Die Juni-Insurrektion 1953. Schwierigkeiten mit der Klasse.

Thesen

Politisch siegreich war die Arbeiterschaft nie. Handelte sie ohne politischen Arm, zahlte die Zeche; folgte sie den Anweisungen einer politischen Führung, zahlte sie ebenfalls...

Am 17. Juni 1953 erkämpfte sich in der Deutschen Demokratischen Republik die Bau- und Industriearbeiterschaft einen privilegierten Platz, den zu verteidigen ihr bis hinein in den Untergang des "real existierenden Sozialismus" gelang. Auch im Westen Deutschlands wurde durch diesen Erfolg das Kräfteverhältnis nachhaltig verschoben. Anfang der fünfziger Jahre grassierte dort - anders, als es durch die Geschichtsphantasien gaukelt, die heute die Mainstreammedien kolportieren - keineswegs der soziale Aufschwung. Nach der Währungsreform 1948 war die Arbeitslosigkeit sprunghaft gestiegen und der ohnehin niedrige Lebensstandard durch ein "Minuswachstum" geprägt. Der Koreakriegsboom hatte zwar Arbeitsplätze geschaffen, aber keine Wohlfahrt; der Topos Sozialstaat war ein Fremdwort. Damals wäre niemandem eingefallen, Ludwig Erhard als "Vater des Wirtschaftswunders" zu apostrophieren; der Wirtschaftsminister galt als der bestgehaßte Mann des Landes. Das alles änderte sich nach dem 17. Juni.

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Seit der Herbstrevolution 1989 hat die ostdeutsche Industriearbeiterschaft sich in verschiedene Richtungen aufgelöst. Nun wird der westdeutschen Arbeiterschaft eindrucksvoll demonstriert, wie hoch ihr Anteil an ihrer Wohlfahrt zu veranschlagen ist: Die Realeinkommen sinken seit dem Anschluß der DDR fast so stetig, wie sie zuvor über lange Zeit hinweg stiegen; einem aus dem ärmeren proletarischen Milieu emporgekommenen sozialdemokratischen Regierungschef wurde es möglich, auf den Gedanken zu verfallen, den Sozialstaat bei lebendigem Leibe auf den Sägebock zu bugsieren, um ihn auf den Klassenstaat des 19. Jahrhunderts zurückzuschneiden. Grund genug, über die dramatischen Ereignisse des 17. Juni 1953, in denen sich wesentliche Probleme jeder Bewegung einer Arbeiterschaft spiegeln, sowie über den Platz dieses Datums in der Geschichte nachzudenken - jenseits aller neoliberalen Apologien, aber auch aller Sentimentalitäten und lebensgeschichtlicher Selbstverteidigungsreflexe.

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Der Arbeiterschaft ist es sowohl während ihrer Klassenwerdung als auch während ihrer Blütezeit eher selten gegeben gewesen, auf eigene Rechnung zu rebellieren: während des Weberaufstands in Schlesien 1844, in der Juni-Insurrektion 1848, während der Commune von Paris 1871, am 9. Januar 1905 und in der russischen Revolution von 1917, während kurzer Augenblicke der Novemberrevolution in Deutschland, im gern vergessenen Kronstädter Aufstand von 1921 - und am 17. Juni 1953. 1844, 1848, 1871 und 1905 verbluteten die Proletarier unter dem Feuer der Konterrevolution, die sich aus einer Melange aus konservativen und modernen Zivilisationsfeinden speiste; 1917 schwangen sich die Bolschewiki auf das Pferd der Rebellion und galoppierten - von den revolutionären Bewegungen des Westens alleingelassen und nachdem sie in Kronstadt endgültig ihre revolutionäre Unschuld verloren hatten - in Richtung staatsmonopolistischer Diktatur davon; 1918 streckte ein an die Spitze der deutschen Sozialdemokratie durchgelassener Bierzapfer die Kelle nach links und ließ den Brauereiwagen der deutschen Revolution nach rechts abbiegen; 1953 rebellierten Arbeiter gegen einen Staat, dessen Repräsentanten wenige Tage zuvor - am 5. Mai, dem 135. Geburtstag von Karl Marx und mit Berufung auf ihn - behauptet hatten, dieser Staat sei ihre Diktatur; er erfülle die Funktionen einer "Diktatur des Proletariats". (1)

