Geschichtspolitik und Geschichtskultur in einem gespalten vereinten Land

in (06.12.2001)

Die Vergangenheit kann sich gegen ihre Indienstnahme kaum wehren. In groteskem Maße gerät die Geschichtswissenschaft oft in Konfrontation zur öffentlichen Meinung, wenn der ihre Resultate nicht pas

"Noch nie zuvor hat sich eine Zeit, eine Nation, eine Generation so reflektiert und reflektierend mit sich befasst; Geschichtserinnerung [...] Selbstbeobachtung steht hoch im Kurs [...] auch im politisch-intellektuellen Diskurs." 1 Aleida Assmann und Ute Frevert übertreiben keineswegs: In der deutschen Öffentlichkeit entfaltete sich in den neunziger Jahren eine Atmosphäre erhitzter, teilweise überbordender Diskussion über die eigene Geschichte, spezifische Ansätze ausprägend und Begriffe in zentrale Kategorien geschichtsnutzender Praxis erhebend, die zuvor nebenher oder in anderen Wissenschaftsdisziplinen ihren Rang besaßen: Erinnerung, Gedächtnis, "Geschichtskultur", der Zeitzeuge als Quelle ersten Ranges mit dem Selbstanspruch dominanter Aussagekraft - Phänomene, die von einer hochgradigen Individualisierung und Emotionalisierung des Geschichtsbildes und der Geschichtskultur selbst begleitet werden. Sie überlagern nicht selten Rationalität, Sachkenntnis und die Anstrengung um ein begründetes eigenes Urteil. In Öffentlichkeit und Politik wird Geschichte nach dem Regelwerk der Medienwelt "transportiert", "verarbeitet" und zelebriert: Wo Politik selbst - wie ihre Träger meinen - heutzutage erfolgreich nur als "Inszenierung" betrieben werden könne, tritt unvermeidlich an den Platz des Gegenstandes das Spektakel um diesen: Vergröberung, Verzerrung, Dramatisierung, Polarisierung (Freund-Feind-Schemata), Personifizierung von Sachproblemen u. ä. m. Die Vergangenheit, was Geschichte nun einmal ist, kann sich gegen ihre Indienstnahme nicht wehren. Eine Zeit der Hochblüte und (relativer) Effizienz von Geschichtspolitik überflutet das Land. Daß Geschichte als Instrument der Politik dienstbar gemacht wird, um zu legitimieren, zu begründen und zu mobilisieren, ist normal, vorab neutral bewertbar, doch zugleich ambivalent, je nach dem damit verfolgten Ziel und der Art des Umgangs mit ihr. Als Werkzeug der Politik entzieht sich Geschichte in aller Regel dem Historiker, soweit er nicht selbst zum politischen Akteur mit ihr mutiert, er wird "enteignet", primär in der Öffentlichkeit ersetzen ihn Politiker und Publizisten, in speziellen soziokulturellen Milieus bilden sich eigene Geschichtssichten als politische Leitbilder aus. Die Berufshistoriker haben, wenn sie es denn besaßen, längst ein "Monopol" auf den Zugang zur Geschichte verloren, und sie selbst greifen mit ihrer Kompetenz von sich aus wenig in bewegende Diskussionen ein. In geradezu groteskem Maße gerät die Geschichtswissenschaft teilweise sogar in Konfrontation zur dominanten öffentlichen Meinung, wenn diese die Resultate ihrer Arbeit nicht wahrhaben will. Ihr originäres kritisch-aufklärerisches Anliegen droht beständig zwischen den Mühlsteinen der Medien und der Politik zerrieben zu werden. 2

