Philosophie als Kritik, Wissenschaft, Aufklärung und Orientierung

Wenn man mich vor zwanzig Jahren gefragt hätte, was Philosophie sei, dann hätte ich geantwortet: Philosophie ist Kritik - ...

... und radikale Philosophie ist radikale Kritik, wobei ich unter Kritik damals in aller erster Linie Gesellschaftskritik verstand. So jedenfalls hatte ich es aus zwei Büchern, die mir ein Freund aus dem Westteil der Stadt in den Ostteil schmuggelte - es handelte sich um die Negative Dialektik von Adorno und um Geschichte und Klassenbewußtsein von Lukács. An Philosophie interessierte mich zunächst das Geschäft der Kritik - und die sollte radikal sein. Sie sollte sich einerseits vom parteioffiziellen Marxismus-Leninismus unterscheiden, bestimmt durch die Ausbildung eines Dialektischen Materialismus mit Einschluß einer Naturdialektik und einer Widerspiegelungstheorie, da dieser zur Legitimationswissenschaft verkommen war, und sie sollte andererseits eine philosophische Perspektive formulieren, mit der sich ein Sozialismus kritisieren ließ, der aus der Kälte kam. Denn bei aller Unklarheit schien mir eines klar: daß dies alles nicht allzuviel mit dem zu tun hatte, was ich mir unter einem Sozialismus vorstellte, der nicht hinter die Errungenschaften der kapitalistischen Moderne zurückfällt, sondern deren Widersprüche auf eine nicht-antagonistische Weise austrägt. Gesucht war ein Kritikprojekt, das sich hinreichend scharf vom parteioffiziellen Marxismus unterschied, ohne dabei die Orientierung auf einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" aufzugeben, wie er aus meiner damaligen Sicht 1968 in der Tschechoslowakei versucht wurde.
Und hierfür bot sich zunächst einmal die Kritische Theorie an, wie sie in groben Umrissen von Horkheimer in den frühen dreißiger Jahren in seinem Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie formuliert wurde.1 Auf diese Weise schien sich zunächst ein kritischer Marxismus in der Philosophie vertreten zu lassen, dessen Kritikprojekt wie folgt strukturiert war: Die Kritik der politischen Ökonomie begründet die Gesellschaftskritik; die Theorie des Warenfetischismus trägt die Ideologiekritik, die ihrerseits die Gesellschafts- und die Kulturkritik verbindet; und die Verknüpfung von Ideologie und Philosophiekritik stiftet dann die Einheit von Gesellschafts- und Erkenntnistheorie, durch die sich die Kritische Theorie gegen Hegel und den deutschen Idealismus abgrenzt und in die Tradition der kritischen Philosophie seit Kant einreiht.
Geleitet von der Hoffnung, die Walter Benjamin die der Hoffnungslosen nannte, meinte ich, daß sich auf diese Weise dann schon irgendwie die Idee der Kritik im Sinne von Horkheimer und Adorno mit der Idee von Marx verbinden läßt, daß sich mit wissenschaftlichen Mitteln verbindliche Orientierungen für unser Denken und Handeln in einem weltgeschichtlichen Maßstab gewinnen lassen, die über die bloße Vorgeschichte der Menschheit hinausweisen. Auf diese Weise, so die Idee, sollte Hegels Diktum von der "Vernunft in der Geschichte"2 vom Kopf auf die Füße gestellt werden, so daß sich das Chaos der vielen Teilrationalitäten in einem vernüftigen Gesamtplan auffangen läßt, ohne daß dabei die Kritik und damit das, was bei Adorno die "bestimmte Negation" hieß, auf der Strecke bleibt. Auch oder gerade weil von diesem Projekt bei Adorno dann die Idee der Kritik immer weiter radikalisiert wurde, so daß auch die Rückbindung der Erkenntnis-, Moral- und Kulturkritik über die Ideologiekritik an die Kapitalismuskritik mehr beschworen als praktiziert wurde, schien mir die Kritische Theorie die einzige Philosophie zu sein, die ihren Namen wirklich verdiente. Sprach doch nur sie aus, was viele in meiner Generation seinerzeit dachten: daß das "Ganze das Unwahre" sei und daß es deshalb auch so lange kein "richtiges Leben im falschen" geben könne, bis nicht die Menschen ihr Geschick in die eigenen Hände nehmen, ihre Geschichte mit Bewußtsein machen und damit aus der Vorgeschichte in die eigentliche Menschengeschichte überwechseln. Nur wenn der Stoffwechselprozeß des Menschen mit der Natur der gemeinschaftlichen Kontrolle der frei assoziierten Produzenten unterworfen wird, sollte sich der gesellschaftliche Zwangszusammenhang brechen und die lebendige Arbeit vom Joch der toten befreien lassen.
