Vier Wochen wurde in ostdeutschen Tarifbezirken der IG Metall für die 35-Stunden-Woche gestreikt: für eine Forderung, die nicht plötzlich vom Himmel gefallen ist, sondern seit der deutschen ...
... Vereinigung mit dem kategorischen Imperativ der Angleichung der Arbeits- und Lebensverhältnisse auf der Tagesordnung steht. Mehr noch: Letztes Jahr vereinbarten die Tarifvertragsparteien, in 2003 über die schrittweise Angleichung der Wochenarbeitszeit zu verhandeln. Bis zum Schluss haben sich die Arbeitgeber dieser Vereinbarung verweigert. Für sie bedeutet die deutsche Einheit die Erweiterung ihres Produktions- und Absatzfeldes, zugleich eine Spaltung der sozialen Verhältnisse und mit dem Experimentierfeld Ost - 13 Jahre nach dem Fall der Mauer - auch die Perspektive, tarifliche Regelungen im Westen zu unterlaufen und auszuhebeln.
Ergebnis der Streiks ist der Abschluss bei Stahl mit der Einführung der 35-Stunden-Woche bis 2009. Er hätte die Folie sein können für die Metall- und Elektroindustrie: sowohl mit Blick auf die Zeitschiene, die die Ankoppelung an die Entwicklung der Produktivität zum Ausdruck bringt, als auch mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung durch eine Revisionsklausel. Dass diese Folie vom Verhandlungstisch gewischt wurde, macht deutlich, dass nicht in erster Linie wirtschaftliche, sondern politische Gründe für die Blockade- und Spaltungsstrategie der Arbeitgeber ursächlich sind. Das belegen auch die neun Haustarifverträge, die die IG Metall im Laufe der Streiks abschloss. Die IG Metall war jederzeit bereit, auf die konkreten ökonomischen Verhältnisse in Ostdeutschland Rücksicht zu nehmen. Doch was sie nicht kann, ist, die Arbeitsplatzinteressen ihrer Mitglieder aufs Spiel zu setzen, denn genau dies würde sie tun, wenn die hohe Produktivitätsentwicklung im Osten nicht durch schrittweise Arbeitszeitverkürzung ausgeglichen wird. Bei schon jetzt im Vergleich zum Westen niedrigeren Lohnstückkosten in der ostdeutschen Metallwirtschaft läuft hier bereits die Produktivitätsentwicklung gegen die Beschäftigung.
Zum Ergebnis der Streiks gehört die Erkenntnis, dass die Arbeitgeber entschlossen waren, den Flächentarifvertrag Ost zu torpedieren. Es geht um den Flächentarifvertrag, das Gewicht der IG Metall und die Ansprüche der Lohnabhängigen. Die Beendigung des Streiks war unvermeidbar. Zum einen war eine Steigerung in den Kampfgebieten nicht mehr möglich. Im Gegenteil: Durch kurzfristig zu erwartende weitere Haustarifvertragsabschlüsse z.B. bei Volkswagen Sachsen wäre im Ergebnis betrieblicher Erfolge die Streikbasis qualitativ und quantitativ deutlich schmaler geworden. Zum anderen hätte eine Ausweitung des Streiks auf weitere ostdeutsche Tarifbezirke die Arbeitgeber nicht mehr in den Flächentarifvertrag zurückgezwungen. Mit der Einstellung des Flächenstreiks ist der Kampf um Arbeitszeitverkürzung in Ostdeutschland nicht beendet. Er wird als Häuserkampf - Betrieb für Betrieb - fortgesetzt. Die Arbeitgeber haben die Machtfrage auf die Tagesordnung gesetzt. Die IG Metall kann und wird ihr nicht ausweichen.