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Letzten Endes politisch siegreich war die Arbeiterschaft, die 1848 natürlich eine andere als 1918 und 1918 eine andere als 1953 oder 1989 war, nie. Handelte sie ohne oder mit nur schwachem politischen Arm, zahlte sie zumeist obendrauf auch noch die Zeche; folgte sie den Anweisungen einer politischen Führung, zahlte sie ebenfalls. 1953 trat erstmals an die Stelle einer Führung durch ein "Politbüro" oder ähnliches die Führung durch informationsverbreitende Medien, damals der Rundfunk. Ein neuer Typus von Rebellion war geboren, der aber erst Jahre später dechiffriert werden konnte: Nach vergeblicher Fahndung nach einem organisatorischen Zentrum der Studentenrebellion 1967/68 entdeckten tief verunsicherte Innenpolitiker der westeuropäischen Staaten die Formel des neuen Rebellionstyps: Das Politbüro war die Fernsehberichterstattung. Doch nicht nur das war 1953 neu. Die Arbeiterschaft bekam auch etwas mehr als nur Wechselgeld heraus: Im Tausch gegen politische Mündigkeit errang sie für mehr als dreieinhalb Jahrzehnte soziale Sicherheit - und eine ermäßigte, den ökonomischen Möglichkeiten wie Notwendigkeiten immer weniger entsprechende Arbeitsbelastung; der arbeitenden Bevölkerung mußte ein Lebensstandard zugestanden werden, von dem die nichturbane Bevölkerung des Siegerstaates UdSSR nicht einmal zu träumen wagte. Im Westen Deutschlands war zwar für den Fortgang der Akkumulation weiter hart zu arbeiten; aber der Staat wandelte sich zu einem Sozialstaat skandinavischen Formats. So sozial abgesichert gestaltete sich das Leben der Arbeiterschaft in den Siegerstaaten Großbritannien und Frankreich zu keiner Zeit, ganz zu schweigen von den USA; erstmals in der Geschichte erging es der arbeitenden Bevölkerung des Kriegsverlierers deutlich besser als der der Sieger. Nicht nur die DDR lag an der Nahtstelle zweier Systeme. Im Laufe dieser Entwicklung wurde die Sprache der (West-)Deutschen durch interessante Schöpfungen bereichert; darunter "Eigenheimzulage " - galt doch das Reihenhaus in Arbeiterhand von nun an als das sicherste Bollwerk gegen den Bolschewismus.

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Marxisten, meinte vor über siebzig Jahren Kurt Tucholsky, seien Menschen, die einem Normalsterblichen keineswegs nur erklären könnten, wie die Zukunft aussehen werde, sondern auch, warum ihre jeweilige Vorhersage nicht eingetroffen sei. So schön dieses Bonmot auch ist und wie leidvoll es erarbeitet wurde - der eigentliche Grund, warum die Arbeiterschaft politisch den Weg der rebellierenden Bauernschaft der frühen Neuzeit (nicht nur im deutschen Bauernkrieg) gegangen ist, statt den Kapitalismus zu überwinden, liegt in der Annahme begründet, daß die Arbeiterschaft zu dieser Leistung in der Lage gewesen wäre. Sahen die vormarxschen Menschenfreunde und Sozialisten in der Arbeiterschaft vorrangig eine leidende Masse, der von außen geholfen werden müsse, dachte Marx den sympathischen Gedanken, daß das geschundene doppelt freie Proletariat das Subjekt sei, das die warenverursachte Entfremdung aufheben werde. Jahrzehnte später gaben die Großdenker des Marxismus-Leninismus dieser Teleologie einen Namen, von dem sie behaupteten, er sei ein Begriff: "historische Mission der Arbeiterklasse". Handelte es sich bei der Marxschen Annahme noch um eine "heroische Illusion", schmeckte bei den Tempelwächtern des russischen Kasernen- und Gulagsozialismus die Apologie von Anfang an hervor.

