Der nordirische Friedensprozess vor dem Hintergrund der Theorie der sozialen

in (23.02.2004)

Der Nordirlandkonflikt ist in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten gewaltsam ausgetragen worden und hat über 3 500 Menschen das Leben gekostet. In den 90ger Jahren hat ein Annäherungsprozess begonnen

Einleitung
Beim Nordirlandkonflikt geht es um eine langwierige Auseinandersetzung zwischen so genannten Unionisten und Nationalisten. Unionisten sind in ihrer überwiegenden Mehrheit Protestanten und wollen Nordirland weiterhin als Teil Großbritanniens sehen, während Nationalisten zumeist katholischen Glaubens sind und eine Vereinigung mit der Republik Irland befürworten. Dieser Konflikt ist in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten mitunter gewaltsam ausgetragen worden und hat über 3 500 Menschen das Leben gekostet. Mitte der neunziger Jahre hat ein Annäherungsprozess der Konfliktparteien eingesetzt, der die Aussicht auf eine Befriedung der Gesellschaft deutlich verbessert hat. Im Mittelpunkt steht dabei das Karfreitagsabkommen von 1998, das per Volksentscheid in Nord und Süd bestätigt wurde. Es basiert auf den drei Prinzipien Partnerschaft, Gleichheit und gegenseitigem Respekt (Stewart 1999, Bew 2001).

Inhalt und Implementierung des Friedensabkommens

Inhalt des Abkommens

  1. Politische Selbstverwaltung im Regionalparlament von Stormont (Belfast); Bildung einer All-Parteien-Regierung.
  2. British-Irish Intergovernmental Conference: Bilaterales Gremium der Regierungen Großbritanniens und der Republik Irland.
  3. Nord-Süd-Kommissionen.
  4. Gemeinsame Kommissionen:
    - Polizeireformen;
    - Entwaffnung paramilitärischer Organisationen;
    - Amnestie politisch motivierter Straftäter.
    Bestätigung des konstitutionellen Status Nordirlands.

Stand der Implementierung

  1. Aufgrund einer Vertrauenskrise 1 der Regierungsparteien z. Z. suspendiert und ersetzt durch Direct Rule durch Westminster.
  2. Gewährleistet Kooperation beider Staaten in nordirischen Fragen; erhält besondere Bedeutung, solange die Suspension der Selbstverwaltung anhält.
  3. Regeln grenzübergreifende Fragen zwischen Nord- und Südirland.
  4. - Neuer Polizeidienst (PSNI);
    - Zwei Abrüstungsschritte der Irisch Republikanischen Armee (IRA);
    - Geringe Rückfallquote.
    Veränderung der Verfassung der Republik Irland.

Es ist zu betonen, dass die politische Selbstverwaltung suspendiert worden ist und nicht das Karfreitagsabkommen selbst. Wichtige Gremien wie die Nord-Süd-Kommissionen oder das policing board tagen weiterhin. Insbesondere auf der Ebene der britisch-irischen Institutionen werden gegenwärtig diplomatische Versuche unternommen, die Vertrauenskrise zwischen Unionisten und Nationalisten zu überwinden, um möglichst bald zur Selbstverwaltung zurückkehren zu können.

Unabhängig aber davon, ob dies in naher Zukunft gelingt oder nicht, bleibt das Karfreitagsabkommen die Grundlage der politischen Entwicklung Nordirlands. Und es wird auch in absehbarer Zukunft keine so genannten "Nachverhandlungen" geben - dies haben Tony Blair und der irische Ministerpräsident Bertie Ahern in den letzten Wochen immer wieder betont.

In die Debatte, inwieweit mit diesem Abkommen eine langfristige Lösung des Nordirlandkonflikts verbunden ist, möchte ich mit diesem Aufsatz nicht eingreifen. Vielmehr hoffe ich, zu einem sozialwissenschaftlichen Verständnis dieses Konflikts beizutragen, welches bis jetzt hinter dem rasanten Tempo der politischen Veränderungen zurückgeblieben ist. Dabei kann ich einerseits an diejenigen früheren Interpretationen des Konflikts anknüpfen, die wie John Fulton (1991) den Aspekt von Macht und Herrschaft betonen, und andererseits an solche, welche wie Kathleen P. Lundy (2001) die Problematik der sozialen Ungleichheit in den Mittelpunkt stellen. Gerne würde ich meinen Beitrag als einen Versuch verstanden wissen, beide Aspekte - Herrschaft und Ungleichheit - zusammenzubringen in einem schließungstheoretischen Konzept der Entwicklung von Staatsbürgerrechten. In den siebziger und achtziger Jahren warf die mit den Namen Frank Parkin und Raymond Murphy verbundene Theorie der sozialen Schließung neues Licht auf Problemstellungen insbesondere im Bereich der Sozialstruktur. Speziell die Frage der Berücksichtigung ethnischer und geschlechtsspezifischer Merkmale und der damit verbundenen Zuschreibungen und Benachteiligungen in Klassen- und Schichtungsmodellen wurde so belebt.

In den neunziger Jahren ging die Debatte andere Wege, und das Schließungskonzept geriet ins akademische Abseits. Weder wurde Parkins und Murphys Theorie weiterentwickelt, noch wurde sie in empirischer oder sozialgeschichtlicher Forschung angewandt. Mit diesem Aufsatz soll die Diskussion neu angestoßen werden. Einerseits wird gezeigt, dass die Theorie der sozialen Schließung wertvolle Erkenntnisse für das Verständnis des Prozesses der Verbreiterung von Staatsbürgerrechten bereitstellt und andererseits wird der Weg zum nordirischen Friedensabkommen von dieser Warte aus interpretiert.

Konflikte als Prozesse sozialer Schließung
Max Webers Unterscheidung zwischen offenen und geschlossenen sozialen Beziehungen gilt als der Ausgangspunkt der Theorie der sozialen Schließung. Während er eine Beziehung als geschlossen definiert, wenn und insoweit ihr "Sinngehalt und ihre geltenden Ordnungen die Teilnahme ausschließen oder beschränken oder an Bedingungen knüpfen", zeichnet sich eine offene soziale Beziehung dadurch aus, dass niemandem, der dies wünscht und dazu in der Lage ist, die Teilnahme verwehrt wird (Weber 1985, S. 23). Schließung ist von dieser Warte als ein Prozess zu verstehen, durch den gesellschaftliche Gruppen Vorteile zu maximieren suchen, indem sie den Zugang zu Privilegien und Erfolgschancen auf einen begrenzten Kreis von Auserwählten einschränken. Dazu kann praktisch jedes Gruppenmerkmal, sei es "Rasse, Sprache, Konfession, örtliche oder soziale Herkunft, Abstammung, Wohnsitz usw." zum Anlass genommen werden (ebd., S. 201).