Im Abstand von zwanzig Jahren erscheint mir dies alles sonderbar fremd. Zwar glaube ich nach wie vor, daß Philosophie ganz wesentlich etwas mit Kritik, Aufklärung und Orientierung zu tun hat. Und auch an der geforderten Verbindung von Philosophie und Wissenschaft scheint mir noch immer plausibel, daß die Philosophie bestimmte Standards der Wissenschaften nicht unterbieten sollte, wenngleich dies nicht heißt, daß die Philosophie deshalb eine Wissenschaft ist. Aber schon die Rückbindung der Erkenntnis-, Moral- und Kulturkritik über die Ideologiekritik an die Kapitalismuskritik, so wie sie von der älteren Kritischen Theorie gefordert wurde, erscheint mir heute nicht mehr vertretbar - ganz abgesehen von den weltanschaulichen Erlösungsphantasien, die mit dem ursprünglichen Projekt der Kritischen Theorie verbunden waren, insofern hier die Aufhebung der Entfremdung als ein letzter Akt der Versöhnung konzipiert wurde, durch den nicht nur alle Formen der Abständigkeit zwischen Mensch und Mensch, sondern zwischen Mensch und Natur aufgehoben werden sollten.
Hierfür gibt es zwei Gründe: zum einen, weil der Rousseauismus der Kritischen Theorie zur Erziehungsdiktatur tendiert, insofern jene, die sich bereits hier und heute das richtige Bewußtsein über die total verwaltete Welt zusprechen, glauben, den Rest der Menschheit zu diesem Bewußtsein bekehren zu müssen, damit dann auch die, die bisher noch nicht wissen, wohin die Reise geht, es nun wissen - was freilich nicht so wichtig ist, da der Zug auch ohne dieses Wissen dorthin fährt, wohin er fährt - einer der wohl unsympathischsten Züge dieser Weltverbesserungsphilosophie. Zum zweiten, weil der Rousseauismus der Kritischen Theorie zum Totalitarismus neigt, insofern er die Aufhebung der Entfremdung nicht nur im lebensweltlichen Alltag, sondern dann auch noch in der Politik anstrebt, und zwar im Zeichen der Identität von Herrschenden und Beherrschten, Souverän und Untertan in einer Demokratie ohne Gewaltenteilung, die schon Rousseaus Gesellschaftsvertrag entwirft.3
Ich denke, daß in dieser Zielorientierung, die sich ja salopp in der Formel ausdrückt "keine Macht für niemand", die eigentliche Hypothek der gesamten marxistischen Tradition besteht. Denn diese Formel, in der sich ja auch die Überzeugung ausdrückt, daß man im Staat überhaupt nur ein Instrument der Repression sehen könne, drückt eine Haltung aus, die zwischen politischer Großmäuligkeit und theoretischer Belanglosigkeit hin und her taumelt und die in Deutschland ganz wesentlich zur theoretischen Entpolitisierung der Intellektuellen beigetragen hat - im Westen sicherlich mehr als im Osten, wenngleich auch hier, also dort, die Opposition sich durch diese Form der Kritik selbst blind gemacht hat für die Fragen und Probleme, vor denen moderne Gesellschaften stehen - weshalb diese dann auch nach 1989 in der Versenkung verschwand. Denn wenn wirklich jede "partielle Verbesserung ... eine Befestigung des schlechten Ganzen" darstellt und wenn "das Ganze ... das Unwahre" ist4, dann gibt es eben das Wahre und Richtige nur ganz - oder gar nicht. Man muß dann auch nicht mehr in der Kritik konkret werden oder sich für bestimmte, aber eben immer begrenzte Politikprojekte einsetzen, da das schlechte Ganze ja per Voraussetzung in jedem Einzelnen steckt und weil in dieser immer aufs Ganze orientierten Perspektive jedes dieser Projekte als hemdsärmliger Pragmatismus der Systemstabilisierung erscheinen muß, an der man sich als anständiger Linker nicht beteiligt - und weil die Weltrevolution auch nicht vor der Türe steht, hat man auch noch gleich ein theoretisches Argument für politische Abstinenz.