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Die "heroische Illusion" ist eine nahe Verwandte der Utopie. Dem kann natürlich nur derjenige folgen, für den Utopie das noch nicht Seiende, also Mögliche, wenngleich nicht Unausweichliche, weil vom Handeln oder Nichthandeln Abhängige ist. Vor allem in revolutionären Phasen träumen Personen, mitunter auch Gruppen von Personen, nicht nur über den Rahmen ihrer Möglichkeiten hinaus - das geschieht jeden Tag -, sondern sie suchen, über diesen Rahmen hinaus zu handeln. Für die sogenannten bürgerlichen Revolutionen ist das Phänomen der "heroischen Illusion" gut bearbeitet; (2) für die Arbeiterbewegung hingegen wurde es, sieht man von Ernst Bloch ab, (3) bisher verkniffen ignoriert.

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Natürlich hatte die Arbeiterschaft ein Interesse an der Verbesserung ihrer Lage; Tag und Nacht von Revolution und von der "heroischen Illusion" einer nachkapitalistischen Gesellschaft träumten die Arbeiter aber nicht, höchstens, wenn überhaupt, in Erweckungssituationen - die als Firlefanz natürlich vor allem von jenen Linken denunziert werden, die ihnen ihr eigenes segensreiches Wirken zu verdanken haben. Gewöhnlich aber waren die Probleme des doppeltfreien Arbeiters andere: der nächste Tag, der nächste "Erste" (an dem Miete zu zahlen war), das Leben nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit, die Zukunft der Kinder - nur selten aber die Zukunft der Menschheit. Nicht zufällig sind die Gewerkschaften, die sich um Leben und Überleben kümmern, die Klassenorganisation der Arbeiterschaft.

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Karl Kautsky und sein treuester Schüler, W. I. Lenin, wollten diesem "Defekt" abhelfen: Das "Bewußtsein" sollte "von außen" in die Arbeiterschaft hineingetragen werden. Denn Arbeiter, so Lenin, seien nur eines "tradeunionistischen Bewußtseins" fähig und bedürften deshalb einer Avantgardepartei. Mit anderen Worten: Ausgerechnet die Klasse, die zur Aufhebung der Klassengesellschaft berufen sei, kann aus ihrem Alltag heraus nicht ihre Aufgabe erkennen. Sie benötigt "Klassenfremde", die ihr erklären, was sie will. Solch Malheur war noch keiner Klasse widerfahren.

Dort, wo die politische Arbeiterbewegung der "heroischen Illusion" zumindest in ihrer Agitation Raum bot, vermochte sie jene Rolle zu spielen, die in Revolutionen der äußersten Linken zukommt: die Entwicklung so weit "nach links" zu treiben, daß das jeweils gesellschaftlich Mögliche nicht nur freigelegt, sondern im gegebenen Rahmen auch unumkehrbar wird. Ohne diesen Druck von links - egal ob er von einer antikapitalistischen Bewegung und/oder Partei oder von einem Land des "realen Sozialismus" ausgeht - bewegt sich eine bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft in eine Richtung, in der der Einfluß der Arbeiterschaft (heute aller Lohnabhängigen und Kleinselbständigen) auf die Gesellschaft sowie deren soziale Ausstattung nachhaltig gemindert werden. Man betrachte die Jahre seit 1990.

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Wenn in der Arbeiterschaft Forderungen vertreten wurden, die explizit die Überwindung des Kapitalismus enthielten, handelte es sich zumeist um Gedanken, die Intellektuelle - fast jeder einzelne im Besitz der letzten Wahrheiten und deshalb oft alle anderen bekämpfend - vorformuliert hatten: Proudhon, Lassalle, Bakunin, Marx. Die Blockierungen, die aus den Zwistigkeiten des 19. Jahrhunderts resultierten, sind in wesentlichen Stücken auf den heutigen Tage überkommen, wobei das durch die Heroen des Sozialismus Marx und Bakunin verursachte Schisma zwischen staats- und mehr noch machtzentriertem "wissenschaftlichen Sozialismus" und freiheits- und überhaupt wertezentriertem "libertären Sozialismus", mitunter auch Anarchismus genannt, zum Mühlstein am Halse aller antikapitalistisch gesinnten Menschenfreunde geworden ist. Seit 1870 ist der Streit zweier alternder Männer konserviert.

