Der Fall Opel

Nach DaimlerChrysler, Ford und Volkswagen versucht der weltgrößte Autoproduzent General Motors ein radikales Restrukturierungsprogramm gegenüber den Belegschaften durchzusetzen.

Bis 2006 sollen in Europa die jährlichen Kosten um 0,5 Mrd. E reduziert werden; 90% der Einsparmaßnahmen sollen bereits im kommenden Jahr verwirklicht sein. 12.000 Arbeitsplätze sollen gestrichen werden, davon 10.000 in den deutschen Produktionsstätten. Allein im Werk Bochum sind 40% der Arbeitsplätze zur Disposition gestellt worden.

Angesichts dieser Bedrohung stellte die Bochumer Belegschaft die Wertschöpfung für sechs Tage ein. Dieser von der Unternehmensleitung, dem sozialdemokratischen Wirtschaftsminister und dem Großteil der Öffentlichkeit als "wilder Streik" angegriffene Widerstand hat dazu geführt, dass auch an anderen Standorten die Bänder angehalten werden mussten. Die Welle der Solidarität mit den Opelanern ist nicht auf Bochum beschränkt, insgesamt herrscht große Betroffenheit über die erneute Lawine von Arbeitsplatzvernichtung.

Das Opel-Management hat sich nach dem brutalen Angriff auf die Rechte der Belegschaften moderaterer Töne befleißigt. Die Unternehmensleitung will den Konflikt entschärfen mit der Erklärung, soweit die Standorte Bochum und Rüsselsheim wettbewerbsfähig würden, könnten sie über 2010 hinaus weitergeführt werden. Doch im Grunde wissen alle Beteiligten, dass diese Zugeständnisse wenig wert sind.

Alle Automobilkonzerne bereiten sich auf eine Verschärfung des Wettbewerbs vor. Die Perspektive für die Beschäftigten: höhere Leistung, geringere Entlohnung, fortschreitender Arbeitsplatzabbau auch durch Standortschließungen. Der Tenor der veröffentlichten Meinung ist: Auch die Automobilwerker müssten ihren Beitrag zur Überwindung von Managementfehlern leisten, was im Übrigen nicht so kompliziert sei, da die Opel-Beschäftigten - trotz Verlusten für GM - immer noch 20% über dem Tarifvertrag bezahlt würden. Aber diese "Kostensenkung" wird die Arbeitsproduktivität nicht erhöhen, wie sich insgesamt solche Einschnitte in die Arbeitsbedingungen (Löhne, Arbeitszeiten etc.) kontraproduktiv für eine moderne, zukunftsfähige Arbeitsorganisation erweisen werden.

Selbstverständlich liegen bei den großen Automobilunternehmen, die wie GM, Ford, Fiat etc. Verluste schreiben, auch Managementfehler vor. Gleiches gilt für den Handelskonzern Karstadt und für weitere 40.000 kleine und größere Unternehmen, die im laufenden Jahr durch Insolvenz vom Markt verschwinden. Dazu zwingt die verschärfte Konkurrenz der Einzelkapitale untereinander um Marktanteile. Zum Kapitalismus gehört nun mal die Marktbereinigung der Unternehmen, die sich im globalen Konkurrenzkampf nicht behaupten können. Dies ist eine Binsenweisheit. Aber in den letzten Jahrzehnten gehörte zum gesellschaftlichen Konsens eben auch: Die Beschäftigten müssen durch aktive Struktur- und Arbeitsmarktpolitik davor geschützt werden, dass der immer brutaler werdende Auslesewettbewerb auf ihrem Rücken ausgetragen wird. Dieser "Klassenkompromiss" ist aufgekündigt worden. Weder durch öffentliche Investitionen noch durch Transfers wird der Krise entgegengewirkt.

Die Dramatik der Situation ist politisch herbeigeführt worden. Und Bochum könnte zu einem Symbol werden. Anfangs galt das Opel-Werk als Musterbeispiel für erfolgreichen Strukturwandel. Mit 25.000 Arbeitsplätzen bei Opel wurde die Zechenkrise abgefedert. Noch vor drei Jahren zählte man im Werk 15.000 Arbeitsplätze, bis heute sind sie auf 9.500 abgeschmolzen worden. Doch was passiert mit denen, die jetzt gehen sollen? Das Instrument der Beschäftigungsgesellschaft, mit dem man Personalabbau für über 55-Jährige abfedern konnte, ist durch "Hartz" kaputt gemacht worden: durch die Begrenzung des Arbeitslosengeldes I auf zwölf Monate und die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe. Und das, was es noch in den 1990er Jahren an "aktiver Arbeitsmarktpolitik" gab, wurde durch die so genannten "neuen Instrumente" ersetzt: Ich-AG, Mini-Job, Personal-Service-Agentur. Politik konzentriert sich heutzutage auf die marktförmige Ausrichtung des Strukturwandels.

Das Opel-Werk in Bochum könnte dabei über die Wupper gehen. Wird die Produktion des Zafira ganz nach Gliwice verlagert, wie es der polnischen Regierung beim letzten Rüstungsgeschäft in den USA versichert wurde, würde Bochum zu einem Komponentenwerk, dem wohl niemand längere Überlebenschancen zutraut.