Zum Umgang mit der Geschichte hat sich in der Bundesrepublik im Laufe des zurückliegenden Jahrzehnts der Begriff Geschichtskultur für die Komplexität des "organisierten" Umgangs mit der Geschichte festgesetzt. Über die Geschichtsdidaktik und parallel zur Flut der Erinnerungs- und Gedächtnisdiskussionen in den neunziger Jahren emporgekommen, umschließt er die "praktisch wirksame Artikulation von Geschichtsbewußtsein im Leben einer Gesellschaft"; "die Gesamtheit der Formen, in denen Geschichtswissen in einer Gesellschaft präsent ist" 3 ; die Kategorie öffnet theoretisch Erfahrungsbereiche und legt zugleich "normative Gesichtspunkte der Praxis in diesem Bereich fest". 4 Eine so verstandene Geschichtskultur ist keineswegs wertfrei, gewissermaßen politisch klinisch rein, sondern besitzt neben einer ästhetischen (Kunst, Literatur, Architektur usw.) und einer kognitiven (Geschichtswissenschaft) eine enorm politische Dimension. Denn der Kern der Geschichtskultur, das Geschichtsbewußtsein, umfaßt die individuelle wie kollektive Fähigkeit, "die eigene Lebenssituation in den gesellschaftlich-konkreten Gesamtkontext einordnen zu können, [...] eine kritisch-reflektierende Bewertung der eigenen Position sowohl im zeitlichen Ablauf als auch im sozialen Umfeld. [...] Ein kollektiv geteiltes Geschichtsbewußtsein trägt einen bedeutsamen Teilbereich der politischen Einstellungen und Verhaltensweisen einer Gesellschaft und ist daher Ausdruck der jeweiligen politischen Kultur [...] und schlägt sich in der Ausgestaltung politischer und sozialer Institutionen nieder." 5

Gerade eines ihrer Elemente, die historische Erinnerung, stellt ein wesentliches "Medium" dar, um jeder Form politischer Herrschaft und Praxis eine Legitimation anzubieten: "Sie verankert Erinnerung mental" bis in die Tiefen des Unterbewußtseins hinein, bis zur Ausprägung der eigenen Identität. Politische Herrschaft sucht die Zustimmung der Bürger, indem sie diesen Objekte als "Erinnerungsorte" bietet, Denkmäler, nationale Festtage, die geschichtsträchtig auf gemeinsame, Generationen zurückreichende Ereignisse hinweisen, auf Ursprünge des Gemeinwesens; sie beschwören eine "ursprünglich gestiftete normative Verbindlichkeit" für alle Bürger und sollen vorrangig eine kollektive Identität bewirken. Eine solche Traditionspflege kann eine exzellente Fessel sein, um bestehende Herrschaft auf Dauer einzurichten - oder individuelle wie kollektiv geteilte Erinnerung als aktuelles Handlungsmotiv arrangieren. Eric Hobsbawm resümierte den Zweck mit den Worten: "Die Vergangenheit liefert einen strahlenden Hintergrund für eine Gegenwart, die kaum etwas zu feiern hat." 6

Im Hintergrund des Geschicht"Booms" der letzten Jahre, der im Kontext der gezielten Geschichtspolitik der Kohl-Regierung in den achtziger Jahren steht, kann man die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen ausmachen, welche die deutsche Gesellschaft in den neunziger Jahren durchlief. Es wäre vor allem auf zwei miteinander zusammenhängende komplexe Prozesse hinzuweisen, die sich seit der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten zu einer neuen Bundesrepublik Deutschland vollzogen haben: Zum einen handelt es sich um den Beitritt der DDR zur BRD und ihren sich anschließenden Transformationsprozeß in politischem System, Sozial- und Wirtschaftsordnung nach dem Modell der herkömmlichen Bundesrepublik Deutschland, also um eine Art konstitutioneller, institutioneller und ökonomisch-sozialer "Kolonialisierung", metaphorisch gesagt. Er fand im Ergebnis einer gebrochenen demokratischen Revolution mit nationaler Komponente statt, in deren Gefolge sich im Inneren der Bundesrepublik wesentliche gesellschaftliche Veränderungen vollzogen. Annäherungen für die Ostdeutschen in Infrastruktur, Lebensniveau und Freiräumen an die Alt-BRD werden bis heute begleitet von einer tiefen Spaltung der bundesdeutschen Gesellschaft insgesamt in eine westliche und eine östliche Teilgesellschaft, die neue Konfliktlinien geschaffen hat. 7 Die Masse der Ostdeutschen empfindet sich aus sozialen und mentalen, sozialpsychischen Gründen als "Bürger zweiter Klasse". Sie ist sich von daher einer speziellen deutschen, einer eigenen Ost-Identität bewußt geworden, die mehr oder minder abhebt von den gesellschaftlichen Normen des Alt-Gebietes. "Eigenwilligkeit" gegenüber Anforderungen und Verhaltensregeln aus dem westlichen Landesteil ("Eigensinn der Akteure"), sei es in abweichendem, widerstrebendem realem Verhalten, sei es insbesondere in nachwirkenden Wertevorstellungen aus der DDR, bestimmen das Bild, auch das in ihnen fortlebende ihrer jüngsten "Vor"Geschichte.