Gegen die Radikalisierung der Kritik durch ihre Totalisierung spricht aber noch ein weiteres Argument: daß die Totalisierung der Ideologiekritik die Basis der Kritik selbst zerstört hat. Denn mit der Universalisierung der Ideologiekritik, mit der sich der Zweifel nun auch auf die Vernunft bezieht, deren Maßstäbe die Ideologiekritik einst in den bürgerlichen Idealen vorgefunden hatte und beim Wort nehmen wollte - die Ideologiekritik der Frankfurter wollte ja ursprünglich in den mißbrauchten Idealen ein sich selbst verborgenes Stück Vernunft entziffern -, wird es der Kritik unmöglich, ihre kritischen Maßstäbe in einer kritischen Form auszuweisen. Das Geschäft der Kritik, das sich nun nicht nur gegen die unvernünftige Funktion der bürgerlichen Ideale, sondern gegen das Vernunftpotential der bürgerlichen Kultur selbst richtet, führt so zu einer Selbstzerstörung der Kritik, so daß diese sich am Ende ihrer eigenen Voraussetzungen nicht mehr sicher sein kann - weshalb dann am Ende bei Adorno, nachdem sich das Vertrauen in die Waffe der Ideologiekritik erschöpft hat und die kritische Gesellschaftstheorie als Projekt aufgegeben wurde, auch die philosophische Kritik in Ästhetik überführt wird, was wiederum einige Autoren des philosophischen Postmodernismus dazu bewog, nun in der Ästhetik eine "erste Philosophie" zu sehen.5
Aber wie dem auch sei, fest steht, daß sich unter diesen Auspizien für den, der Kritik an der korrumpierten Vernunft fortsetzen und auf den Effekt einer letzten Enthüllung nicht verzichten will, ein Problem ergibt: Er muß einen Maßstab für die Erklärung der Korruption aller vernünftigen Maßstäbe zurückbehalten, da sich ansonsten das Geschäft der Kritik nicht fortsetzen läßt - woraus sich für die Kritik zwei Optionen ergeben: Entweder die Kritik sucht Zuflucht bei einer Theorie der Macht, die alle Vernunftansprüche als Machtansprüche denunziert. Dies ist der Weg, der von Nietzsche zu Foucault führt, ein Weg, der jedoch insofern keinen Ausweg aus dieser Situation bietet, als ja bereits die Unterscheidung von Macht, Geltung und Wahrheit auf einer Ebene getroffen wird, die nicht jenseits der Kritik liegen kann. Oder aber die Kritik hält an den Intuitionen einer totalen Kritik und der "bestimmten Negation" fest und sucht die sich daraus ergebenden Widersprüche gar nicht mehr zu schließen. Dies ist der Weg, der von Nietzsche zu Adorno führt, ein Weg, der aber ebenfalls keinen plausiblen Ausweg aus dieser Situation darstellt, weil er in eine hemmungslose Vernunftskepsis führt, die quer zu einem Kritikprojekt steht, welches sich auch Rechenschaft über seine kritischen Maßstäbe zu geben vermag.