Aus jeder Unternehmenskrise sind die Beschäftigten bislang dezimiert, mit erheblichen Abstrichen bei ihren Einkommensverhältnissen und weiteren Verschlechterungen ihrer Arbeitsbedingungen (gleichzeitige Intensivierung und Extensivierung der Arbeitszeit) herausgekommen. Die Summe dieser vermeintlich unvermeidbaren Krisenopfer führt zu einer weiteren Schwächung des Binnenmarktes. Eine tragfähige gesellschaftliche Perspektive für alle Krisenopfer - von Karstadt bis Opel - unterstellt einen radikalen Politikwechsel. In einem betrieblichen und gewerkschaftlichen Abwehrkampf allein wird dieser nicht durchzusetzen sein. Nur wenn der Abbau von sozialstaatlichen Kompensationen der kapitalistischen Konkurrenz rückgängig gemacht wird, die gesellschaftliche Regulierung und Steuerung wieder zum akzeptierten Thema werden, haben die auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesenen Menschen eine akzeptable Zukunftsperspektive.

Opel steht nicht allein, gleichwohl wollen Wirtschaftsexperten und Gewerkschaftsvertreter nicht von einer Automobilkrise sprechen, obgleich jeder Blick auf die Gesamtökonomie zeigt: Der Höhepunkt des laufenden Konjunkturaufschwungs ist überschritten, und damit stellt sich die stets spannende Frage, wie tief fällt der nachfolgende Abschwung aus. Wir haben vielleicht noch keine offenkundige Branchenkrise im Automobilbereich, aber reichlich Ertragsprobleme bei den großen Unternehmen.

Die Sparte General Motors Europa (die Marken Saab, Vauxhall und Opel) schreibt seit fünf Jahren rote Zahlen, der akkumulierte Verlust beläuft sich auf über 2 Mrd. E und für das laufende Jahr ist erneut kein Turnaround in Sicht. Die Kapazitätsauslastung der Werke Rüsselsheim und Trollhättan (Schweden) wird von Experten für das laufende Jahr auf 58% bzw. 68% geschätzt. Opel hat zwar die schlechte Produktperformanz der Vorjahre beseitigen können, aber z.Zt. stockt der Absatz erneut. Aber auch andere Konzerne stehen vor den Problemen von Absatzstockung, Überkapazitäten und neuen Produktzyklen. Massenanbieter wie VW und Opel geraten durch die differenzierten Kundenwünsche und die schmaler gewordenen Anschaffungsbudgets bei den Konsumenten unter Druck. Es zeichnet sich auf dem Markt eine Tendenz zur Verringerung des Segments der Mittelklasse-Fahrzeuge ab; Expansion findet zum einen auf dem Terrain des Premiumsegments (BMW, DaimlerChrysler, Porsche etc.) und zum anderen im Bereich der preisgünstigen Fahrzeuge statt. Luxus versus Geiz bestimmt auch hier die Absatzkurven. Verschont bleibt keine Belegschaft. Nach Opel und VW werden BMW und Audi vorstellig. Auch sie wollen ihre Kostenstrukturen "optimieren" und - wie es heutzutage so schön heißt - die Belegschaften an der Aufbringung der Investitionskosten beteiligen, wahrscheinlich mit jenem ominösen Betrag von 500 Millionen Euro, der seit dem Frühjahr als Sanierungsbeitrag durch Industrie und Handel geistert.

General Motors hat nicht nur auf dem europäischen Markt Probleme, auch auf dem hart umkämpften US-Markt werden rote Zahlen geschrieben. Die Rabattpolitik aller US-Hersteller ist ein deutliches Indiz für Überkapazitäten. Der Gewinn von GM resultiert aus der Sparte Finanzierungen und Versicherungen, was bislang noch ausreicht, die Verluste der Autosparte zu kompensieren. Man kann also sehr wohl resümieren, dass sich im laufenden Jahr das Preisumfeld auf den wichtigen Absatzmärkten signifikant verschlechtert hat und die Absatzmärkte insgesamt keineswegs auf Expansion gestellt sind. Für Deutschland gilt dies im besonderen Maße, weil die aktuellen Zulassungszahlen für PKWs deutlich hinter den Produktionsergebnissen zurückbleiben. Die Schere zwischen Inlandsproduktion und Neuzulassungen ist weiter auseinander gegangen. Auch wenn sich einige Konzerne durch ihre Produktpalette deutlich von den Massenherstellern absetzen können und die deutsche Automobilindustrie nach wie vor von ihrer Exportstärke profitiert, so ist doch unübersehbar, dass in der Branche insgesamt große Überkapazitäten aufgebaut sind.

Arbeitszeitverlängerung, Abbau von übertariflichen und tariflichen Leistungen sind brutale Maßnahmen zur Intensivierung des Wettbewerbs; hinzu kommt, dass die Unternehmenspolitik weiter auf Ausweitung der Flexibilisierung setzt. Überkapazitäten werden aber durch Abstriche am sozialen Standard der Beschäftigten nicht beseitigt. Was wir neben den betrieblichen Abwehrkämpfen brauchen, ist ein radikaler Kurswechsel der Politik: Nur bei einem politisch gewollten und realisierten ausgewogenen Verhältnis von Export und Binnenökonomie, nur bei einer gesellschaftlichen Verteilung der Produktivitätsfortschritte an alle sozialen Schichten kann es eine Trendwende geben. Die aktuellen Konflikte unterstreichen: Es bedarf einer gesamtgesellschaftlichen, politischen Einbindung, einer expansiven Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, wenn die Belegschaften aus der Defensivkonstellation herauskommen sollen. (Aus: Sozialismus 11-2004; den kompletten Inhalt des neuen Heftes gibt es unter www.sozialismus.de

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