Mit diesem Prozeß verkoppelt ist zum anderen, daß mit der gewachsenen Größe und Potenz im Herzen Europas das politische Gewicht der Bundesrepublik durch den Beitritt der DDR international enorm gesteigert worden ist. Sie hatte ihre Rolle in Europa und in der Welt neu zu bestimmen. Ein Denken in den Kategorien der Weltpolitik ohne Wenn und Aber hat in den Bundesregierungen Platz gegriffen, die Teilnahme am Kosovo-Krieg hat zu einer neuen Qualität außenpolitischen Handelns geführt. 8 Die Absage an einen moralischen Gründungskonsens des Staates wie "Nie wieder Krieg!" konfrontiert die Bundesrepublik mit der geschichtlichen Rolle Deutschlands seit dem Ende des 19. und vordringlich des zwanzigsten Jahrhunderts, denn sie scheut den Anschein eines Kontinuums deutscher Machtpolitik. Mehr denn je besitzt daher die Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit des Landes nicht nur eine selbstreinigende innere, sondern ist auch eine nach außen gerichtete Funktion ihrer demokratischen und friedliebenden Glaubwürdigkeit; Themen wie der Holocaust, das lange klein geredete Aufkommen von Rechtsextremismus oder die Entschädigung von Zwangsarbeitern geraten unmittelbar zu einem Vertrauenstest deutscher Politik.

Namentlich diese beiden Faktoren erklären - neben allgemeinen kulturellen Bedürfnissen -, warum die Bundesrepublik schon auf den ersten Blick zu einem Land der intensiven öffentlichen Arbeit an der Geschichte, der Erinnerungsdiskussionen geworden ist. 9 Hinzu tritt der Verlust des bis dahin übergreifenden Bezugspunktes der Zeitgeschichte für die Ausprägung eines aktuell wirksamen Geschichtsbildes: Mit dem Untergang des europäischen Staatssozialismus ist die Bundesrepublik auf sich selbst zurückgeworfen, ihr fehlt der ideologische Widerpart, eine Neufindung steht an. Insbesondere von konservativer Seite wachsen dabei die bereits in der Ära Kohl verstärkten Tendenzen, die Geschichte Deutschlands als die einer "normalen Nation" zu zeichnen, sie von permanentem "Schuldgefühl" und Minderwertigkeitskomplexen zu befreien und ihr neues Selbstvertrauen, nationalen Stolz und Selbstbewußtsein in einem sich vereinigenden Europa einzuflößen.

Der politisch-intellektuelle Diskurs auf dem Feld der deutschen Geschichte vollzieht sich unter diesem Blickwinkel in zwei Hauptsträngen.

Ersterer bewegt sich um die Verständigung zu elementaren nationalen Problemen aus der Zeitgeschichte. In der Geschichtswissenschaft verheißt dies eine Neudeutung des geschichtlichen Weges Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert - "Deutschlands langer Weg nach Westen" (was an sich nicht originell ist) - und modifizierte Sichten auf die "Erfolgs"-Geschichte der BRD bis 1989. Dies wird auch beeinflußt durch einen Generationenwechsel mit dem Ausscheiden derjenigen, die das Dritte Reich noch persönlich bewußt erlebt haben, die ihr Selbsterlebnis dem geschichtlichen Rückblick zu Grunde legten und mit mangelnder Distanz urteilten. Historiker wie Rezipienten von heute gehören zunehmend zu einer Generation, die Faschismus nicht mehr unmittelbar und bewußt erfahren hat und unbefangen, ohne Rücksicht auf eine eigene Verstrickung urteilen kann. Es nimmt daher nicht wunder, daß wir ähnliche Aufbrüche und Konflikte auch in anderen Ländern finden, wo ebenfalls politische und wissenschaftliche Akteure aus der unmittelbaren Beziehung zu Mythen der nationalen Vergangenheit heraustreten (Frankreich, Israel, Polen, Niederlande).