Ich halte daher beide Alternativen für gleichermaßen verfehlt. Und zwar deshalb, weil die geschilderten Alternativen nur dann akzeptabel wären, wenn sich wirklich zeigen ließe, daß es unter den Bedingungen der Moderne für eine kritische Theorie gar keinen anderen Ausweg aus dieser Situation mehr geben würde - wobei ich hier zunächst einmal von den Problemen absehen möchte, die sich daraus ergeben, daß in beiden Fällen der Kritiker mit dem Problem der Selbstbezüglichkeit Bekanntschaft schließen muß. Nur wenn sich wirklich zeigen ließe, daß es für eine kritische These, die auch ihren Namen verdient, gar keinen anderen Weg mehr gibt als den der Radikalisierung der Kritik durch ihre Totalisierung, ließe sich die für Adornos Spätphilosophie charakteristische Parallelität von Negativer Dialektik mit ihrer Orientierung am paradoxen Begriff des Nicht-Identischen und Ästhetischer Theorie mit ihrer Orientierung an den avancierten Kunstwerken der Moderne rechtfertigen, denen sich das entnehmen lassen soll, was dem Abschneidenden und Zurüstenden des diskursiven Denkens auf immer verstellt ist.6
Selbst noch der Rückzug aus der als aporetisch erkannten Situation müßte also verlegt sein - was Adorno wohl auch behaupten würde -, da es ansonsten eben doch noch einen Weg gäbe, nämlich den Weg zurück. Der Weg zurück scheint immer noch offen - ein Weg, der uns zurück zu Kant und damit zur Grundidee der kritischen Philosophie oder des philosophischen Kritizismus führt, zu der Idee nämlich, daß die Vernunft, die das Medium der Kritik ist, zugleich als deren Maßstab zu gebrauchen sei - was wohl auch Jürgen Habermas so sah, der Anfang der achtziger Jahre mit der Theorie des kommunikativen Handelns eine Gesellschaftstheorie vorlegte, "die sich bemüht, ihre kritischen Maßstäbe" auf einer universalpragmatischen Grundlage auszuweisen, die gewissermaßen einen quasitranszendentalen Vorspann zu dieser Theorie darstellt.7
Damit will ich nicht behaupten, daß sich kritische Effekte nur im Rahmen von Unternehmungen im Sinne des philosophischen Kritizismus erzielen lassen. Dies wäre wohl absurd. Nietzsche und Foucault haben jeweils auf ihre Weise gezeigt, inwiefern sich mit genealogischen Strategien etablierte Überzeugungen erschüttern lassen. Sowohl die Genealogie der Moral als auch die Archäologie des Wissens führen zu einer Revision von Überzeugungen und damit zu einem neuen Selbstverständnis, für welches die Einsicht konstitutiv sein soll, daß sich die moderne Vernunft einer systematischen Exkommunikation des Abweichenden und Konfligierenden verdankt, das sie ausschließen muß, um dem eigenen Reinheitsanspruch genügen zu können, ohne den es mit der von ihr beanspruchten Universalität vorbei wäre.
Mit genealogischen Unternehmen läßt sich also durchaus zeigen, daß die Plausibilität von Überzeugungen, die innerhalb bestimmter Diskurse als fraglos gelten, auf Voraussetzungen aufruhen, die sich bei weitem nicht von selbst verstehen - auf Voraussetzungen, die als das Andere der Vernunft deren Ansprüche auf Wahrheit und Geltung einer revisionären Kontextualisierung unterziehen. Eines aber können sie eben nicht zeigen: wie sich die Position unter Geltung stellen läßt, die der Genealoge selbst bezieht. Man könnte hier eventuell einwenden, daß dies ja auch so lange gar nicht nötig sei, als mit genealogischen Unternehmungen lediglich ein Nachweis der Art verbunden ist, daß dieses oder jenes Überzeugungssystem sich von diesen oder jenen Faktoren als abhängig erweisen läßt, die eine Vernunft verleugnen muß, welche ihre universalistischen Ansprüche nur mit Rekurs auf apriorische und daher reine Instanzen glaubt einlösen zu können. Wenn also die kritischen Ansprüche, die mit genealogischen Unternehmen verbunden sind, nicht überzogen werden, dann wird man nicht bestreiten können, daß sich mit genealogischen Programmen auch kritische Enthüllungseffekte gegenüber Theorien erzielen lassen, die sich keine hinreichende Rechenschaft über ihre eigenen Voraussetzungen gegeben haben.8 Wenn jedoch der Genealoge Auskunft geben will über die Maßstäbe, die unserem Denken und Handeln insgesamt Orientierung zu geben vermögen, dann wird er sich nicht mehr auf eine Position zurückziehen können, mit der sich immer nur sagen läßt, wie es zu diesem oder jenem "Diskursapriori"9 kommen konnte. Denn der Ort, von dem aus er spricht, läßt sich zwar als ein Resultat der vielfältig verschlungenen Geschichte von Geist und Macht verstehen. Damit wären aber eben noch nicht die eigenen Rationalitätsvoraussetzungen in einer kritischen Weise thematisch.
