Den 14. September des letzten Jahres sollte man sich mindestens ebenso merken wie den 11. September 2001. Denn womöglich war das sogar der eigentliche historische Wendepunkt. ...
... Es könnte sein, daß der irrationale, aber symbolische Akt der Zerstörung des World Trade Center in New York zwei Jahre später in einem realen und durchaus rationalen Ereignis eine Entsprechung gefunden hat: dem Scheitern der Welthandelskonferenz im mexikanischen Cancun.
Die Konferenz sollte die Regeln zur Liberalisierung des Handels fortschreiben. Aber es kam zu keiner Einigung, weil eine Koalition von Entwicklungs- und Schwellenländern sich ihr verweigerte. Nach dem Scheitern der WTO-Konferenz 1999 in Seattle und den dürftigen Ergebnissen von Doha 2001 fragen nüchtern Denkende daher, ob die World Trade Organisation überhaupt noch eine Zukunft hat.
Was ist der Hintergrund? Es ist die von der Welthandelsorganisation, dem Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und zahlreichen Ökonomen verbreitete Freihandelslüge, gegen die sich Entwicklungs- und Schwellenländer endlich zur Wehr gesetzt haben. Sie besagt, der Handel sei ein Motor der Entwicklung; wer sich vom Weltmarkt abschotte, verbaue sich die Chance auf Fortschritt.
Das ist zunächst deshalb verlogen, weil damit den Entwicklungsländern eine radikale Marktöffnung abverlangt wird, während umgekehrt die Industrieländer ihre Märkte für Agrarprodukte, Textilien und Halbfabrikate aus dem Süden nur sehr beschränkt öffnen. Der Handel ist also gar nicht für alle gleichermaßen frei. Verlogen ist es aber auch deshalb, weil die Industrienationen die Entwicklungsländer zur Teilnahme am freien Handel nötigen, obwohl sie selber in ihrer Entwicklungsphase massiv protektionistisch vorgegangen sind und damit Erfolg hatten. Sie gaben also zunächst der eigenen Produktion den Vorrang vor dem Handel, und erst als sie es sich leisten konnten, proklamierten und praktizierten sie den freien Handel. Wenn sie nun den Entwicklungsländern das umgekehrte Verfahren empfehlen, dann läuft das darauf hinaus, dort den Aufbau einer eigenen Produktion eher zu behindern als zu fördern.
Entsprechend gehen die Forderungen der Entwicklungsländer in zwei Richtungen: Einerseits wird ein wirklich freier Handel verlangt, also die Verbesserung des Marktzugangs im Norden. Andererseits wird das Recht auf staatliche Protektion, das die Industrieländer früher in ihrer Entwicklungsphase ganz selbstverständlich wahrgenommen haben, für die Entwicklungsländer heute eingefordert. Wir können es auch das Recht auf Ungleichzeitigkeit nennen, denn wieso soll der staatliche Schutz, der den Industrieländern einst zu ihrer Marktmacht mitverholfen hat, den später Hinzukommenden plötzlich verboten sein?
Die Forderungen sind an alle Industrieländer adressiert, besonders aber an die USA, unter deren Hegemonie das heutige Freihandelssystem zustande gekommen ist. "Tatsächlich ist der gegenwärtige Weltmarkt ein von Menschen - man darf sagen: von Amerikanern - geschaffenes Gebilde, das Ergebnis von über 50 Jahren amerikanischer Diplomatie, amerikanischem Druck und amerikanischer Bereitschaft, den US-Markt zuerst und am weitesten zu öffnen" (so der US-Politikwissenschaftler Edward Luttwak in seinem Buch "Turbo-Kapitalismus").
Gerade sie konnten das Freihandelssystem schaffen, weil sie am entschiedensten und erfolgreichsten im Protektionismus waren. Das ist der Grundwiderspruch des ganzen Systems: Der freie Handel erobert die Welt, aber auf der Basis des Protektionismus einer Nation. Seine theoretischen Grundlagen waren schon 1790 von Alexander Hamilton, dem ersten amerikanischen Finanzminister, gelegt worden. In seinem "Report on Manufactures" stellte er nämlich klar, daß von einer wirklichen Unabhängigkeit der Neuenglandstaaten erst dann die Rede sein könne, wenn sie nicht mehr von Importen aus dem ehemaligen Mutterland abhingen, sondern ihre eigenen Manufakturwaren herstellten. Symbolischen Ausdruck gab George Washington dieser Einsicht, indem er am Tag seiner Inauguration 1789 bewußt Kleidung von inländischem Tuch trug, "um" - wie eine New Yorker Zeitung schrieb - "in der einfachen und ausdrucksvollen Weise, die diesem großen Manne eigen ist, allen seinen Nachfolgern im Amte und allen künftigen Gesetzgebern eine unvergeßliche Lehre zu geben, auf welche Weise die Wohlfahrt des Landes zu befördern sei".