In den Auseinandersetzungen um die Relevanz von Problemen in der jüngsten deutschen Geschichte ragten öffentliche Auseinandersetzungen heraus wie: die Goldhagen-Debatte um die Verwurzelung des Antisemitismus in der deutschen Geschichte; sie nahm ein öffentliches Ausmaß an, das konträr zum wissenschaftlichen Wert des Buches stand; der jahrelange, ausufernde Streit um ein zentrales Holocaust-Denkmal in Berlin; die hitzigen Debatten zur Rede Martin Walsers bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1998, in der ein gewisser Überdruß am Gegenstand Holocaust und Befürchtungen über seine politische Instrumentalisierung und Strapazierung zum Ausdruck kamen; die kurze, doch intensive Aufregung um das Buch Finkelsteins über die "Holocaust-Industrie", mit dem durch den Angriff auf "Schmarotzer" in den Institutionen der Holocaust- Ehrung diese gewissermaßen ihrer moralischen Unschuld beraubt werden sollten; die Ausstellung des Hamburger Reemtsma-Instituts über den Vernichtungskrieg der deutschen Wehrmacht. 10

Solche Kampagnen der "Geschichtsbesessenheit" werden begleitet von einer Flut gut besuchter Ausstellungen, historischen Filmen, Fernsehserien und zahlreichen geschichtlichen Themen in der Presse und in politischen Magazinen. Die Medien sprechen von einer "Inflation des Gedenkstättenwesens" (Götz Aly). Inzwischen werden 2000 Gedenkstätten gezählt, die sich mit den Verbrechen der Nazizeit befassen, namentlich KZ-Gedenkstätten, wobei ihre inhaltliche Ausrichtung häufig umstritten ist.

Der Holocaust wurde in diesem Prozeß gewissermaßen als neuer Gründungsmythos des eigenen Staates eingesetzt. Es gehört zu den ironischen Konstruktionen historisch-politischen Handelns, daß an seinem Beginn ein entliehenes Datum dafür herhalten mußte: der 17. Juni 1953; der Tag des Arbeiteraufstands in der DDR wurde als Symbol des Einheitswillens und des Widerstands gegen ein totalitäres Regime benutzt. Heutzutage ist er in das Gezerre um einen "gemeinsamen" Nationalfeiertag geraten.

Zum anderen und parallel zu dieser Seite der Renaissance des öffentlichen historischen Diskurses in der Bundesrepublik verläuft die mit der politischen und ideologischen Abrechnung verbundene historische Aburteilung der DDR als Staat und in ihrer gesellschaftlichen Verfassung. Sie ist verwoben mit den Anstrengungen der geschilderten Art, dem neuen Staatsgebilde eine historisch fundierte Gesamtidentität seiner Bürger zu beschaffen, indem die DDR aus dem Lauf der Geschichte als ein mißlicher Abweg disqualifiziert und letztlich ausgeblendet wird, und richtet sich vorrangig direkt und gezielt nach innen: auf das Selbstverständnis und die Selbstbewertung des eigenen Lebensweges und der eigenen Lebenserfahrung der Bürger in der früheren DDR. Deren eigene Werteordnung wird in Frage gestellt, so daß in breiter Linie Abwehrreaktionen der "Ost"-Bevölkerung hervorbrechen. Jeder Sozialpsychologe würde sich wundern, blieben diese als Antwort auf die mediale und politische Pauschalität der Verurteilung von Verhältnissen aus, in denen man in existenzieller Sicherheit lebte. Dieser Strang des Geschichtsdiskurses tritt in der nationalen allgemeinen Öffentlichkeit nicht als thematischer Diskurs wie bei den oben genannten Themen auf, sondern vollzieht sich überwiegend in wechselnden Wellen nach aktuellen Anlässen über die Medien und politisch-institutionell wie -personell; er durchdringt jedoch, aus einer Grundhaltung rührend, wesentlich die Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit in den neuen Bundesländern.