Kurz, das, was wir als Vernunft bezeichnen, kann nicht nur auf der Objektseite der Untersuchung vorkommen - weshalb Philosophie, entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil, eben auch keine Geisteswissenschaft ist. Die Vernunft muß auf philosophische Weise zum Thema der Philosophie werden. Und dies wird sie nur auf dem "kritischen Weg" einer "Selbstvergewisserung" der Vernunft im Vorfeld aller theoretischen und praktischen Objektivierungen. Auf diese Weise kann man auch heute noch mit Kant der Reduktion der Vernunft auf einen Gegenstand empirischer und historischer Forschung entgegentreten, ohne die nachidealistischen Ergebnisse der "Dezentrierung der Vernunft" revidieren zu müssen. So gesehen hat dann auch heute noch Philosophie etwas mit Kritik zu tun. Diese Kritik unterscheidet sich aber von der totalisierenden Variante der Kritik, die die Kritische Theorie einst in den Ruin trieb, dadurch, daß sie erstens die Ansprüche ermäßigt und daß sie zweitens ihre Maßstäbe expliziert - was ich als eine Minimalforderung betrachte, der jede philosophische Kritik genügen muß.
Denn nur unter der Voraussetzung, daß der Kritiker seine Maßstäbe der Kritik auch ausweisen und begründen kann, ist seine Kritik mehr als eine bloße "Meinung" oder ein "einseitiger Machtanspruch". "Die Kritik, in welchem Teil der Kunst oder Wissenschaft sie ausgeführt werde, fordert einen Maßstab", sonst ist sie eben keine Kritik, sondern "Polemik und Parteisache".10 Dieser Maßstab wird sich unter den Bedingungen eines nachidealistischen Denkens sicherlich nicht mehr "von dem ewigen und unwandelbaren Urbild der Sache selbst"11 hernehmen lassen, weil sich nicht plausibel machen läßt, wie dies gedacht werden kann und um was für eine Sache es sich hierbei überhaupt handelt. Vernünftige Maßstäbe der Kritik sind menschliche Maßstäbe. Daß aber diese Maßstäbe objektiv und intersubjektiv verbindlich sein müssen, ist die Voraussetzung jeder normativen Kritik, der an einer Kritik an bestehenden Zuständen gelegen ist.
Eine solche Kritik, die es nicht mehr mit "dem Ganzen" als dem Unwahren zu tun hat, sondern mit einer in historischen und gesellschaftlichen Kontexten situierten Vernunft, kann kritische Motive von Marx, Nietzsche, Freud und Foucault aufnehmen, ohne jedoch eine privilegierte Perspektive gegenüber dem Objektbereich beanspruchen zu wollen - weshalb diese Kritik an das Selbstverständnis gesellschaftlicher Akteure anschließen muß. Eine Kritik jedoch, die kritisch an das Selbstverständnis von Akteuren anschließt, kann eigentlich nur als ideologiekritische Hermeneutik oder als hermeneutische Ideologiekritik profiliert werden.