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Der Anarchismus - vor dem Auftreten des heute schon wieder fast vergessenen Bin Laden von Interessierten gern und absichtsvoll zum Vorzeige-Terrorismus herunterkarikiert - wäscht dank seiner selbstverordneten Wirkungsunfähigkeit die Hände mehr in Unschuld als in Blut. Anders jene oft bis zum Exzeß machtorientierten und revolutionsgestimmten Politiker, die Marx zu einem Säulenheiligen und Religionsverkünder erniedrigten und ihre Vorgänger - ursprünglich eher demokratisch gesinnte Revolutionäre - aus dem Wege räumten. Sie haben dem 20. Jahrhundert ihren Stempel schmerzhaft aufgedrückt, nicht nur während des spanischen Bürgerkriegs, als sie in den Folterhöllen der GPU die Gelegenheit nutzten, ihr Mütchen an den Anhängern Bakunins und Kropotkins, aber auch am Fleisch aus ihrem Fleische, den sogenannten Trotzkisten, zu kühlen. Eine Wiedervereinigung der emanzipatorischen Ansätze von "wissenschaftlichem " und "libertärem Sozialismus" - darauf hat als erster Fritz Behrens hingewiesen (4) - wäre Voraussetzung für jede ernsthafte Emanzipationsdebatte; die natürlich nur denkbar wäre unter Einbeziehung der dritten großen Strömung, des christlichen Sozialismus.

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Die revolutionsgestimmten Marx-Anhänger blieben nicht erst 1918 in der Minderheit. Die Mehrheit der politikmachenden Funktionäre in der Partei des Erfurter Programmes war im Herzen stets Anhänger des parlamentarischen Weges gewesen, wie ihn Lassalle favorisiert hatte, und so im Kaiserreich "angekommen". Die SPD war eine Partei der sozialen Gerechtigkeit, bis 1914 sogar eine sehr erfolgreiche, aber keine Partei der Systemüberwindung - auch wenn ihr Parteiideologe Karl Kautsky lange Zeit das Gegenteil behauptete. Die Abneigung, ja der Haß gegen jede Unordnung, gar Revolution war dem SPD-Establishment schon eigen, als noch der vom Alter gezeichnete August Bebel der Partei das Gesicht verlieh. Die Politik nach dem 1. August 1914 und mehr noch nach dem 9. November 1918 ließ offenkundig werden, daß die SPD mit der "heroischen Illusion" gebrochen hatte und den Weg der Klassenkompromisse beschritt. Daß sie trotzdem Einfluß auf die Arbeiterschaft behielt, erklärt sich weniger aus der eigenen Stärke als aus dem Verlauf der russischen Revolution und den Eskapaden der KPD im Jahre 1921, als die "heroische Illusion" auf dem Rücken der mitteldeutschen Arbeiterschaft zuschanden taktiert wurde. Danach gelang es den deutschen Kommunisten nicht mehr, jene Verankerung in der Arbeiterschaft wiederherzustellen, die sie mit der Vereinigung von USPD und KPD im Jahre 1920 erreicht hatten. Wesentliche Grundlagen für die spätere stalinistische Großsekte haben die KPD-Gründer, die in ihrer Mehrheit 1928 aus der Partei gedrückt wurden, selbst gelegt.

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Angesichts dieses fehlenden Druckes von links war der SPD bis 1930 fast jeder Verrat an den Interessen ihrer Klientel, der Arbeiterschaft, ungestraft möglich. Letztlich benutzten beide Parteien, die vorgaben, die Interessen der Arbeiterschaft zu vertreten - opportunistisch die einen, avantgarde-bürokratisch die anderen -, ihre Klientel und traten sie gelegentlich mit Füßen. 1932 stellte die NSDAP im Reichstag die stärkste Fraktion; die "heroische Illusion" war in die Hände von angehenden Massenmördern geraten, die auf dieser Klaviatur überaus erfolgreich zu spielen wußten.