Die skizzierte Zweiseitigkeit des Geschichtsdiskurses in der Bundesrepublik Deutschland von heute spiegelt den Umstand wider, daß wir vor einer gespaltenen Geschichtskultur stehen. Sie ist vielschichtiger als üblich: Zu den Spielarten konservativer, liberaler und linker Ausrichtung gesellen sich die spezifischen Nachwirkungen der Geschichtskultur aus der DDR und aus der alten Bundesrepublik. Zwei sehr unterschiedliche Arten der Institutionalisierung und der Instrumentalisierung von Geschichte sehen sich unter einem Dach miteinander konfrontiert. 11

Die Geschichtswissenschaft in der DDR unterlag der unverhüllten politischen Zweckbestimmung und ideologischen Steuerung durch Beschlüsse und Direktiven der SED-Führung bis hin zur staatlichen Disziplinierung des einzelnen Historikers. Er sollte Wissenschaft, Propaganda und politische Agitation gleichermaßen betreiben. Der Begriff der "verwalteten" Geschichtswissenschaft (Martin Sabrow) umreißt diesen Zustand alles in allem einigermaßen, wenn man die Drangsalierungen von Historikern und diejenigen unter ihnen einbezieht, die sich als Werkzeug anboten. 12 An diesem prinzipiellen Status ändert nichts, daß Unterschiede in der Einmischung der Abteilung Wissenschaft des ZK der SED und im Spielraum der Historiker außerhalb der Zeitgeschichte und der Geschichte der Arbeiterbewegung bestanden oder daß dennoch aus vielen Bereichen international beachtete Leistungen sprossen. Die SED betrieb ihre Vergangenheitspolitik unter dem Diktum einer- selbst von Lenin anders verstandenen -"Parteilichkeit" als ganz unbekümmerter Bindung an ihre aktuellen Bedürfnisse und Anweisung wissenschaftlicher Richtungswechsel. Dank dem ideologischen Monopol dominierte für jedermann sichtbar ein einheitliches, universales Geschichtsbild, Richtschnur jeder Diskussion und nicht minder der Medien. Nicht nur die Historiker gewöhnten sich daran, teils überzeugt, teils wenigstens verbal dies als Rahmen anerkennend, auch viele Rezipienten wünschten schließlich das eine orientierungsklare Geschichtsbild. Daher verwundert es nicht, wenn heute in so mancher Geschichtsdiskussion in den neuen Bundesländern bedauert wird, daß es "noch immer nicht" eine einheitliche verbindliche Sicht auf die Geschichte gebe. Der Druck der SED-Führung erzwang ein spezifisches Wissenschaftsverständnis, in dem die Unterordnung wissenschaftlicher Erkenntnis unter die Bedürfnisse der Politik, "Parteilichkeit" im stalinistischen Sinne selbstverständlich normativ zu befolgen war, weil sie als "wahre" Wissenschaft empfunden wurde, man Professionalität mit dieser Art "Wissenschaftlichkeit" auf Feldern wie der Zeitgeschichte und der Geschichte der Arbeiterbewegung zu vereinen suchte.

Die SED-Führung betrachtete die DDR als rechtmäßigen Erben alles "Positiven" in der Geschichte Deutschlands und deklarierte sie ohne jeden inneren Zweifel bis Mitte der achtziger Jahre als den "Sieger der Geschichte". Der Gründungsanspruch der DDR, der prononcierte Antifaschismus, mit dem die gesellschaftlichen Umwälzungen und der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft politisch-historisch begründet wurden, ermöglichte einen gesellschaftlichen Neubeginn. Die alsbald erfolgende einseitig verengte und formalisierte Ausrichtung unter dem Einfluß einer stalinistisch indoktrinierten Gesellschafts- und Politikauffassung schränkte dies sinnwidrig ein, rückte den Antifaschismus ins Reich der politischen Rituale und Symbolik und wurde sinnwidrig mißbraucht für politische Entscheidungen - doch im Kern blieb er eine Konstante politischen Empfindens vieler Bürger bis heute.