Die versöhnungsutopische Perspektive, die Adorno für die Verteidigung der Vernunft zu benötigen glaubte, wäre hierfür entbehrlich, da nun der Mangel an Vernunft aus dem Inneren der Vernunft heraus unter Kritik gestellt werden kann. Dies bringt natürlich den "Nachteil" mit sich, daß sich nun über das "Ganze" im Sinne des Unwahren nicht mehr reden läßt. Dieser vermeintliche Nachteil hat aber den ungeheuren Vorteil, daß sich nun der Mangel mit Namen und Adresse benennen und - was noch wichtiger sein dürfte - beseitigen läßt. Und daran sollte wohl jeder Theorie gelegen sein, die kritisch zu sein beansprucht, also auch der Kritischen Theorie.
Es ist in diesem Zusammenhang umstritten, ob für solch eine kritische Begründung von Maßstäben und Kriterien eine Letztbegründung im Sinne von Apel erforderlich ist - ich selbst denke, daß wir hier eher so etwas wie eine hermeneutische und kritische Theorie der Rationalität ohne Letztbegründungsansprüche brauchen, die sich einerseits von der Kantischen Intuition leiten läßt, daß die kritisierende und die kritisierte Vernunft dieselbe sind, die aber eben andererseits auch nicht vergißt, daß jede Explikation von Rationalität immer auch ein Identitätsproblem unserer eigenen Rationalität ist, insofern wir uns "immer schon" das an Rationalität zutrauen müssen, was wir als Rationalität verstehen und explizieren - ein Gedanke, der ganz offensichtlich selbstbezüglich in dem Sinne ist, als er die Rationalität betrifft, die sie denkt. Rationalität ist ein offenes Konzept, wobei diese Offenheit auch der Grund ist, warum es keine Explikation von Vernunft und Rationalität für alle Kontexte geben kann, sondern nur für diejenigen, in denen wir unsere Ansprüche von Vernunft und Rationalität anmelden und die wir mit unseren Kriterien von Vernunft und Rationalität konfrontieren.12
Klar aber scheint mir, daß solch eine Explikation von Vernunft und Rationalität, die ja nichts anderes ist als das Normative und Maßstäbliche selbst - von daher hatte die logos-Metaphysik von Heraklit bis zu Hegel nicht ganz unrecht, wenn sie das Vernünftige für den Maßstab des Guten und Verbindlichen erklärte -, daß also diese Explikation von Vernunft und Rationalität unter nachidealistischen Bedingungen nur noch auf eine kritische Weise möglich ist.
Darin dürfte zugleich ein wichtiger Unterschied liegen, anhand dessen sich philosophische Unternehmungen von wissenschaftlichen Unternehmungen einerseits und von literarischen Unternehmungen andererseits unterscheiden lassen. Weder hier noch dort geht es in der vorgestellten Weise um Kritik, insofern hier, also in der Philosophie, die Idee der Kritik nicht von der Idee der Aufklärung, der Reflexion und der Orientierung zu trennen ist, während dort, also in den Wissenschaften oder in literarischen Kontexten, diese Weise der Kritik gar kein Rolle zu spielen scheint.
Dies wird dann auch die Philosophie von den Wissenschaften und der Literatur unterscheiden. Daher kann man die Philosophie auch als den "Versuch gedanklicher Orientierung im Bereich der Grundsätze unseres Denkens, Erkennens und Handelns" begreifen13 - eine Bestimmung, die mir liberal genug zu sein scheint, daß so gegensätzliche Philosophen wie Platon, Kant, Hegel, Nietzsche, Frege, Wittgenstein, Heidegger, Popper, Quine oder Derrida im Boot bleiben, ohne daß die Gefahr bestehen würde, daß nun auch Einstein und Planck oder Nabokov und Rilke mit in dieses Boot genommen werden müßten. Sie ist offen genug, um der methodischen Vielfalt in der Philosophie Rechnung zu tragen. Und gleichzeitig restriktiv genug, um nicht jede x-beliebige Form des interpretativen Weltumgangs als philosophisch ansehen zu müssen.14
Nun gibt es hier für die Philosophie ein Problem: Wenn wir uns orientieren, dann tun wir dies in der Regel an etwas, an einem Fixpunkt wie dem Sonnenstand oder dem magnetischen Nordpol. Die geographische Orientierung - auf die übrigens die wörtliche Bedeutung des Begriffs als "Wendung gen Osten" zurückgeht - setzt die Invarianz eines äußeren Bezugsrahmens voraus. Klarerweise kann im Bereich der gedanklichen Orientierung, im Bereich der Grundsätze unseres Denkens, Erkennens und Handelns von einer solchen Invarianz keine Rede sein. Ja, es scheint geradezu ein Charakteristikum dieses Bereiches zu sein, daß wir hier diese Orientierung allein mit den Mitteln zustande bringen müssen, über die wir als Schiffer verfügen, die - nach einem schönen Gleichnis von Otto Neurath - "ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können".15
Wenn diese Orientierung sich nicht auf transzendente Berufungsinstanzen gründen soll, dann verbleiben uns also nur die Bordmittel, mit denen wir unser Bedürfnis nach Orientierung befriedigen können - nur das vernünftige Denken scheint uns in die Lage zu versetzen, die uns orientierenden Maßstäbe "aus uns selbst"16 zu schöpfen. So verstanden, kann die Vernunft, an die wir uns in unserem kognitiven Orientierungsbedürfnis wenden, keine andere sein als das Medium, in dem sich dieses Orientierungsbedürfnis artikuliert.
