Grundlagen für eine andere Politik
Die Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit ist entgegen allen Unkenrufen von Unternehmen und Politikern so hoch, dass Wohlstand für alle möglich ist. Dies verhindern aber die gegenwärtigen ..
... Machtstrukturen und Verteilungsverhältnisse. Auch die Sozialdemokratie hat sich von einer Politik der sozialen Gerechtigkeit verabschiedet. Eine Veränderung ist möglich, wenn sich die Menschen, die in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben, zusammenschließen und als Gewerkschaften, soziale Bewegungen und (neue) politische Partei ihren Einfluss geltend machen, um eine andere Politik durchzusetzen.
1. Der technische Fortschritt steigert die Produktivität der Arbeit. Sie muss genutzt werden, um den Lebensstandard zu erhöhen.
Die Produktionstechnik und die Produktionsorganisation haben in den Industrieländern einen überaus hohen Stand erreicht. Der technische Fortschritt macht es möglich, dass ein Mensch in immer kürzerer Zeit dieselbe Produktmenge in immer besserer Qualität herstellt. Dies kann die Grundlage für einen steigenden Lebensstandard der Bevölkerung sein: für ein höheres Einkommen, mehr Freizeit und bessere soziale Absicherung - bei Krankheit, bei Arbeitslosigkeit, im Alter - und für eine steigende Versorgung mit öffentlichen Dienstleistungen. Steigende Produktivität ist die Grundlage für den Sozialstaat insgesamt. Sie ermöglicht der Sozialversicherung und dem Staat steigende Einnahmen, ohne dass deswegen andere Einkommen sinken müssten. Sie kann sicherstellen, dass der Staat seinen Aufgaben im Bereich des Sozialen, der Bildung, der Kultur auch in Zukunft verstärkt nachkommen kann. Die wachsende Produktivität ist auch die Grundlage für die Lösung der drängenden Umweltfragen, für Umweltinvestitionen ebenso wie für die Herstellung umweltgerechter Produkte: Sie stellt uns die notwendigen wirtschaftlichen Hilfsmittel in immer größerem Umfang bereit.
Die Grundlagen für einen hohen Lebensstandard und für die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen stehen bereit. Sie werden sich in der Zukunft vergrößern. Denn auch künftig wird wegen des technischen Fortschritts die Arbeitsproduktivität weiter steigen. Die Annahme ist berechtigt, dass sie sich in den kommenden 35 oder 40 Jahren erneut verdoppeln wird, so wie dies in der Vergangenheit der Fall war.
Aber trotz all dieser Möglichkeiten, die der technische Fortschritt eröffnet: Tatsächlich werden die meisten Menschen trotz der steigenden Produktivität ihrer Arbeit immer ärmer. Dies ist absurd. Ihre Anstrengungen bei der Arbeit, ihre Bemühungen um bessere Produktionstechnik und Organisation werden sinnlos: Was die Arbeit erleichtern kann, vergrößert den Stress; was die Arbeitszeit ergiebiger macht, vermehrt die Arbeitslosigkeit. Der technische Fortschritt erhöht die Massenarmut, obwohl er doch die Voraussetzung ist für die Befreiung von materieller Not, für zivilisatorischen Fortschritt. Dieser Widerspruch wird in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Es werden keine Strategien erörtert, wie die Möglichkeiten, die uns der technische Fortschritt mit seinen modernen Produktionsweisen eröffnet, zweckmäßig genutzt werden können. Statt dessen behaupten die Unternehmen und die Politiker, der Ausweg aus unserer schlechten Lage bestehe in einer weiteren Senkung des Lebensstandards, in der Verlängerung der Arbeitszeit bei gleichem Lohn, in niedrigeren Löhnen, in der weiteren Beseitigung des Sozialstaates, des Schutzes gegen die großen Risiken Erwerbslosigkeit, Krankheit, Armut im Alter. Mehr Wettbewerb, mehr Markt sollen die Wende herbeiführen.
2. Der Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt, unter den Gemeinden, unter den Ländern und Nationalstaaten stärkt die Macht der Wirtschaft, beseitigt den Sozialstaat und senkt den Massenkonsum.