Obwohl dies eine allgemeine Definition von Ausgrenzungsprozessen nahe legt, hat Weber sie in erster Linie in seiner Analyse der Wirtschaftsbeziehungen verwandt. Fast beiläufig bemerkt er dort auch, dass "das so entstandene Gemeinschaftshandeln Â… ein entsprechendes der anderen, gegen die es sich wendet, hervorrufen (kann)" (ebd.). Insgesamt ist aber der Tatbestand der Gegenhandlungen von Seiten ausgegrenzter Gruppen in Webers Diskussion offener und geschlossener Beziehungen rudimentär geblieben, und es ist das Verdienst Frank Parkins (1972, 1979) und Raymond Murphys (1988), daraus ein allgemeines Konzept zur Analyse von Herrschaftsverhältnissen entwickelt und dabei jene "Gegenaktionen", von denen Weber mit Bezug auf die Ökonomie sprach, gebührend berücksichtigt zu haben.

Parkin und Murphy stellen die Vorstellung einer simplen Durchsetzung von Handlungsstrategien ausschließender Gruppen infrage. Schließung wird eher als sozialer Prozess begriffen, welcher durch den Rekurs auf zwei unterschiedliche, aber reziproke Handlungsarten verständlich wird: Ausschließung und Usurpation. Unter Ausschließung werden alle Strategien zusammengefasst, die der Monopolisierung gesellschaftlicher Chancen, Privilegien und Ressourcen dienen, während Usurpation dem entgegenwirkt und darauf abhebt, den Ressourcenanteil ausschließender Gruppen zu verringern und ihre Vorrechte infrage zu stellen (Murphy 1988, S. 10). Hierzu sind beherrschte Gruppen gewöhnlich auf Formen des solidarischen Zusammenschlusses angewiesen, welche selbst wiederum eher revolutionären oder reformerischen Charakters sein können: Inclusionary usurpation zielt demnach auf die Verbesserung des Status einer Gruppe innerhalb einer gegebenen sozialen Ordnung, während revolutionary usurpation diese Ordnung selbst in Frage stellt. Im letzteren Fall handelt es sich um einen "direct attempt to change the structure of positions in society and in some cases to change the structure of nation states." (Murphy 1988, S. 77) Dem wäre hinzuzufügen, dass nicht nur Konflikte zwischen Konfliktparteien die Form von Schließungsbeziehungen annehmen können, sondern dass Ausgrenzungs- und Usurpationskämpfe mitunter die Auseinandersetzungen innerhalb dieser Parteien selbst prägen.

Vom Standpunkt des Schließungskonzepts ist die Vorstellung einer simplen und problemlosen Reproduktion der Interessen herrschender Gruppen zurückzuweisen, solange den Gegenstrategien ausgeschlossener Gruppen keine systematische Berücksichtigung zuteil wird. Ausschließung und Usurpation werden im Gegenteil als reziproke Strategien angesehen, deren Zusammenwirken Konflikte als soziale und politische Prozesse mit prinzipiell offenem Ausgang erscheinen lassen. Denkbare Konfliktregulationen, in denen die Dialektik von Ausschließung und Usurpation eine zumindest temporäre Bewegungsform erhalten, schließen zunächst Fälle ein, in denen die ausschließende Gruppe ihre Interessen ohne weitere Zugeständnisse an die Ausgeschlossenen und mitunter repressiv, etwa durch den Einsatz staatlicher Gewalt durchsetzt. Die Herrschaftsverhältnisse bleiben dann unverändert wie etwa in China nach der Studentenrevolte von 1989; sie umfassen zweitens historische Beispiele, in denen den Usurpatoren eine Revolution gelang und das Ancien Regime abgelöst wurde wie bei den Erstürmungen der Bastille 1789 in Frankreich und des Winterpalais 1917 in Russland.

Schließlich kann es im Spannungsfeld von Exklusion und Usurpation zu einer dritten Möglichkeit der Konfliktregulation kommen, welche Parkin und Murphy meines Erachtens nicht gebührend berücksichtigt haben: die eines im gegenseitigen Interesse befindlichen institutionellen Arrangements. Die unter Einsatz kollektiver Strategien erzielten Gewinne sind nicht immer und unter allen Umständen mit gleichzeitigen Verlusten der Gegenseite verbunden, sondern können auch in eine win-win-Konstellation zum Nutzen beider Seiten umschlagen. In diesem Fall dient als Konfliktregulation häufig ein Kompromiss, in dem die Interessen beider Gruppen bis zu einem gewissen Grad zum Ausdruck kommen. Ein solcher Kompromiss kommt in der Regel durch eine Vermittlung dritter Akteure und/oder durch eine Verlagerung der Handlungsebene zu Stande, so dass die Interessenkonstellationen des alten Konflikts sich verändern und möglicherweise neue Akteure bzw. Interessengruppen hinzutreten. Umgekehrt können bereits getroffene agreements zwischen Interessengruppen durch das Eintreten neuer Akteure bzw. Handlungsebenen in Ungleichgewicht geraten und schließlich aufgekündigt werden. Als Beispiel für diese dritte Variante lässt sich die Entwicklung des britischen Sozialstaats nach dem Zweiten Weltkrieg anführen. Zunächst wurde ein "Klassenkompromiss" (Peter von Oertzen) zwischen Arbeitgeberorganisationen, Gewerkschaften und Regierung eingegangen und ein universeller Wohlfahrtsstaat errichtet, welcher dann in den achtziger Jahren von Regierungs- und Arbeitgeberseite weitgehend aufgekündigt wurde.