Wie bereits bemerkt: Diese Orientierung, die wir immer dann brauchen, wenn wir die Übersicht verloren haben, können uns die modernen Wissenschaften nicht liefern. Sie sagen uns allenfalls etwas über unser "Woher", nichts aber über unser "Wohin" - weshalb Nietzsche meinte, daß uns die Wissenschaften zwar "vor dem Wunder" und den "Illusionen" retten würden, daß mit diesem Illusionsverlust aber auch ein Verlust an Orientierung verbunden sei, den Nietzsche mit dem Begriff des "Nihilismus" belegte.17 Über das "Wohin" gibt uns die Philosophie Auskunft - neben der Religion und der Kunst.18 Im Unterschied jedoch zur Religion und zur Kunst tut dies Philosophie auf der Ebene des Begriffs, weshalb es sich bei dieser Form der Orientierung auch um eine kognitive Orientierung handelt.
Dies bedeutet freilich nicht, daß die Philosophie nicht auch als wissenschaftliches Fach existieren kann. Philosophie ist nicht einfach nur eine Art des Schreibens, wie dies Richard Rorty im Anschluß an Jacques Derrida vor einigen Jahren einmal nahegelegt hat.19 Zwar finden sich am Ende von philosophischen Traktaten oft Literaturverzeichnisse. Dies bedeutet aber eben noch lange nicht, daß Philosophie, weil sie eine Art des Schreibens ist, nun Literatur sei. Und die Forderung, daß die Philosophen nach dem Ende der großen Erzählungen "Witze, Aphorismen und Satiren" schreiben sollten, ist zumindest bis heute eine Forderung geblieben - und als Witze-, Aphorismen- und Satirenschreiber sind die allermeisten Philosophen noch nicht einmal Mittelmaß. Wäre dies ernstlich die Aufgabe der Philosophie, dann müßten mehr als 99 Prozent der akademischen Lehrkräfte an den Universitäten entlassen werden.
Nein, die Philosophie muß als Fach existieren können, wenn sie weiter als Fach existieren soll. Und dies tut sie am besten, wenn sie sich als eine eigene Theoriebildung versteht, deren Basis eine Theorie der Rationalität ist, die dann auch noch die Wissenschaften an die Rationalitätsbedingungen des wissenschaftlichen Wissens erinnern kann, ohne gegenüber diesen die Rolle eines Richters spielen zu wollen - wobei eine solche Erinnerung an Rationalitätsbedingungen Aufklärung ist, Aufklärung, verstanden als anamnetische Kritik von Rationalitätsbedingungen, die eine ständige Aufgabe der Philosophie ist, weil der Aufklärungsbedarf, der die Philosophie herausfordert, immer wieder entsteht, und zwar nicht nur im Bereich der Wissenschaften, sondern auch und vor allem in unserer lebensweltlichen Praxis - und natürlich in der Philosophie selbst.