Sinkende Löhne und Gehälter, verminderte Gewinnsteuern und Beiträge der Unternehmen zu den Sozialversicherungen steigern den Stückgewinn: Was wegen des technischen Fortschrittes je Stunde mehr produziert wird, vergrößert so das Einkommen der Unternehmen und ihrer Manager, der Aktienbesitzer und der Eigentümer von anderem Geldvermögen. Die Kehrseite hiervon ist zunehmende Armut der Arbeitenden, unzureichende Leistungen der Sozialversicherungen und anhaltende Kürzungen bei den staatlichen Investitionen und bei der Beschäftigung im öffentlichen Dienst. Die Regierungen von Kohl bis Schröder rechtfertigen dies mit dem internationalen Wettbewerb. Tatsächlich aber hat nicht der Druck der Auslandskonkurrenz die öffentlichen Kassen leer gemacht, sondern der Vorsatz der Politik, die Unternehmen noch besser zu stellen und die Wohlhabenden noch reicher zu machen. Die falsche Verteilungspolitik hat den Staat arm gemacht. So ist es zur Aufgabe der Armen selbst geworden, den bescheidenen Rest des Sozialstaates zu finanzieren. Doch einen armen Staat können sich nur Reiche leisten.
Die Förderung der Gewinne zu Lasten der Löhne und Steuereinnahmen schafft nicht nur zunehmend ungerechte Verteilungsverhältnisse. Sie setzt auch eine verhängnisvolle gesamtwirtschaftliche Dynamik in Gang: Sie drosselt die private Konsumnachfrage und die staatlichen Ausgaben, weil aus einem Gewinneuro weniger Cent ausgegeben werden als aus einem Euro Lohneinkommen, Staatseinnahmen oder Einnahmen der gesetzlichen Sozialversicherungen. Dieser Rückgang der Konsumnachfrage wird nicht ausgeglichen durch steigende private Investitionsausgaben. Denn steigende Gewinne sind für die Unternehmen kein Anlass zu investieren. Das mäßige Wachstum der Nachfrage steht einer Vergrößerung der Kapazitäten entgegen. Auch ein Ausgleich durch reine Modernisierungsinvestitionen kann nicht erwartet werden. Diese finden ihre Schranke in dem, was der technische Fortschritt erfordert. Die Folge ist, dass der Binnenmarkt austrocknet und die Binnennachfrage insgesamt schrumpft. Die Unternehmen kürzen ihre Investitionsausgaben, auch wenn sie angesichts der hohen Gewinne mehr Ausgaben finanzieren könnten.
Weil Produktion und Beschäftigung von der Nachfrage abhängen, und weil die Verteilung des Volkseinkommens die Nachfrage beschränkt, verliert das Wirtschaftswachstum weiter an Dynamik. Die öffentlichen Einnahmen steigen langsamer an. Die politische Reaktion ist, ein weiteres Mal an den notwendigen öffentlichen Ausgaben zu sparen und die Gewinneinkommen erneut zu begünstigen. Dieses Sparkonzept führt dazu, dass jeder Windung der Spirale, die das Wachstum hemmt, zwangsläufig eine neue folgt. Bislang haben die Mechanismen der sozialen Sicherung durch ihre Umverteilungswirkungen dabei mitgeholfen, die Krise einzudämmen. Aber indem die Politik auch diese Dämme einreißt, wird die wirtschaftliche Stagnation weiter verfestigt.
3. Niedrige Löhne und Gewinnsteuern finanzieren die nationale und internationale Konzentration, steigern die wirtschaftliche Macht und lähmen die Politik.
Aber die Begünstigung der Gewinne und der unbeschränkte Wettbewerb haben nicht nur diese Folgen. Im Wettbewerb setzt sich wirtschaftliche Macht durch: die Macht der Unternehmen gegenüber den Beschäftigten auf dem Arbeitsmarkt, der stärkeren Unternehmen gegenüber ihren schwächeren Konkurrenten, der Privatwirtschaft gegenüber der Politik - soweit die Politik nicht ohnehin im Unternehmensinteresse handelt.