Als in Europa der Freihandel die öffentliche Debatte zunehmend bestimmte und sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts durchsetzte, blieben die USA ungerührt "Mutterland und Bastion des modernen Protektionismus" (wie der französische Wirtschaftshistoriker Paul Bairoch formulierte). Der Hauptgrund war das gegenüber Großbritannien genau umgekehrte Interesse des Nachzüglers. Es trat im Bürgerkrieg (1861-65) noch einmal klar zutage: Während es in England die Industrie gewesen war, die für den Freihandel, nämlich die Abschaffung der Zölle auf landwirtschaftliche Produkte und Rohstoffe eintrat, war in den USA gerade der im industriellen Aufbau begriffene Norden an Schutzzöllen interessiert und der landwirtschaftliche Süden am Freihandel, nämlich am Export von Baumwolle und Getreide nach England. Der Bürgerkrieg erweist sich so als eine Auseinandersetzung um die spätere Stellung der USA in der Weltwirtschaft.
Da die Schutzzollpolitik des Nordens gesiegt hatte, waren die USA in der Lage, ihren Rückstand gegenüber Großbritannien zügig aufzuholen und sich nach dem Ende der Freihandelsperiode in Europa an der imperialistischen Politik der Großmächte zu beteiligen. Aber auch als nach dem 1. Weltkrieg die europäischen Märkte geschwächt und die USA zur führenden Industriemacht geworden waren, proklamierten sie nicht etwa den freien Handel, sondern verschärften mit dem Fordney-McCumber-Tariff von 1922 noch einmal den Protektionismus. Jetzt erreichten die Zölle auf Industrieprodukte eine Höhe von 50 bis 80, in manchen Fällen sogar bis zu 200 Prozent. Das war deshalb schon ein Schritt in Richtung Weltwirtschaftskrise, weil es die nach dem Krieg so dringliche Wiederbelebung des Welthandels erschwerte.
Völlig irrational, schädlich auch für die eigene Wirtschaft, erklärlich nur aus dem Interesse, das britische Empire als Konkurrenz endgültig niederzuringen, war es, als der Kongreß 1930, schon mitten in der Depression nach dem Boom der 20er Jahre, nochmals eine Zollerhöhung um 10 bis 30 Prozent beschloß, und zwar nicht nur für Agrarprodukte, sondern auch für Industrieerzeugnisse. Der indische Ökonom Jagdish Bhagwati hat diesen berüchtigten Hawley-Smoot-Tariff die größte jemals gegen den freien Warenaustausch gerichtete "Wahnsinnstat" genannt, denn damit wurde der Zusammenbruch des Welthandels eingeleitet, der die Finanzkrise erst zur Weltwirtschaftskrise machte.
Im 2. Weltkrieg schließlich glaubte niemand mehr an die Freiheit des Handels - bis auf die Vereinigten Staaten, die sie bis zu diesem Zeitpunkt nie praktiziert hatten, aber nun zuversichtlich sein konnten, aus dem Krieg als Sieger hervorzugehen. In der Atlantik-Charta, in der sie sich mit Großbritannien über die Kriegsziele verständigten, tauchte der freie Welthandel zum ersten Mal als Element der Nachkriegsordnung auf, und zwar eingebracht von den USA, um den britischen Sterling-Block aufzubrechen! Das war also gleichsam der Zeugungsakt der zweiten, bis heute anhaltenden Freihandelsperiode. Nach rund 150 Jahren hatten die USA mit einem Anteil an der Weltindustrieproduktion von fast 50 Prozent quasi eine Monopolstellung erlangt, die es ihnen erlaubte, der Welt die freie Konkurrenz zu verkünden.
Zurück zu unserem Ausgangspunkt: Wenn das derzeitige Welthandelssystem ein Produkt der US-amerikanischen Hegemonie ist und nun infragegestellt wird, so wird damit diese Hegemonie infragegestellt. Und es scheint an der Zeit, erneut zu überlegen, wie freier Handel ohne Hegemonialmacht und mit Entwicklungschancen aussehen könnte.
Aus: Ossietzky 1/2004