Anmerkungen
1 Vgl. M. Horkheimer: "Traditionelle und kritische Theorie", in: ders., Kritische Theorie. Eine Dokumentation, Bd. 2, hrsg. von A. Schmidt, Frankfurt a.M. 1968, S. 137-192.
2 G.W.F. Hegel: Die Vernunft in der Geschichte, hrsg. von J. Hoffmeister, Berlin 1966.
3 Vgl. H. Schnädelbach: "Das kulturelle Erbe der Kritischen Theorie", in: Berliner Debatte INITIAL. Zeitschrift für sozialwissenschaftlichen Diskurs 9 (1998) 6, S. 20f.
4 Th.W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a.M., S. XX.
5 Vgl. F. Beuth/U. Tietz: "Postmoderne Ästhetik als ,erste Philosophie‘?", in: Ästhetik und Kommunikation 21 (1992) 76, S. 41-46.
6 Vgl. U. Tietz: "Dialektischer Negativismus. Das Nichtidentische, das Urteil und die Synthesis", in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, (2001) 1, S. 113-145; ders., Ontologie und Dialektik. Heidegger und Adorno über das Sein, das Nichtidentische, die Synthesis und die Kopula, Wien 2003, S. 83ff.
7 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1985, S. 33.
8 Zu beachten ist hier jedoch, daß jede genealogische Kritik an eine Voraussetzung gebunden ist, an die Voraussetzung nämlich, daß effektiv behauptet wird, daß das, was ist, nicht ein Gewordenes sein kann - wobei der enthüllende Effekt der Kritik dann genau darin besteht, das Gewordene mit seinem Gewordensein zu konfrontieren, das durch die Behauptung verleugnet wurde. Ohne eine solche Behauptung gibt es keine genealogische Kritik. Wer nicht die These vertritt, daß diese oder jene Moral ewig ist, den auch wird der Verweis auf ihr Gewordensein nicht weiter erschüttern.
9 M. Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 19898, S. XX.
10 G. W. F. Hegel: "Über das Wesen der philosophischen Kritik überhaupt und ihr Verhältnis zum gegenwärtigen Zustand der Philosophie insbesondere", in: F.W.J. Schelling/G.W.F. Hegel: Kritisches Journal der Philosophie, hrsg. von St. Dietzsch, Leipzig 1981, S. 7 und 9.
11 Ebd., S. 7.
12 Vgl. U. Tietz: "Vernunft und Verstehen. Bemerkungen zum Verhältnis von formaler und materialer Rationalität", in: Sich im Denken orientieren. Festschrift für Herbert Schnädelbach, hrsg. von S. Dietz, H. Hastedt, G. Keil und A. Thyen, Frankfurt a.M. 1996, S. 84ff.
13 H. Schnädelbach: "Philosophie als Wissenschaft und als Aufklärung", in: ders., Zur Rehabilitierung des animal rationale. Vorträge und Abhandlungen 2, Frankfurt a.M. 1992, S. 381; vgl. auch G. Keil: "Ist die Philosophie eine Wissenschaft?", in: Sich im Denken orientieren, a.a.O., S. 32ff.
14 Ebd., S. 51.
15 O. Neurath: "Protokollsätze", in: Erkenntnis Bd. 3, hrsg. von R. Carnap und H. Reichenbach, Leipzig 1932/33, S. 204f.
16 J. Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1985, S. 16.
17 F. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1869-1874, KSA Bd. 7, hrsg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin und New York, 1988, S. 540
18 Vgl. G.W. . Hegel: Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, hrsg. von E. Moldenhauer und K.M. Michel, Frankfurt a.M. 1972, S. 495ff.
19 Vgl. R. Rorty: "Philosophy as a Kind of Writing. An Essay on Derrida", in: New Literary History 10 (1978) 1, pp. 141-160; vgl. dazu U. Tietz: "Von der Metaphysikkritik zur Literaturkritik - der gemäßigte Kontextualismus Richard Rortys", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 39 (1991) 7, S. 762-781.

PD Dr. Udo Tietz, Philosoph, Humboldt-Universität zu Berlin

aus: Berliner Debatte INITIAL 15 (2004) 3 S. 107-113