Besonders für die Großwirtschaft ist diese Entwicklung so lange von Vorteil, wie - abgesehen von konjunkturellen Schwankungen - Inlands- und Auslandsumsätze zusammen genommen nicht absinken, wie also die Schwäche der Inlandsnachfrage durch mehr Export oder durch Staatsdefizite ausgeglichen werden kann. Gelingt dies, dann führen niedrige Löhne und geringe Gewinnsteuern zu einer steigenden Kapitalrentabilität. Wegen des ausgetrockneten Binnenmarktes setzt sich diese hohe Rentabilität aber nicht in hohe Inlandsinvestitionen um. Es verbleibt Gewinn, der in anderer Form rentabel angelegt wird: Als reine Finanzinvestitionen und als Übernahme von anderen Unternehmen im Inland und Ausland. Mit dieser Strategie begegnen die Unternehmen der allgemeinen Nachfrageschwäche. Sie kaufen nicht nur Unternehmen, sondern auch Absatzmärkte dazu. Der Aufbau neuer Betriebe dagegen unterbleibt zumeist, weil es an Nachfrage fehlt. Dies erklärt, warum die Übernahmen, also die wirtschaftliche Konzentration, weltweit in rasantem Tempo zunehmen. Mittlerweile haben mehr als vier Fünftel aller Direktinvestitionen nicht den Aufbau neuer Produktionsanlagen zum Zweck, sondern sind Übernahmen oder Mehrheitsbeteiligungen. Zum weitaus größten Teil fließen sie nicht in die Länder, in denen die Lohnkosten je produziertem Stück (die realen Lohnstückkosten) oder die Unternehmenssteuern am niedrigsten sind. Dies lässt sich am Beispiel der USA als einem der bevorzugten Gastländer für Direktinvestitionen nachweisen. Die USA zeichnen sich nicht durch niedrigere Kosten aus. Im Gegenteil: Die realen Lohnstückkosten und die effektiven Unternehmenssteuern sind in den USA höher als in Deutschland. Als Zielland für Direktinvestitionen sind sie nicht wegen ihrer niedrigen Kosten attraktiv, sondern weil das Wirtschaftswachstum höher ist. Dies hilft den Unternehmen, die Frage fehlender Absatzchancen zu lösen.
Finanziert werden diese Unternehmensstrategien durch den Verzicht auf Lohn und auf Gewinnsteuern. Geleitet werden sie durch Nachfrageschwäche, die ihre Ursache in diesen zu niedrigen Löhnen und zu geringen Staatseinnahmen hat. Das Wachstum der Gewinne senkt also die Binnennachfrage und finanziert die Konzentration und internationale Expansion. Eine weitere Absenkung der Kosten, unter dem Vorwand, dass der internationale Wettbewerb dies erzwinge, wird den Prozess nur verstärken. Eine Folge der Konzentration ist die Beseitigung des Preiswettbewerbs. Noch bedeutender aber ist die Zunahme der wirtschaftlichen Macht durch verstärkte wirtschaftliche Konzentration. Erneut ist zu betonen: Niedrige Löhne und Gewinnsteuern finanzieren die Konzentration. Sie finanzieren das Wachstum wirtschaftlicher Macht. Diese wird zu politischer Macht. Eine politische Gegenmacht im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung wird so zunehmend begrenzt und gelähmt.
Weiter gestärkt werden Konzentration und wirtschaftliche Macht - und damit ihre Übergriffe auf die Politik - durch die Privatisierung. Die angestrebte Liberalisierung, nicht mehr einzig im internationalen Handel mit Waren, sondern auch mit Dienstleistungen (GATS), begünstigt die Privatisierung und beschleunigt so die Konzentration weiter. In diese Richtung wirkt ebenfalls die europäische Wettbewerbspolitik: Indem sie den Sektor der öffentlichen Dienstleistungen für private Anbieter öffnet, wird sie nur kurzzeitig den Wettbewerb stärken. In der längeren Frist werden nur wenige Großanbieter übrig bleiben. Diese werden den Umfang der Leistungen nach dem Gesichtspunkt der Rentabilität - und nicht der Bedarfsdeckung - bestimmen und Preise festlegen, die den Aktionären hohe Gewinne ermöglichen.