Die IG Metall hat sich zu keinem Zeitpunkt Illusionen über die schwierigen Kampfbedingungen gemacht. Das ganze Land, aber speziell der Osten, befindet sich in einer mittlerweile gut drei Jahre währenden Stagnationskrise. Deren Ursache sind nicht davongaloppierende Kosten, sondern die anhaltende Schwäche der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Die Arbeitgeberverbände sind zu einer vernünftigen Antikrisenstrategie nicht in der Lage, noch nicht einmal willens: Sie instrumentalisieren die Krise. Gewerkschaften mit Gegenmachtpotenzial sollen ausgeschaltet werden, um die Deregulierung und Flexibilisierung von Arbeit und Sozialstaat beschleunigt vorantreiben zu können. Unverblümt gab der stellvertretende Verbandspräsident der Sächsischen Arbeitgeber zu Protokoll, dass sie die historischen Bedingungen für günstig einschätzen, die IG Metall auf Dauer in die Knie zu zwingen.
Das Scheitern der Flächenstreiks für die 35-Stunden-Woche führt uns mit aller Härte die Breitenwirkung der neoliberalen Langfristoffensive vor Augen. Objektive oder zumindest differenzierte Berichterstattung in Presse, Funk und Fernsehen hatte absoluten Seltenheitswert: Nicht Aufklärung, sondern Aufstachelung gegen die streikenden KollegInnen und die IG Metall war der kaum noch kaschierte Tenor der Meinungsmache. Und: In diesem Streik hatte die IG Metall die gesamte politische Klasse gegen sich. Nicht mehr Pro und Contra unterschieden die politischen Parteien, sondern nur mehr die Heftigkeit, in der einseitig für die Interessen der Arbeitgeberverbände Stellung bezogen wurde.
Die Versuche, die streikenden Kolleginnen und Kollegen zu denunzieren, zeigten kaum Wirkung: Sie streikten weder für Arbeitsplätze im Westen noch gegen ihren eigenen Arbeitsplatz. Sie verstanden die Zeichen der Solidarität der Kolleginnen und Kollegen aus den alten Bundesländern. Und sie wissen, dass ein soziales Europa der Solidarität der abhängig Beschäftigten bedarf und nicht auf dem propagandistischen Chauvinismus der Arbeitgeber gegenüber Polen und Tschechien gründen kann. Auch in den Betrieben im Westen ist die Notwendigkeit der Streiks verstanden worden. Allerdings ist es uns nicht gelungen, gegen die breite Verweigerungs- und Widerstandsfront eine breite gesellschaftliche Bewegung für Arbeitszeitverkürzung im Osten zustande zu bringen. Gegenaufklärung und breite gesellschaftliche Bündnisse waren es jedoch, die vor knapp 20 Jahren den Einstieg in die 35-Stunden-Woche in der Bundesrepublik möglich gemacht haben.
Auch damals war der Kampf um die Verkürzung der Wochenarbeitszeit langwierig. Er begann mit einer Niederlage, als es 1978 in der Stahlindustrie nicht gelang, den Einstieg in die 35-Stunden-Woche freizukämpfen. Erst sechs Jahre später wurde der Durchbruch geschafft. In dieser Zeit wurde nicht nur in der IG Metall, sondern in allen Einzelgewerkschaften intensiv über die Arbeitszeitstrategie diskutiert, kontrovers bis zum Ende. In diesen Jahren wurde um die Köpfe der Mitglieder und Nichtmitglieder gerungen, schon damals gegen neoliberale Meinungsführerschaft. Heute sind die Bedingungen nicht leichter, sondern in vieler Hinsicht schwieriger. Aber ebenso wie 1978 ist mit einer Niederlage die Schlacht für Arbeit, soziale Gerechtigkeit und Solidarität nicht verloren.
Für die Bewertung dieses Arbeitskampfes in Berlin, Brandenburg und Sachsen bleibt schließlich festzuhalten: Der Streik ist nicht zusammengebrochen. Bis zum letzten Moment war die Streikfront stabil.
Heinz Hoffmann arbeitet in der IG Metall Bezirksleitung Berlin-Brandenburg.