Exklusions- und Usurpationsstrategien werden nicht willkürlich eingeschlagen. Parkin (1979, S. 95 f.) betont vielmehr - in diesem Fall gegen Weber -, dass besonders kruden Arten von Ausgrenzung in der Regel rechtliche Definitionen der Unterordnung durch den Staat vorhergehen. So habe in den meisten Fällen, in denen ethnische, religiöse, sprachliche oder geschlechtsspezifische Merkmale dem Zweck sozialer Schließung dienstbar gemacht wurden, der jeweilige Staat bereits zuvor anhand eben dieser Merkmale einen rechtlich minderwertigen Status definiert und somit die fragliche Gruppe stigmatisiert. Ethnische Unterwerfung, eine der geläufigsten Fälle sozialer Ausgrenzung, vollzieht sich demnach als Folge territorialer Eroberungen oder erzwungener Migration von Bevölkerungsgruppen und schafft auf diese Weise die Subkategorie des Bürgers zweiter Klasse. Anhand des Beispiels von Ausgrenzungen innerhalb der Arbeitnehmerschaft zeigt Parkin, dass es sich dabei zumeist um bereits durch den Staat stigmatisierte Gruppen handelt - um diejenigen "that already suffer the disabilities of marginal political status, and whose own organizing and defensive capacities are seriously diminished." (ebd., S. 96)

Hebt Parkin zu Recht die entscheidende Rolle hervor, die der Staat bei der Auswahl von Objekten von Ausgrenzungsmanövern spielt, so unterlässt er es, Fälle zu diskutieren, in denen der Staat bzw. seine Repräsentanten aufhören, Zielgruppen für soziale Ausgrenzungen zu definieren oder in denen sie diese Definition ändern. In Abwesenheit eines staatlich bereiteten institutionellen Kontexts der Exklusion ist nun anzunehmen, dass sich der Einfluss usurpierender Gruppen innerhalb der "Schließungsgleichung" (Mackert 1998, S. 564) erhöht und dass für herrschende Gruppen eine auf offener Ausgrenzung beruhende Strategie der Ressourcenreproduktion weniger leicht durchsetzbar ist. Ein sozialer Druck zur Modifikation ihrer Herrschaftsstrategien entsteht.

Einerseits kann sich dieser Druck in einem Wandel des modus vivendi der Herrschaftsreproduktion niederschlagen, bei dem die - zunehmend ineffiziente - offene Exklusion sukzessive ersetzt wird durch feinere und indirekte Formen der Ausgrenzung. Andererseits verbessern sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für das Zustandekommen eines Arrangements zwischen herrschenden und usurpierenden Gruppen im Sinne des dritten oben beschriebenen Konfliktszenarios.

Diese Hypothese soll anhand der empirisch-historischen Entwicklung Nordirlands einer ersten Prüfung unterzogen werden. Zunächst aber soll der vielversprechenden These Jürgen Mackerts (ebd., S. 565 ff.) nachgegangen werden, der zufolge es bei staatlich regulierten Schließungsprozessen im Kern um den umkämpften Zugang zu Staatsbürgerrechten geht. Durch die schließungstheoretische Perspektive gewinnen Theorien der Entwicklung universeller Staatsbürgerrechte an Erklärungskraft.

Die Entwicklung universeller Staatsbürgerrechte als Dialektik von Exklusions- und Usurpationsstrategien
Thomas H. Marshall (1992, S. 40 ff.) gliedert in seinem klassischen Essay über Bürgerrechte und soziale Klassen die Staatsbürgerrechte in "das bürgerliche, politische und soziale Element". Das bürgerliche Element von citizenship hebt auf die individuellen Grundrechte wie die Unantastbarkeit der Person, die Redefreiheit und das Recht auf ein Gerichtsverfahren ab. Das politische Element bezieht sich vor allem auf das Partizipationsrecht am politischen Prozess. Die Ausübung dieses Rechts erfolgt in der Regel in entsprechenden Institutionen wie Parlamenten und lokalen Administrationen. Schließlich sah Marshall, dass bürgerliche und politische Staatsbürgerrechte unvollständig bleiben ohne ein soziales Element, das Recht auf ökonomische und soziale Wohlfahrt. Die Ausübung sozialer Staatsbürgerrechte und damit die Verbreitung von citizenship überhaupt ist nun gebunden an die Verpflichtung der Marktwirtschaft auf soziale Gerechtigkeit, welche, so Marshall, durch ein entsprechendes Set von Institutionen sichergestellt werden kann.

Marshall ging davon aus, dass soziale Errungenschaften wie ein umfassender Wohlfahrtsstaat in mitunter harten sozialen Auseinandersetzungen erkämpft wurden. In der Nachkriegszeit, als die Durchsetzung sozialer Bürgerrechte und hier insbesondere der Aufbau des Sozialstaats auf der Tagesordnung stand, erblickte Marshall in der Arbeiterklasse den entscheidenden kollektiven Akteur. Die strukturellen Spannungen zwischen der kapitalistischen Wirtschaftsform und der Gewährung universeller Wohlfahrt (Turner 1986) hat Marshall (1981) zwar gesehen, doch war er zu sehr vom Geist des wohlfahrtsstaatlichen Klassenkompromisses der Nachkriegszeit geprägt, um eine einseitige Aufkündigung dieses Arrangements für möglich zu halten.

Wie Ruth Lister (1997, S. 35) richtig einwendet, sind einmal erreichte Standards von Staatsbürgerrechten aber nicht als statische und langfristig gegeben zu betrachten, sondern "always open to reinterpretation and renegotiation." Genau dies war ab Ende der siebziger Jahre der Fall, als in Großbritannien viele sozialstaatliche Errungenschaften in einer Art Klassenkampf "von oben" zurückgenommen wurden und die Arbeiterbewegung sich zu ihrer Verteidigung als nicht stark genug erwies.

Neben den Vorwurf, Marshalls Konzept sei nicht dynamisch genug, um die Fort- und Rückschritte der Ausbreitung von Staatsbürgerrechten auf den Begriff zu bringen, trat die Kritik, es zu eng an die Praxis der Arbeiterklasse gebunden zu haben. Von feministischer Seite wurde unter Hinweis auf die relativ späte Einführung des Frauenwahlrechts eingewandt, dass die Ausbreitung von politischen Staatsbürgerrechten alles andere als automatisch und linear verläuft. Ferner habe Marshall übersehen, dass Frauen in der Praxis an der Ausübung der sozialen Rechte gehindert seien, da sie nach wie vor in erster Linie für die Betreuung der Kinder, Älteren und Kranken zuständig seien (Jones und Wallace 1992). Schließlich machte Bryan S. Turner (1993) aufgrund seiner Studien in Australien und den USA darauf aufmerksam, dass ethnische Konflikte für die Herausbildung ziviler, politischer und sozialer Standards von Staatsbürgerschaft ebenso bedeutsam sein können wie die Auseinandersetzungen von Kapital und Arbeit.