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Neben Karl Kautsky hat vor allem Max Beer die Geschichte des sozialistischen Gedankens bis ins Judentum zurückverfolgt und dabei nicht nur offengelegt, wie lange schon vor dem Entstehen einer Arbeiterschaft und ihrer Bewegung der Ruf nach sozialer Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden erscholl, sondern auch welchen gewaltigen Fundus an emanzipatorischer Programmatik sich diese Bewegung anzueignen hat. (5) Für die vor-thälmannschen Kommunisten gehörte dieses Wissen zum politischen Selbstverständnis. Das änderte sich grundlegend, als die "Arbeiterkader" Thälmann, Remmele, Ulbricht etc. den revolutionären Staats-Marxismus vereinnahmten, auf Lenins drei Quellen sowie drei Bestandteile zurückstutzten und das Emanzipatorische ins Avantgardistische wendeten. Programmatisches Wissen degenerierte zur Apologie der jeweiligen, oft linksradikalen Tagespolitik. Entsprechend aufmerksam wurde von nun an das verwirrende und zum eigenen Denken herausfordernde Werk Max Beers vergessen gemacht; Ernst Bloch wurde erst gar nicht gelesen.

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In seinem Avantgarde-Konzept hatte Lenin die Bewegung der Arbeiterschaft durch die Partei ersetzt und die Arbeiterschaft aus dem Subjekt ihrer eigenen Bewegung in ein durch die Partei zu bearbeitendes Objekt verwandelt. Das geschah weitgehend in der Theorie, denn vor der Revolution hatten die Bolschewiki zu lebendiger Arbeiterschaft kaum Kontakt, geschweige denn Einfluß auf sie. Auch während Revolution und Bürgerkrieg war dieses Konzept nicht sofort durchsetzbar; statt dessen führten die Bolschewiki - im Sinne Rosa Luxemburgs, aber keineswegs davon begeistert - die spontan in Bewegung geratene Arbeiterschaft des Zarenreiches; Lenins Avantgarde-Konzept konnte erst sukzessive umgesetzt werden. Nachdem 1920 der Export der Revolution nach Polen gescheitert war, wurde durch die Hinwendung zu den Bedürfnissen der nachrevolutionären Bauernschaft und des Kapitals im Frühjahr 1921 nicht nur der Ablösungsprozeß der Partei von der Arbeiterschaft vollendet, sondern bei der Niederschlagung der Kronstädter Arbeiter-Bewegung auch die bürgerkriegsgeschwächte Arbeiterschaft gleichzeitig unterworfen. Mit der Partei- und Staatsbürokratie - letztere zum Teil aus dem Zarismus ererbt - schuf sich die Avantgarde-Partei in der Folgezeit eine neue soziale Basis, zu deren Gunsten sie Ende der zwanziger Jahre die Bauernschaft und die sogenannten NÖP-Gewinnler versklavte. Damit hatte sich die Sozialstruktur einer neuen Gesellschaft, des Staatsmonopolismus, formiert. Der Staat als Instrument der Partei agierte von nun an nicht nur als Alleineigentümer, sondern auch als Alleinunternehmer. In der Jeshowshina wurden im Interesse der neuen herrschenden Schicht, die sich später (allerdings nur in der Sowjetunion und in China) zu einer eigenen Klasse ausbilden konnte, jene ursprünglich eher demokratisch gesinnten Revolutionäre ausgerottet, die - wider Willen - die Voraussetzungen für die als Sozialismus apostrophierte staatsmonopolistische Gesellschaftsordnung geschaffen hatten.

