktreform. Eine neues Leitbild
Gundermann-Kolloquium, Februar 2005
BERND RUMP Gundi und der Krieg
BIRGIT DAHLKE Das Recht auf Melancholie - Gundermann und sein Publikum nach 1989
PAUL D. BARTSCH Gundermanns poetische Seilschaften
DELLE KRIESE Wie es war. Erinnerungen an eine Zusammenarbeit
Zu Bildern und Liedern
HENRY-MARTIN KLEMT Vielleicht sind wir alle bloß einer
STEFAN KÖRBEL Â’s war okay oder: Drei coole Sätze
SIMONE HAIN Gundermanns post mortem: Über das Ende der Arbeit, den Kampf gegen das Empire und die notwendige Erziehung der Gefühle
KLAUS-PETER SCHWARZ Aut Spartacus aut nihil: was bleiben kann
Das kurze 20. Jahrhundert
REINER TOSSTORFF Moskau oder Amsterdam? Die Rote Gewerkschaftsinternationale 1920 bis 1937
RUDOLF SAUERZAPF Rosa Luxemburgs Eintreten für die russische Revolution von 1905 bis 1907
GÜNTER WIRTH Paul Feldkeller - mehr als ein "Privatgelehrter"
Standorte
MARIO CANDEIAS Von Hegemonie bis Justiz. Zum Erscheinen des Bandes 6 des Historisch-Kritischen Wörterbuches des Marxismus
Festplatte
WOLFGANG SABATH Die Wochen im Rückstau
Bücher & Zeitschriften
Gerhard Hanloser: Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken. Zu Geschichte, Kritik und Zukunft antideutscher Politik (PETER ULLRICH)
Thomas Haury: Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR (JÖRN SCHÜTRUMPF)
Lothar Schröter (Hrsg.): Europa und Militär. Europäische Friedenspolitik oder Militarisierung der EU? (BERNHARD HEIMANN)
Ellis Huber, Kurt Langbein: Die Gesundheits-Revolution. Radikale Wege aus der Krise - was Patienten wissen müssen (VIOLA SCHUBERT-LEHNHARDT)
Lexikon der Weltbevölkerung. Geographie - Kultur - Gesellschaft. Verfasst von Heinz-Gerhard Zimpel, Walter de Gruyter Berlin, New York 2001 (PARVIZ KHALATBARI)
Stefan Bollinger (Hrsg.): Das letzte Jahr der DDR. Zwischen Revolution und Selbstaufgabe (ULRICH VAN DER HEYDEN)
Summaries