Ich möchte nun argumentieren, dass sich die partikularen und ungleichzeitigen Formen der Durchsetzung von Staatsbürgerrechten auf den Begriff bringen lassen, wenn man sie in den Kontext des oben entwickelten Schließungskonzepts stellt. In diesem Licht erscheinen sie zugleich als Resultate und Voraussetzungen von Exklusions- und Usurpationsstrategien auf verschiedenen gesellschaftlichen Feldern.2Die entsprechenden Kämpfe beschränken sich nicht auf den Gegensatz von Kapital und Arbeit, sondern schließen Macht- und Herrschaftsverhältnisse ein, die zum Beispiel auf der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Geschlechtern oder ethnischen Gruppen beruhen. Auf den Sachverhalt, dass Gruppen, die eine Schließungsbeziehung dominieren, mitunter zu den beherrschten Gruppen in anderen Feldern gehören (vgl. Parkin 1979, S. 89 ff.), zielt Parkins Konzept des dual closure: Von doppelter bzw. mehrfacher Ausschließung ausgehen heißt die Problematik ernst nehmen, dass Ressourcen und Einsätze in unterschiedlichen Schließungsgleichungen variieren und nicht auf eine einzige Logik reduziert werden können.

Der schließungstheoretische Zugang fokussiert auf die Dynamik der Beziehungen zwischen ausschließenden und usurpierenden Gruppen. Er geht von einem labilen Gleichgewicht der Schließungsgleichung aus, da es generell im Interesse beider Pole ist, den eigenen Ressourcenanteil notfalls auf Kosten des Gegenübers auszuweiten. Die Rücknahme eines einmal erreichten Bürgerrechtsniveaus ist deshalb stets eine realistische Option. Ebenso lässt sich so eine - historisch oft anzutreffende - zeitweilige Dominanz einer Schließungsbeziehung über andere einholen. Marshall (1992, S. 42 f.) behält im allgemeinen Recht mit seiner Periodisierung, in der er "bürgerliche Rechte dem achtzehnten, politische Rechte dem neunzehnten und soziale Rechte dem zwanzigsten Jahrhundert" zuordnet. Die anderen, mit den Typen der Staatsbürgerschaft korrespondierenden Gegensätze waren jedoch ebenfalls präsent, obwohl sie nicht den Hauptstrom des sozialen Wandels prägten. So führten die Usurpationsgewinne der männlichen Arbeiterklasse gegen das Unternehmertum auf dem Gebiet der sozialen Bürgerrechte nicht automatisch zu einer Besserstellung der Frauen und ethnisch dominierter Gruppen, auch wenn sie zweifellos zur Etablierung einer Zivilgesellschaft beigetragen haben, in der die Thematisierung der entsprechenden Kämpfe leichter fiel als vor der Ära des Wohlfahrtskapitalismus. Die politischen und sozialen Bürgerrechte der Frauen und Nicht-Weißen mussten vielmehr durch eigenständige Bewegungen durchgesetzt werden. Die organisatorische Unabhängigkeit dieser Gruppen war nicht zuletzt deshalb notwendig, weil weiße Männer sich in den internen Machthierarchien von Gewerkschaften und sozialdemokratischen Parteien in den meisten Fällen an der Spitze befanden.

Exklusion und Usurpation in Nordirland
Vor dem Hintergrund des soeben entwickelten schließungstheoretischen Konzepts der Ausbreitung von Staatsbürgerrechten interpretiere ich nunmehr den Weg zum nordirischen Friedensabkommen. Dabei argumentiere ich einerseits, dass sich die jüngere Geschichte Nordirlands als eine Sequenz der im ersten Abschnitt unterschiedenen Konfliktszenarien (Beibehaltung des Status quo, revolutionärer Kampf und institutioneller Kompromiss) darstellt, und andererseits, dass die entsprechenden Kämpfe zur Ausbreitung von citizenship geführt haben. Werfen wir zunächst einen Blick auf die nordirische Gesellschaft in den ersten fünfzig Jahren nach der Staatsgründung 1921, so war dies die Zeit einer offenen unionistischen Vorherrschaft über die katholische Bevölkerung in der Form eines "protestantischen Parlaments und eines protestantischen Staats".3

Bis in die siebziger Jahre hinein pflegten sich weder die britische noch die irische Regierung in grundlegende Fragen bezüglich nordirischer Angelegenheiten einzumischen, so dass die politische Gewalt in erster Linie vom Regionalparlament in Stormont ausging. Protestanten dominierten diese und andere Institutionen und erwiesen sich an Legitimation im nationalistischen Bevölkerungsteil wenig interessiert. Wie Richard Rose (1971) schon früh erkannte, hing unionistische Hegemonie nicht in erster Linie ab von der Bereitschaft der Katholiken zum Kompromiss, sondern vom Kohäsionsgrad des unionistischen Blocks und der damit verbundenen Möglichkeit, Interessen und Ziele notfalls auch gegen den Willen der katholischen Minderheit durchzusetzen. Die Herrschaft der Unionisten beruhte auf der Ausschließung von Katholiken von den Schlüsselpositionen der politischen und wirtschaftlichen Macht.