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In Deutschland gelang dem "Thälmannschen ZK", schon bevor die Rote Armee dessen Resten die Macht übergab, die weitgehende Verselbständigung der Partei gegenüber der Klasse zu einem gewissen Abschluß zu führen. Da ab Ende der zwanziger Jahre nur noch die Partei zählte, wurde selbst der 30. Januar 1933 nicht als Niederlage reflektiert, sondern weiter an der "Vorbereitung der Revolution" gearbeitet - bis die Nazi-Faschisten die Partei vollends in Stücke schlugen. Erst danach, 1935, gestanden sich die noch lebenden führenden Genossen die Niederlage, doch keineswegs den verfehlten Ansatz ihres Avantgarde-Konzeptes ein. Wurden bei Ende des Zweiten Weltkriegs im Westen die sich spontan bildenden Antifa-Ausschüsse durch die Besatzungsmächte verboten, war es im Osten die sich wieder begründende kommunistische Partei, die in der schnellstmöglichen Auflösung dieser Basisorgane eine ihrer ersten Aufgaben sah. Jeder unabhängigen Bewegung der Arbeiterschaft sollte für die Nachkriegszeit möglichst von vornherein der Riegel vorgeschoben werden - was allerdings nicht immer gelang. Es folgten die Ablehnung einer sozialistischen Einheitspartei sowie - wenige Wochen später - ihre dringende Befürwortung und eine Vereinigung, deren vordringlichstes Ziel nicht etwa die Vereinigung der vereinigungswilligen Teile, sondern die vollständige Vereinigung war. Anders als 1920, als große Teile der USPD die Vereinigung mit der KPD abgelehnt hatten, durfte dieses Mal vom Vereinigungspartner kein organisatorischer Rest übrigbleiben - dafür war so ziemlich jedes Mittel recht.

Die vor 1933 durch SPD und KPD nachhaltig desorientierte Arbeiterschaft ging aus Drittem Reich und Weltkrieg in jeder Hinsicht hochgradig beschädigt hervor. Ganze Jahrgänge waren auf den Schlachtfeldern verblutet. Zum Kontinuum und zum Rückgrat des Wiederaufbaus wurde der im Kriege u.k.-gestellte vierzig- bis fünfzigjährige Facharbeiter mit gründlicher handwerklicher Ausbildung und oft sozialdemokratischer Prägung, der in der Lage war, aus dem nach Zerstörung und Demontagen verbliebenen Schrott Industrieproduktion wieder in Gang zu bringen. Politisch orientierte sich die Arbeiterschaft in den ersten Monaten auf die beiden Arbeiterparteien bzw. dann die SED. Besonders die sogenannte Flakhelfer-Generation - die jungen, im Nationalsozialismus sozialisierten Männer, denen dank ihres Alters der Fronteinsatz erspart geblieben war - ergriffen im Prozeß der Ablösung von den Götzen des Nationalsozialismus die Chance, die ihnen die SED bot: aus der Arbeiterschaft in Führungspositionen aller Ebenen aufzusteigen. Die DDR wurde ihr Land; für sie arbeiteten sie sich krumm; viele erlebten ihr Ende nicht mehr; die Überlebenden dieser Aufbaugeneration gingen in Rente, als ihr Staat von der Landkarte verschwand.

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Ab 1947 setzten intern die Bestrebungen ein, das Konzept der Avantgardepartei in der neuen Einheitspartei durchzusetzen, ab Mitte 1948 wurde es auch öffentlich propagiert. Angehörige der "Zwischengruppen " KPDO, SAP etc. wurden als erste verfolgt, dann kamen langjährige KPD-Mitglieder, vor allem solche, die noch in der Arbeiterschaft verankert waren, während des Nationalsozialismus Widerstand geleistet hatten und nun selbstbewußt auftraten, sowie SPD-Mitglieder und Westemigranten an die Reihe. Gleichzeitig gelang es 1948, durch die Zerschlagung der Betriebsräte die Arbeiterschaft der einzigen eigenständigen und demokratisch verfaßten Organe zu berauben. Hatte die SED 1946 noch in vier von fünf Ländern der Sowjetischen Besatzungszone bei den Landtagswahlen die Mehrheit errungen, wagte sie 1948, als die nächsten Wahlen hätten abgehalten werden müssen, schon nicht mehr, sich erneut zur Wahl zu stellen. Nachdem sie im Mai 1949 bei einem Plebiszit zwar zwei Drittel Zustimmung erhalten hatte, dies aber in der SED-Führung als Katastrophe empfunden worden war, unterblieben bis zum Ende der DDR freie Wahlen gänzlich. Mit dem "Deutschen Wirtschaftsrat" schuf sich die Avantgardepartei ein eigenes Machtinstrument, das am 7. Oktober 1949 in "Provisorische Regierung der Deutschen Demokratischen Republik" umbenannt wurde.