Für die betroffenen Belegschaften hart, aber im Umfang viel weniger bedeutend sind dagegen Produktionsverlagerungen in die neuen EU-Betrittsländer. Hier verbindet sich das Motiv, zu niedrigeren Kosten zu produzieren, mit dem Motiv der Marktnähe. Festzuhalten aber bleibt: Der Verlust an Beschäftigung, der hierdurch eintreten kann, ist wesentlich geringer als diejenige Arbeitslosigkeit, die durch eine unzureichende Binnennachfrage verursacht wird. Der Kostenvorteil, den die Unternehmen gegebenenfalls in den Beitrittsländern haben, kann verschwinden, wenn die Gewinnsteuern und die Löhne auf hohem Niveau angeglichen werden. Die Chancen hierfür stehen um so besser, je eher sich die Politik vom Druck der Wirtschaft befreit, je rascher die Beschäftigung durch vermehrte Binnennachfrage steigt und je durchsetzungsfähiger hierdurch die Gewerkschaften in allen EU-Ländern werden. Die Gegner sind nicht die neuen Beitrittsländer, der Widersacher ist die Macht der Unternehmen, die höhere Sozialabgaben und Steuern aus Gewinn und höhere Löhne verhindert und damit eine Belebung der Binnennachfrage und eine Zunahme der Beschäftigung.
4. Die Demokratie muss die wirtschaftliche Macht beschränken.
Wenn die Politik das Interesse der großen Mehrheit durchsetzen will, braucht sie Gestaltungsmöglichkeiten. Sie muss sich gegen die wirtschaftliche Macht behaupten. Dies ist ein wesentliches Anliegen aller sozialdemokratischen Programme - aber nicht nur dieser - gewesen. Kennzeichen der gegenwärtigen sozialdemokratisch geführten Regierung ist nicht mehr, emanzipatorische Politik gegen Wirtschaftmacht zu behaupten. Wie dringend die Eindämmung wirtschaftlicher Macht ist, haben nicht zuletzt die historische Erfahrungen der Weimarer Republik gezeigt. Diese haben die Parteien in der unmittelbaren Nachkriegszeit veranlasst, wachsam zu sein gegenüber den Gefahren, die von wirtschaftlicher Macht ausgehen. Dies belegen das Ahlener Programm der nordrhein-westfälischen CDU ebenso wie das entschieden sozialistische Programm der SPD. Aber auch seit Verabschiedung des Godesberger Programms, das die große ideologische Wende der SPD markiert, betont die SPD die Gefahr, die für den demokratischen Staat von konzentrierter wirtschaftlicher Macht ausgeht. Im Godesberger Programm heißt es: "Die führenden Männer der Großwirtschaft gewinnen einen Einfluss auf Staat und Politik, der mit demokratischen Grundsätzen nicht vereinbar ist. Diese Entwicklung ist eine Herausforderung an alle, für die Freiheit und Menschenwürde, Gerechtigkeit und soziale Sicherheit die Grundlagen der menschlichen Gesellschaft sind. Die Bändigung der Macht der Großwirtschaft ist daher die zentrale Aufgabe einer freiheitlichen Wirtschaftspolitik, Staat und Gesellschaft dürfen nicht zur Beute mächtiger Interessengruppen werden." Und das jetzt gültige Berliner/Leipziger Programm betont: "Nicht wirtschaftliche Macht oder marktbeherrschende Unternehmen dürfen der Politik den Handlungsrahmen vorgeben, sondern demokratisch legitimierte Entscheidungen müssen im Interesse des Gemeinwohls Rahmen und Ziele für wirtschaftliches Handeln sein."