Die erste Säule der unionistischen Vorherrschaft war politischrechtliche Diskriminierung durch die Einschränkung der politischen Rechte der Katholiken durch das Wahlsystem. Im Zuge des so genannten gerrymandering wurden Wahlkreise so zugeschnitten, dass es in vielen Gegenden mit nationalistischer Bevölkerungsmehrheit zu unionistisch dominierten Gemeindevertretungen kam (Elliot 1999). Wie Graham Gudgin (1999) zeigt, tendierten die so zusammengesetzten councils wiederum dazu, Katholiken zum Beispiel bei der Vergabe von öffentlichem Wohnraum zu benachteiligen und so auch ihre sozialen Bürgerrechte zu beschneiden. Ein weiteres Element der unionistischen Herrschaft war die diskriminierende Einstellungspraxis im öffentlichen Dienst, aufgrund derer Katholiken unterrepräsentiert und von den oberen Rängen de facto ausgeschlossen waren (Morrissey 2001). Die Polizei und Sicherheitskräfte bestanden zu über 90 % aus Protestanten und enthielten Spezialeinheiten, die mitunter als eine Art unionistische Miliz auftraten (Hillyard 1997). Und schließlich waren Katholiken auch in der Privatwirtschaft benachteiligt, da die meisten Unternehmer Protestanten waren und entweder überhaupt keine Katholiken einstellten oder doch nur zu schlechteren Konditionen und für einfache Aufgaben.

Die Folge all dieser Benachteiligungen war einerseits eine höhere Arbeitslosenrate von Katholiken gegenüber Protestanten 4 und andererseits ein ethnisch segmentierter Arbeitsmarkt, bei dem, so Edmund A. Aunger in seiner Pionierstudie über Religion and Occupationa Class konzentriert waren. In ein- und demselben Arbeitskontext besetzten wiederum Protestanten weitaus häufiger das Management, und Katholiken waren in den einfachen und ausführenden Berufspositionen überrepräsentiert.

Die angeführten Beispiele von Benachteiligungen unterstreichen die unabdingbare Rolle des Staats für das Funktionieren offener sozialer Ausgrenzung. Anders als die von Max Weber zitierten Passagen nahe legen, hätte es zur Reproduktion unionistischer Hegemonie nicht ausgereicht, dass die Unionisten die Nationalisten als Zielscheibe von Exklusion einfach "auswählten"; denn dann bliebe unklar, warum es umgekehrt den Nationalisten nicht ihrerseits gelang, mit den Unionisten dasselbe zu tun. Die Exklusion von Nationalisten funktionierte vielmehr nur deshalb so reibungslos, weil die protestantische Elite sich auf ein Set staatlicher Institutionen stützen konnte, welches, weit davon entfernt, von Partikularinteressen unabhängig zu sein, als unmittelbares Instrument ihrer Herrschaft diente 5, und, als solches, die katholische Gemeinschaft de facto zu einer juristischen und politischen Kategorie zweiter Klasse herabstufte.

In diesem von Diskriminierung geprägten institutionellen Kontext befand sich die protestantische Arbeitnehmerschaft in einer außerordentlich günstigen strategischen Position, welche sich als ein Paradebeispiel des dual closure beschreiben lässt. Die protestantischen Arbeitnehmerorganisationen konnten die möglichen Gewinne, die ein Schulterschluss mit den Katholiken zum Zwecke der gemeinsamen Verfolgung usurpatorischer Ziele gegen die Arbeitgeber versprochen hätte, abwägen gegen die Vorteile, die mit der kontinuierlichen Ausgrenzung von Katholiken aus allen Arten von privilegierten Beschäftigungspositionen verbunden waren. Dass sich die protestantischen Arbeiter gegen ein Bündnis mit ihren katholischen Klassengenossen aussprachen und für eine Fortsetzung ihrer ethnisch bedingten materiellen Privilegierung optierten, zeigt, dass selbst Ausbeutung durch Lohnarbeit für privilegierte Arbeitnehmer so lange hinzunehmen ist, wie sie sich durch Ausgrenzung anderer Teile der Arbeitnehmerschaft schadlos halten können.

Gegen Mitte der sechziger Jahre begannen sich die von der Teilhabe an der politischen und ökonomischen Macht weitgehend ausgeschlossenen Bevölkerungsteile zu solidarisieren. Eine Bürgerrechtsbewegung nach dem Vorbild des amerikanischen Civil Rights Movements entstand und forderte die Abschaffung der protestantischen Privilegien, wobei sie sich gewaltfreier Methoden des zivilen Widerstands wie Demonstrationen und sit-ins bediente. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass, obgleich die Mehrheit derjenigen, die in der Northern Ireland Civil Rights Association engagiert waren, katholisch war, die Kampagne sich nicht die Vereinigung Nordirlands mit der Republik Irland zum Ziel setzte. Der Slogan British Rights for British Citizens verweist eher darauf, dass es in erster Linie darum ging, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Katholiken innerhalb der bestehenden politischen und sozialen Ordnung zu verbessern - mit Murphy gesprochen also eine reformerische Usurpationsstrategie. Der Rückhalt für eine revolutionäre Usurpationsstrategie zum Zwecke der Etablierung eines vereinigten irischen Staates war bemerkenswert gering.6

Bob Purdie (1990, S. 143 ff.) hat die Unfähigkeit der unionistischen Regierung beschrieben, in konstruktiver Weise auf die Forderungen der Bürgerrechtsbewegung zu reagieren. Stattdessen trug Stormont entscheidend zur Eskalation der politischen Lage bei, was die Londoner Zentralregierung zuerst zur Entsendung von Truppen veranlasste und dann - 1972 - zur Auflösung der Selbstverwaltung. Dieser Schritt sorgte jedoch nicht, wie anfangs von den Katholiken erhofft, für einen Fortschritt an der Bürgerrechtsfront. Ganz im Gegenteil: Durch die Einführung des so genannten internment - dem In-Gewahrsam-Nehmen von Personen auf der bloßen Grundlage des Terrorismusverdachts -, das in den ersten Jahren nahezu ausschließlich gegen Nationalisten zur Anwendung kam, kam es zu einer empfindlichen Einschränkung nunmehr auch ihrer zivilen Rechte. Zudem sollte sich die Härte, mit der der staatliche Sicherheitsapparat gegen die Proteste der Bürgerrechtler vorging, noch verschärfen.

Vor allem die Ereignisse des sogenannten Bloody Sunday 1972, als britische Soldaten 14 Bürgerrechtler in Derry/Londonderry erschossen, führten nicht nur zu weiterer Entfremdung der Katholiken von der staatlichen Ordnung, sondern hatten schwerwiegende Konsequenzen für die Taktik der Usurpatoren: Waren die Protestaktionen bis dato auf Reformen der existierenden politischen und ökonomischen Strukturen ausgerichtet gewesen, wobei man sich weitgehend auf friedliche Mittel beschränkt hatte, bekamen nun diejenigen Kräfte Zulauf, welche den revolutionären und bewaffneten Kampf befürworteten und die Position vertraten, dass sich die politischsozialen Forderungen der Bürgerrechtler nur im Kontext eines vereinigten Irlands durchsetzen ließen. Die Folge war ein dirty war zwischen der britischen Armee, dem unionistischen Sicherheitsapparat sowie loyalistischen Paramilitärs einerseits und der IRA andererseits.