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Die Arbeiterschaft der neuen Republik blieb selbstbewußt. 1951 wurde ihr eine Arbeitsorganisation nach sowjetischem Vorbild verordnet: überschaubare, vermeintlich gut kontrollierbare Brigaden statt Meisterbereiche. Das Ergebnis war zwiespältig. In etlichen Betrieben erkannten Arbeiter die basisdemokratische Verwendbarkeit dieser Struktur und suchten, sie als Mitbestimmungsinstrumente einzusetzen. (6) Die SED reagierte verunsichert und richtete die patriarchalischen Meisterbereiche wieder ein, ließ aber die Brigaden als Hülle weiterexistieren. 1959/60, mit den "Brigaden der sozialistischen Arbeit", wiederholte sich solcherart "Titoismus" erneut. (7)

Bis ins Jahr 1952 hinein blieb unklar, ob Stalin seinen Coup von 1939 wiederholen und seine deutschen Anhänger erneut verraten oder ob er das Gebiet zwischen Oder und Elbe endgültig seinem Imperium einverleiben und mit den entsprechenden staatsmonopolistischen Verhältnissen ausstatten würde. Im Frühjahr 1952 fiel die Entscheidung: Stalin verordnete der DDR die Aufrüstung und damit endgültig sein System. Der Staatshaushalt der DDR, durch Reparationen und Besatzungskosten ohnehin der eines Armenhauses, geriet in wenigen Wochen völlig aus den Fugen. Besatzungsmacht und SED-Führung entschieden sich für eine Kopie der Stalinschen Politik der Jahre 1928 ff.: "Verschärfung des Klassenkampfes" mit zwei Zielen, erhöhte Akkumulation und Zertrümmerung überkommener Sozialstrukturen. Als der Mittelstand und die Bauernschaft schon auf dem Rücken lagen, die überlebenden jüdischen Kommunisten, soweit noch nicht verhaftet und für den deutschen Schauprozeß hergerichtet, in den verhaßten Westen ausgewichen waren, und die auf Zerstörung beruhende Akkumulation nur schwache Einmaleffekte hervorgezaubert hatte, begann im März 1953 die Beseitigung der wenigen sozialen Vergünstigungen für die Arbeiterschaft: Abschaffung der lebenswichtigen Arbeiterrückfahrkarte, der Kuren und weiterer mehr als schlichter Privilegien, dafür Preiserhöhung für die billige Marmelade - damals Grundnahrungsmittel - und zehnprozentige Normerhöhung per Dekret.

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Doch: Deutschland war nicht Rußland, die deutsche Arbeiterschaft hatte anders als die russische 1921 etwas entgegenzusetzen: Obwohl unorganisiert, ohne Führung und auf die blanken Hände angewiesen, zog sie quer durch die Gesellschaft unübersehbar die Grenze, bis zu der sie gewillt war mitzugehen: Euch die Macht, uns soziale Sicherheit und eine erträgliche Arbeitsbelastung. Dieser unausgesprochene Klassenkompromiß zwischen Arbeiterschaft und Partei- und Staatsbürokratie hielt, bis sich 1988/89 - nachdem schon viele Kreative, die nicht der Arbeiterschaft angehörten, das Land verlassen hatten - nun auch die jüngeren Teile der ostdeutschen Arbeiterschaft zur Massenemigration entschlossen, zu der schon 1960/61 ihre Elterngeneration angetreten, aber in ihrer Mehrheit durch den Mauerbau gehindert worden war.