5. Die Parteien versagen bei der Lösung unserer brennenden Gegenwartsfragen.
Mit der Forderung der Regierung nach mehr "Eigenverantwortung" lässt sich nicht zu einer Besserung der Lage, zu einer Nutzung der Möglichkeiten kommen, die uns der technische Fortschritt und mit ihm die steigende Arbeitsproduktivität eröffnen. Denn die Reichweite von individuellen Handlungen ist begrenzt. Der Einzelne kann die gesamtwirtschaftliche Nachfrage nicht erhöhen. Nur die kollektive Aktion, die Politik, kann dies erreichen. Unvoreingenommen betrachtet ist eine Mehrheit hierfür vorhanden. Aber sie hat sich noch nicht formiert. Sie muss sich erst zusammenfinden. Sie kann sich zusammenfinden, weil die Mehrheit der Menschen vom Verkauf ihrer Arbeitskraft lebt, weil unter diesem Gesichtspunkt ihre Lebensverhältnisse gleich sind. Daran ändern kleinere Vermögenseinkünfte nichts. Auch wenn die Rechtsform der Arbeitsverhältnisse sehr unterschiedlich ist, das Normalarbeitsverhältnis häufig von prekären Arbeitsverhältnissen verdrängt oder von Scheinselbständigkeit ersetzt wird, der von Tarifvertrag und Arbeitsrecht Abgesicherte zum Tagelöhner wird, und auch wenn die Spannbreite im Einkommen vom wenig Qualifizierten bis zum gut bezahlten Spezialisten groß ist, alle haben dasselbe Interesse daran, ihre Arbeitskraft jederzeit verkaufen zu können und sozial abgesichert zu sein. Dies trifft auch dann zu, wenn sich ihr Alltag und ihre Lebenspraxis deutlich voneinander unterscheiden und wenn sie von ihrer Lage sehr unterschiedliche Vorstellungen entwickeln. Entscheidend ist, dass sich die Einzelnen über die Interessen, die sie gemeinsam haben, klar werden. Auf dieser Grundlage ist kollektives Handeln möglich.
Seine Richtung bekommt dieses Handeln dann, wenn sich alle über die unmittelbaren Ursachen der zunehmenden Verschlechterung des Lebensstandards verständigen, über die Ursachen also, die offen zu Tage liegen, die uns tagtäglich vor Augen geführt werden. Dann wird sich die Mehrheit darüber verständigen können, dass eine Politik der Nachfragesteigerung die Wende einleiten wird. Die Organisationen, die diese andere Politik verfolgen, können sowohl eine soziale Bewegung sein wie auch eine politische Partei. Beide aber sind aufeinander angewiesen. Die politische Partei braucht die Kampagne und so auch die soziale Bewegung; die soziale Bewegung wiederum ist dann erfolgreich, wenn ihr Druck das Parlament zu einem Gesetz veranlasst und wenn die Regierung dieses Gesetz durchsetzt. Beides bildet in seinen unterschiedlichen Formen der Aktion eine Einheit. Das Eine wie das Andere erfordert eine lebendige Demokratie. Sie ist die Staatsform, in der das gemeinsame Interesse der Mehrheit an höheren Löhnen, mehr Beschäftigung, sozialer Absicherung und intakter Umwelt verwirklicht werden kann. Diese Demokratie, mehr Demokratie, ist zu erstreiten.
6. Markt und Wettbewerb schaffen soziale Ungerechtigkeit und keinen sozialen Schutz: Die Menschen müssen die Verhältnisse ihren Bedürfnissen anpassen.
Der Markt kann weder "Vollbeschäftigung herstellen noch Verteilungsgerechtigkeit bewirken" - und ebenso wenig soziale Absicherung. Vielmehr sorgt "eine gerechte Einkommensverteilung für sozialen Ausgleich und schafft zusätzliche Nachfrage und damit Arbeitsplätze." Und nur eine gerechte Einkommensverteilung, eine höhere Belastung der Leistungsfähigen, kann unseren Sozialstaat finanzieren. Für die SPD sind die Forderungen ihres Programms nach mehr Gerechtigkeit offensichtlich nicht mehr gültig. Dies belegt die Politik der Regierung. Wenn aber der Markt - das zeigt die Erfahrung der letzten zwei Jahrzehnte sehr deutlich - versagt, dann muss eine neue Politik die Verhältnisse besser organisieren. Nur sie kann aus dem technischen Fortschritt, aus der wachsenden Produktivität der Arbeit mehr Lebensstandard machen.