In den siebziger und achtziger Jahren versuchte Westminster einerseits, die IRA militärisch zu besiegen, und andererseits sollten begrenzte Reformen die Legitimation des Staats bei den Katholiken erhöhen. Ausdruck letzterer Zielorientierung war die Abschaffung des gerrymandering und die Illegalisierung offener Diskriminierung bei Einstellungen aufgrund von Konfessionszugehörigkeit (Thorpe 2001). Jedoch lief die Abschaffung der direkten Diskriminierung nicht einfach auf ein Mehr an Gleichheit hinaus. Insbesondere im privaten Sektor erfolgte Diskriminierung nunmehr oft in indirekter Form, wenn etwa Arbeitnehmer angewiesen wurden, in bestimmten Regionen ihren Wohnsitz zu nehmen (Lundy 2001). Praktisch war dies oftmals unmöglich, denn - darauf haben Michael Poole und Paul Doherty (1996) hingewiesen - viele Gegenden Nordirlands sind derart ethnisch segregiert, dass es lebensgefährlich sein kann, in eine von der anderen Religionsgemeinschaft dominierte Gegend zu ziehen. Als Gegenreaktion begannen katholische Unternehmer nun ihrerseits, protestantische Bewerber in ähnlicher Form zu benachteiligen.

Im Laufe der achtziger Jahre wurde immer deutlicher, dass die Doppel-Strategie der britischen Regierung nicht aufgegangen war. Weder war es gelungen, die IRA militärisch zu besiegen, noch waren die Benachteiligungen der katholischen Bevölkerung merklich eingedämmt worden.7 An der geringen Legitimation der Londoner Zentralregierung bei der katholischen Bevölkerung hatte sich folglich wenig geändert. Umgekehrt, und dies ist ebenso wichtig, hatte aber der bewaffnete Kampf der IRA ebenfalls nicht die gewünschten Erfolge erbracht. Nicht nur war es ihr nicht gelungen, die Briten aus Nordirland zu vertreiben, sondern die Legitimation der Gewalt als Mittel in der politischen Auseinandersetzung selbst hatte aufgrund von Repressionen innerhalb des nationalistischen Lagers, der Verwicklung der IRA in Kriminalität und der vielen unschuldigen Opfer deutlich nachgelassen.

Das Fiasko der Hardliner auf beiden Seiten machte eine auf Gewaltlosigkeit und der Teilung der politischen Macht beruhende Konfliktlösung wieder wahrscheinlicher. Gemäßigte Stimmen argumentierten, dass, wenn es schon nicht möglich war, die Problemkreise des Status Nordirlands und der politischen und sozialen Staatsbürgerrechte gemeinsam zu adressieren, die Möglichkeit bestand, auf den Gebieten der politischen Reformen und der sozialen Integration voranzukommen, indem man diesen Fragenkomplex - zumindest zeitweilig - von dem der konstitutionellen Zugehörigkeit Nordirlands entkoppelte:

Das Friedensabkommen als institutioneller Kompromiss zwischen ausschließenden Gruppen und Usurpatoren

Unionisten

Hauptziel der Verhandlungen: Absicherung der Union mit Großbritannien

Konzession: Abstriche bei politischen und sozialen Privilegien

Mittel: Dialog

Nationalisten

Hauptziel der Verhandlungen: Mehr an Bürgerrechten, Polizeireformen; Beteiligung an politischer Macht; erhöhte Repräsentation im öffentlichen Dienst durch Einstellungsquotierung. "Irische Komponente" durch Nord/Süd-Gremien.

Konzession: Hinnahme des konstitutionellen Status Quo Nordirlands.

Mittel: Dialog

Dieser Kompromiss ist wesentlich durch die Vermittlung dritter Akteure und die Verschiebung des Konflikts auf eine neue Handlungsebene zustande gekommen. Zu dieser Verschiebung haben vor allem zwei Faktoren beigetragen: die Internationalisierung des Konflikts und der ökonomische Strukturwandel.

Die Internationalisierung des Konflikts wurde mit dem Anglo- Irish Agreement von 1985 eingeleitet, als Westminster aufhörte, den Nordirland-Konflikt als "innere Angelegenheit" zu betrachten und zugleich die Republik Irland als Verhandlungspartner anerkannte (Arthur 2000). Umgekehrt erteilte die Republik Irland Gewalt als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele eine Absage, was weiteren Verhandlungen den Weg ebnete. In dieselbe Richtung hat das Engagement von US-Präsident Bill Clinton gewirkt, mit dem er Sinn Fein zur Teilnahme an den Friedensgesprächen verhalf.8 Wichtige weitere Schritte waren die Erklärung von Downing Street, "keinerlei strategische Interessen in Nordirland" zu verfolgen, gefolgt vom ersten Waffenstillstand der IRA, und schließlich die Wahl von Tony Blair zum britischen Premierminister 1997 und dessen kurz darauf folgende Ankündigung, eine Kommission zur Untersuchung der Ereignisse vom Bloody Sunday ins Leben zu rufen.

Ebenso wichtig war der ökonomische Boom in der Republik Irland, von dem Nordirland zu profitieren begann. In den letzten Jahren ist die Region die am schnellsten wachsende Großbritanniens gewesen, und die Arbeitslosigkeit hat sich seit den 90er Jahren bis auf zuletzt 5% reduziert (Gaffikin et al. 2001, S. 16). Auch in Bezug auf die lange Zeit den Arbeitsmarkt kennzeichnenden diskriminierenden Einstellungspraktiken gibt es Fortschritte. Beschäftigung wird vor allem im einfachen und qualifizierten Dienstleistungssektor geschaffen von zumeist ausländischen Firmen, für die sektiererische Gründe bei der Rekrutierung ihrer Belegschaften keine Rolle spielen. Dagegen gehören die traditionellen Hochburgen der Diskriminierung - die Schiffswerften und der öffentliche Dienst - zu den Verlierern des industriellen Strukturwandels.