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Der 17. Juni 1953 in der DDR und zuvor die ähnlich gelagerten Ereignisse in der CSR Anfang Juni 1953 (8) haben eine Minderung des despotischen Charakters des Staatsmonopolismus in ganz Osteuropa, die Sowjetunion eingeschlossen, bewirkt sowie für die Herausbildung des Rheinischen Kapitalismus das notwendige Kräfteverhältnis geschaffen - den Weg zu einer lebensfähigen, demokratisch verfaßten und sozial gerechten Gesellschaft jedoch vermochten sie nicht zu öffnen. Diese Aufgabe ist bis heute ungelöst geblieben.

Jörn Schütrumpf - Jg. 1956, Historiker, Dr. phil., Mitglied der Redaktion UTOPIE kreativ, leitet die Öffentlichkeitsarbeit an der Rosa- Luxemburg-Stiftung. Zuletzt in UTOPIE kreativ: Unabgegoltenes. Politikverständnis bei Paul Levi, in: Heft 150 (April 2003).

(1) Neues Deutschland, 6. Mai 1953.

(2) Manfred Kossok: Realität und Utopie des Jakobinismus. Zur "heroischen Illusion" in der bürgerlichen Revolution, in: Ders.: Zwischen Reform und Revolution: Übergänge von der Universal- zur Globalgeschichte. Ausgewählte Schriften. Band 3, Leipzig 2000, S. 93-107.

(3) Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, 3 Bände, Berlin 1954 - 1959.

(4) "Ein Marxist, der Sozialist bleiben will, muß das Beil des Kampfes gegen den Anarchismus begraben, denn er kann nicht Sozialist sein, ohne Anarchist zu sein. MarxÂ’ Kampf gegen Bakunin war ein verhängnisvoller Irrtum, den die revolutionäre Bewegung schwer büßen mußte." Fritz Behrens: Kann ein Marxist heute noch Marxist sein?, in: Ders.: Abschied von der sozialen Utopie, Berlin 1992, S. 246.

(5) Max Beer: Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe. Mit Ergänzungen von Hermann Duncker, Berlin 1931 (7).

(6) Grundlegend dazu Jörg Roesler: Inszenierung oder Selbstgestaltungswille? Zur Geschichte der Brigadebewegung in der DDR während der 50er Jahre (hefte zu ddr-geschichte 15), Berlin 1994.

(7) Jörn Schütrumpf: "Stürmt die Höhen der Kultur!" Der Bitterfelder Weg, in: Franz-Josef Brüggemeier, Gottfried Korff, Jürg Steiner (Hrsg.): mittendrin. Sachsen-Anhalt in der Geschichte, Dessau 1998, S. 437-445.

(8) Karl-Heinz Gräfe: 1953: die Krise des Imperiums und der "Neue Kurs" in Osteuropa, in diesem Heft, S. 493 ff.

 

in: UTOPIE kreativ, H. 152 (Juni 2003), S. 485-492

aus dem Inhalt:

Essay
JÖRN SCHÜTRUMPF Die Juni-Insurrektion 1953. Schwierigkeiten mit der Klasse. Thesen 485
Stalins Tod und die Folgen
KARL-HEINZ GRÄFE 1953: die Krise des Imperiums und der "Neue Kurs" in Osteuropa 493
Globalisierung, Hegemonie & Krieg
HANS JÜRGEN KRYSMANSKI Wer führt die neuen Kriege? Globale Macht- und Geldeliten machen mobil 506
PEER HEINELT Nur deutsche Kriege sind gute Kriege. Bundesrepublikanische Medien auf Friedenskurs? 520
Programmdiskussion
HELGE MEVES Das Selbstverständnis der PDS, der Neoliberalismus und die Mitte-Unten-Optionen 525
SAHRA WAGENKNECHT Welche Aufgaben hat ein Programm einer sozialistischen Partei? 536
Alternative Wirtschaftstheorie
ANNELIESE BRAUN Auf der Suche nach einer feministischen Theorie des Wirtschaftens 543
In memoriam
ILSEGRET FINK Dorothee Sölle (1929 bis 2003) 555
GERHARD GUNDERMANN "Verantwortung für das eigene Produkt". Beitrag zum Kongreß der Unterhaltungskunst, März 1989 557