Das Ziel dieser notwendigen, dieser neuen Politik ist nicht, dass der Staat das tut, was die Privaten ebenso gut können, sondern dass der Staat die Fragen bewältigt, zu deren Lösung die Einzelnen, die Privatwirtschaft, der Markt nicht fähig sind. Um eine solche Politik zu finanzieren, muss der Staat die Gewinnsteuern erhöhen und die Unternehmen vermehrt zur Finanzierung der sozialen Sicherung heranziehen. Dies hat drei Effekte: Erstens können die gesetzlichen Sozialversicherungen ihren Aufgaben nachkommen. Zweitens werden die öffentlichen Leistungen verbessert. Drittens steigt die Beschäftigung. Mehr öffentliche Leistungen bedeuten nicht nur eine Verbesserung der Infrastruktur. Auch neue Leistungen im Bereich der Kultur, der Bildung, des Sozialen müssen dazu kommen. Denn je produktiver die Arbeit in der Wirtschaft wird, um so mehr kann von ihrem Produktionsergebnis abgezweigt werden, um Beschäftigte in den unterschiedlichsten öffentlichen Diensten zu den üblichen Tarifen zu entlohnen. Zu diesem Zweck muss die Verteilung politisch geregelt werden: Die vermehrte Wertschaffung je Arbeitenden, die der technische Fortschritt ermöglicht, darf nicht einfach zu Gewinn der Unternehmen und zu Dividenden werden: Diese Einkommen, und nicht die Löhne, müssen ihren Beitrag zur Finanzierung des Staates leisten. So kann mehr öffentlicher Dienst finanziert werden. Dieser wiederum versorgt alle gratis mit all den Leistungen, die das Leben sicherer und angenehmer machen, von unnötigen Risiken befreien.
Vollbeschäftigung also setzt keineswegs auf immer mehr materielle Produktion. Die wachsende Produktivität der Arbeit ermöglicht es auch, die im Produzierenden Gewerbe nicht mehr benötigten Personen in den öffentlichen Dienst einzugliedern. Durch diese Maßnahmen wird nicht nur die Beschäftigung im Staatssektor steigen und damit die gesamtwirtschaftliche Lohnsumme: Diese Verteilungspolitik steigert auch die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Denn diese Verteilungspolitik verhindert, dass das, was die Arbeit wegen des technischen Fortschrittes mehr produziert, zu mehr Gewinneinkommen wird. Und weil aus einem Gewinneuro weniger ausgegeben wird als aus einem Einkommenseuro des Staates, der Sozialversicherung oder aus einem Lohneuro, erhöht diese Verteilungspolitik die Nachfrage. Sie finanziert mehr Aufträge, nicht nur für die große Industrie, sondern auch für die kleineren Unternehmen. Sie macht es möglich, dass die Beschäftigung zu herrschenden Tariflöhnen steigt.
Der Umfang der öffentlichen Haushalte muss also steigen. Nur so kann die Politik da tätig werden, wo der Markt versagt, und nur so können die Übergriffe der wirtschaftlichen Macht auf die Verfassungsorgane erfolgreich abgewehrt werden. Ein vergrößerter öffentlicher Sektor schließt Privatisierung aus.
Die Macht einer anderen Parlamentsmehrheit und einer anderen Regierung aber reicht allein nicht aus, um die Verteilung angemessen zu regulieren, den Sozialstaat wieder aufzubauen und die Arbeitsgesetzgebung zu verbessern. Die Gesellschaft braucht starke und durchsetzungsfähige Gewerkschaften und eine Vielfalt an sozialen Bewegungen. Überall dort und in den politischen Parteien muss sich das Interesse der Vielen artikulieren, die den Willen haben, aus ihrer Arbeit das Beste für alle zu machen. Ein steigender Lebensstandard ist möglich. Die Produktivität der Arbeit kann genutzt werden für einen höheren Lohn, für sinkende Arbeitszeit, für bessere soziale Absicherung und umfassendere öffentliche Dienste. Der ungezügelte Wettbewerb und der totale Markt sind nicht in der Lage, aus der Arbeit der Menschen Wohlfahrt für die Menschen zu machen. Dies müssen die Menschen selbst in die Hand nehmen. Einzeln und auf sich gestellt können sie dieses Ziel nicht erreichen. Sie müssen sich zusammenschließen zur gemeinsamen politischen Aktion. Sie müssen eine wahrhaft demokratische Gesellschaft, einen wirklich demokratischen Staat, unseren Staat, erstreiten. Gemeinsam schafft diese Gesellschaft die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten, die die Freiheit des Einzelnen gewährleisten.
Herbert Schui ist Professor an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik (HWP) und einer der Initiatoren der "Initiative Arbeit & Soziale Gerechtigkeit".
aus: Sozialismus 7-8 / 2004