Schließlich soll die Aufmerksamkeit auf die internen Usurpationskämpfe des unionistischen und nationalistischen Lagers gelenkt werden. Unionistische Hegemonie basierte jahrzehntelang auf innerer Geschlossenheit, welche es erlaubte, frühere Reformen und Versuche, mit den Nationalisten zu einem Ausgleich zu kommen, zu unterlaufen (Cox et al. 2001). Im Falle des Anglo-Irish-Agreements scheiterten entsprechende Protestaktionen jedoch, und es tat sich eine Kluft auf zwischen einer traditionalistischen Fraktion, welche den Verhandlungen zum Karfreitagsabkommen fernblieb, und einem Modernisierungsflügel, der es vorzog, Reformen nicht pauschal zu verdammen und die Union mit Großbritannien durch Verhandlungen zu verteidigen. Dies gelang durch eine entsprechende Formulierung im Friedensabkommen und durch die Streichung zweier kontroverser Artikel aus der Verfassung der Republik Irland, welche einen Alleinvertretungsanspruch auch auf den Norden Irlands erhoben hatte (Bew 2001, S. 41). Als Resultat der Friedensverhandlungen erreichten die unionistischen Modernisierer damit einerseits eine Bestätigung des konstitutionellen Status quo Nordirlands, und andererseits enthielt die irische Verfassung keinerlei Passus mehr, der dies infrage stellte. Auf dieser Basis stimmte eine knappe Mehrheit aller Unionisten dem Karfreitagsabkommen zu. Seitdem hat sich jedoch die Position seiner Gegner angesichts des für zu langsam befundenen Abrüstungstempos und der anhaltenden illegalen Aktivitäten der IRA verbessert. Ein Fallstrick für den Friedensprozess liegt darin, dass der Pro-Agreement-Flügel der Unionisten beständig unter dem Druck steht, Erfolge vorzuweisen, während die fundamentaloppositionellen Traditionalisten von Problemen bei der Implementierung des Friedensvertrages profitieren.

Auch der nationalistische Bevölkerungsteil ist alles andere als homogen. Auf dem Weg zum Friedensabkommen hatten moderate Kräfte wie John Hume von der Social Democratic Labour Party ein diplomatisches Meisterwerk zu vollbringen, um die Führer von Sinn Fein davon zu überzeugen, dass das zu erwartende Mehr an Bürgerrechten die Konzessionen beim konstitutionellen Status Nordirlands überwiegen würde. Als Fortschritte in Sachen citizenship gelten erstens die Einführung einer rechtlich bindenden Einstellungsquote im öffentlichen Dienst, von der eine deutliche Reduktion der Benachteiligungen ethnischer (nicht nur konfessioneller!) Minderheiten erwartet wird; zweitens die Etablierung eines neuen Polizeidienstes (Police Service of Northern Ireland), für dessen Personalrekrutierung Katholiken bis zum Erreichen der 50 %-Marke bevorzugt werden; und drittens die Dezentralisierung der Verwaltung einschließlich der Einrichtung grenzübergreifender Körperschaften, wodurch sich die "gesamtirische" Dimension in der Administration erhöht.

Dennoch ist innerhalb von Sinn Fein die Kluft zwischen Befürwortern und Gegnern des Agreements, welche den bewaffneten Kampf fortsetzen wollen und sich Verhandlungen mit dem ehemaligen Feind verweigern, nicht überwunden. Eine gemeinsame Arbeitsgrundlage zwischen Gegnern und Befürwortern des Dialogs, wonach die IRA fortexistieren konnte, aber militärische Aktionen gegen die britische Armen und den Staat einzustellen hatte, erlaubte zunächst die Regierungsbeteiligung Sinn Feins. Dieser modus vivendi ist aber mit dem Auszug der Unionisten aus der Regierung und der Suspension des Friedensvertrages mittlerweile hinfällig. Die Pro-Agreement-Kräfte um Gerry Adams und Martin McGuiness dürften deshalb nicht länger um eine innerparteiliche Zerreißprobe herumkommen: Dabei wird es darum gehen, die Partei vollständig auf demokratische Mittel zu verpflichten - einschließlich der zügigen Abrüstung der IRA bis hin zur Auflösung als paramilitärischer Organisation.

Schlussfolgerungen
Die Anwendung dieses Ansatzes auf Nordirland hat ergeben, dass sich seine jüngere Geschichte in drei Etappen gliedert, die jeweils gekennzeichnet sind durch spezifische Konstellationen nationalistischer und unionistischer Exklusions- und Usurpationsstrategien, entsprechend den im theoretischen Teil entwickelten Formen der Konfliktregulation: Eine Beibehaltung des Status quo und der Privilegien der herrschenden Unionisten durch Ausgrenzung der Katholiken von der politischen und ökonomischen Macht kennzeichnete die Situation bis in die frühen siebziger Jahre; die siebziger und achtziger Jahre waren gekennzeichnet durch die Verlagerung unionistischer Ausschließungsstrategien auf indirekte Formen der Herrschaft einerseits und die revolutionäre nationalistische Usurpationsoption als Reaktion auf die vergeblichen zivilen Proteste der späten sechziger Jahre andererseits; und als institutioneller Kompromiss kann schließlich das durch Vermittlung Dritter zustande gekommene Karfreitagsabkommen von 1998 aufgefasst werden. Wichtige Interessen sowohl von Nationalisten als auch von Unionisten finden sich hier berücksichtigt, weil die Frage der konstitutionellen Zugehörigkeit Nordirlands vom Problemkomplex der Staatsbürgerrechte entkoppelt wurde.

Die gegenwärtige Situation ist durch eine Offensive von Hardlinern beider Seiten geprägt, mit dem Ziel, diesen Kompromiss wieder aufzukündigen. Ob diese von Erfolg gekrönt sein wird, dürfte insbesondere vom Grad der Geschlossenheit der Befürworter des Karfreitagsabkommens abhängen: von der Bündnisfähigkeit der gemäßigten Kräfte im nationalistischen und unionistischen Lager einerseits, und von der Koordination der Regierungen in London und Dublin andererseits. Bleiben diese weiterhin konsequent bei der Implementierung des Agreements - und dies schließt die Wiedereinsetzung der Selbstverwaltung ein -, könnten die pragmatischen Kräfte in beiden Lagern wieder einflussreicher werden: Einerseits ist den nicht zuletzt ökonomischen Interessen der protestantischen Elite in einer friedlichen Umwelt und einem infolgedessen verbesserten Image im Ausland langfristig besser gedient als in einem durch Konflikt und Mißtrauen gekennzeichneten gesellschaftlichen Klima, das obendrein das Bürgerkriegsimage Nordirlands in den Augen potenzieller Geschäftspartner aktualisiert; und andererseits beruhen die enormen Stimmengewinne Sinn Feins seit Ende der neunziger Jahre entscheidend auf der allmählichen Abkehr vom bewaffneten Kampf und der Hinwendung zu demokratischen Mitteln. Da eine Rückkehr zur Gewalt dagegen für beide Lager bedeuten würde, ihre Vorteile wieder zu verspielen, erscheint vorsichtiger Optimismus im Hinblick auf die weitere politische Entwicklung angebracht.

Max Koch - Jg. 1966; Dr. phil. habil; lehrt Soziologie an der School of Sociology and Applied Social Studies an der University of Ulster. Jüngste Veröffentlichung: Arbeitsmärkte und Sozialstrukturen in Europa (Wiesbaden 2003); zuletzt in UTOPIE kreativ: Die Krise der Demokratie in Chile, Heft 155 (September 2003).

1 Hierzu gibt es, wie in Nordirland nicht unüblich, zwei Lesarten: Die Unionisten behaupten, die IRA hätte nachrichtendienstlich Institutionen der Regierung infiltriert und sich illegalerweise Zugang zu geheimen Dokumenten verschafft. Umgekehrt stuft Sinn Fein, der politische Arm der IRA, die Reaktion des britischen Geheimdienstes und der Polizei, die mit einer großangelegten Razzia die Büros dieser Partei und einige Privathäuser durchsuchte, als übertrieben ein. Der Spionageverdacht würde aufgebauscht, um den Austritt der Unionisten aus der Regierung zu rechtfertigen, was sie ohnehin vorgehabt hätten.

2 Auch mit Bourdieu (1983, 2001) könnte man argumentieren, Schließungsprozesse für jedes soziale Feld gesondert zu betrachten. Beispielsweise ist das intellektuelle Kapital, das im akademischen Feld gefragt ist, von ganz anderer Natur als jenes, das man beim Aufstieg zur Spitze eines profitorientierten Unternehmens braucht.

3 So zumindest die Formulierung des ersten nordirischen Premierministers James Craig (1921-1940).

4 Nach Lundy (2001, S. 713 f.) betrug die Arbeitslosigkeit katholischer Männer 1971 17 % und die katholischer Frauen 7%. Für die Protestanten lauteten die entsprechenden Werte 7% und 4%.

5 Die Funktion des orange state als Herrschaftsinstrument der protestantischen Elite ist von Michael Farrell (1980) beispielhaft herausgearbeitet worden.

6 Weder wäre sonst die so genannte Border- Campaig (1956-1962) der IRA aus Mangel an Unterstützung abgeblasen worden (vgl. Dixon 2001, S. 70), noch hätte sich der Stimmenanteil der gemäßigten Nationalist Party im Verlauf der sechziger Jahre kontinuierlich erhöht (Purdie 1990).

7 Zwischen 1971 (siehe oben Fn. 4) und 1987 hatte sich die Arbeitslosigkeit der katholischen Männer auf 36% verdoppelt und war bei den Frauen auf 15% angestiegen. Auch bei den Protestanten hatte die Arbeitslosigkeit im selben Zeitraum zugenommen. Die Werte für 1987 lauten 15% für die Männer und 9% für die Frauen.

8 1994 wurde Clintons Interesse an Nordirland deutlich, als er Gerry Adams, dem Führer von Sinn Fein, ein Visum für die USA erteilte. Dies war ihm zuvor verwehrt.

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in: UTOPIE kreativ, H. 160 (Februar 2004), S. 112-126

aus dem Inhalt

Essay KLAUS WEBER Strafe und Ausgrenzung statt Hilfe und Integration? Möglichkeiten, Grenzen und Perspektiven der Sozialen Arbeit in der Resozialisierung Gesellschaft: Analyse & Alternativen MAX KOCH Der nordirische Friedensprozess vor dem Hintergrund der Theorie der sozialen Schließung; DIETMAR WITTICH Fremdenfeindlichkeit in Deutschland. Eine empirisch-soziologische Annäherung Alternative Wirtschaftstheorien ULRICH BUSCH Alternative Geldtheorien und linker Geldfetischismus; JÜRGEN LEIBIGER Arbeitszeitverkürzung und Perspektiven der Freizeit Standorte PETER ULLRICH Die Genuamobilisierung und Lernmöglichkeiten für das Verhältnis der Linken zu sozialen Bewegungen Bücher & Zeitschriften Andreas Malycha (Hrsg.): Geplante Wissenschaft. Eine Quellenedition zur DDR-Wissenschaftsgeschichte (WOLFRAM ADOLPHI): Christiane Zehl Romero: Anna Seghers. Eine Biographie 1947-1983 (FRANK WAGNER); Franca Wolff: Glasnost erst kurz vor Sendeschluß. Die letzten Jahre des DDR-Fernsehens (1985-1989/90) (KLAUS MELLE); Hermann Gellermann: Stefan Heym. Judentum und Sozialismus. Zusammenhänge und Probleme in Literatur und Gesellschaft (MARTIN GEGNER); Klaus Körner: "Die rote Gefahr". Antikommunistische Propaganda in der Bundesrepublik 1950-2000 (JÖRN SCHÜTRUMPF); AG Alternative Wirtschaftspolitik: Memorandum 2003 (ULRICH BUSCH); Alex Demirovic (Hrsg.): Modelle kritischer Gesellschaftstheorie. Traditionen und Perspektiven der Kritischen Theorie (SARAH DELLMANN); Joachim Bischoff, Klaus Steinitz (Hrsg.): Linke Wirtschaftspolitik. Bilanz, Widersprüche, Perspektiven (GÜNTER KRAUSE)