Der Geschichtskultur in der DDR stand mit der Vereinigung eine ganz verschiedene in der BRD gegenüber. 13 Die Geschichtswissenschaft bestimmte dort in vorwiegend subtiler Weise in einem weitgehend offenen und öffentlichen Prozeß der Selbstfindung ihre wissenschaftlichen Orientierungen, Ergebnisse und gesellschaftliche Rolle hinreichend autonom. Eine verordnete Geschichtsauffassung auf der Grundlage einer exklusiven "Weltanschauung", mit dem einen und einzigen wahren Geschichtsbild, fehlte, obzwar sich stets vorherrschende Sichtweisen herausbildeten und der Geschichtsunterricht nach staatlichen Rahmenplänen vereinheitlichend wirkte. Bei allem weltanschaulichen und politischen Pluralismus lieferte das Grundgesetz im Prinzip den Wertekanon für die Beurteilung der Vergangenheit, das fundamentale Gründungsanliegen der Bundesrepublik: Aufbau eines Gemeinwesens gemäß der westlichen Werteskala des Pluralismus und der repräsentativen parlamentarischen Demokratie und das Streben nach Wiederherstellung der Einheit Deutschlands. Mit ihm verband sich bis in die Mitte der sechziger Jahre eine Art Flucht aus der Nazizeit. Wie lange die Verdrängung überwog, erweist sich schon daran, daß im Bundestag erstmals am 8. Mai 1970 eine Aussprache über die Kapitulation Deutschlands und ihre Wertung stattfand. 14 Unter den Bedingungen einer "offenen" Gesellschaft konnten die Historiker ein Wissenschaftsverständnis ohne politisch konditionierte Normierung umsetzen - auch wenn sich nicht jeder daran hielt. 15

Aus den Differenzen in den Normativen und Regeln der beiden Geschichtskulturen und der unterschiedlichen Typen ihrer Träger ergaben sich die Verschiedenheiten in der Geschichtspolitik seit der Vereinigung. Der tatsächliche "Sieger der Geschichte" benutzte diese selbstverständlich zur Legitimierung seines Erfolgs in entschlossener und zeitweise extremer Weise.

Die Kohl-Regierung trat mit dem Anspruch auf, die DDR historisch zu delegitimieren, sie frontal als Irrweg der Geschichte, als einen Dauer-"Knast" (R. Eppelmann) und Unrechtsstaat zu verteufeln, ohne zu beachten, daß die unbedingte Mehrzahl der Bürger aus der DDR darin positive Lebenserfahrungen und Werte erlebte, die in schroffem Kontrast zu ihren gegenwärtigen negativen alltäglichen Erfahrungen mit der bundesdeutschen Werteordnung stehen. Die Einsetzung von nacheinander zwei Enquête-Kommissionen des Bundestages zur Erarbeitung eines offiziellen Geschichtsbildes der DDR war der fatalste Schritt auf diesem Wege einer massiven "Teufelsaustreibung". Zum ersten Male in der deutschen Geschichte verabschiedete ein Parlament ein geschlossenes Konzept amtlicher Bewertung eines ganzen Abschnitts der Geschichte. 16

Inzwischen wurde - schon mit dem Ende der zweiten Enquête-Kommission 1998 - von der Bundespolitik ein gewisser Rückzug angetreten: Immer wieder bekundeten in den letzten zwei, drei Jahren Politiker aus CDU/CSU, SPD, F.D.P. und der Partei der Grünen den Bürgern aus der DDR Respekt für ihre Lebensleistung in dieser Zeit. Diese Schlußfolgerung ergab sich mit dem wachsendem Abstand vom Ende der DDR und mit der Einsicht in einen kontraproduktiven Irrtum: Man könne mit der penetrant wiederholten Akzentuierung des Gegensatzes von Diktatur und Demokratie die DDR als Ganzes abwerten und in der Öffentlichkeit eine Gleichartigkeit mit der Nazidiktatur mal mehr, mal weniger unterstellen. Der Kontrast zur Alltags- und Lebenserfahrung der meisten DDR-Bürger erwies sich als zu kraß.

Neben der Geschichtspolitik der Bundesregierung und der Altparteien des Bundestages bebaut in den neuen Bundesländern die PDS als starke politische Kraft das Feld der Geschichtskultur. Die früheren Inhaber der Geschichtslehrstühle an den Universitäten, meist Mitglieder der SED, sind alsbald überwiegend durch Historiker aus der Alt-Bundesrepublik ersetzt worden 17 , und frühere Parteiinstitute stehen natürlich nicht mehr zur Verfügung. Die wissenschaftliche Forschung und Publikationstätigkeit erfolgt überwiegend außerhalb der etablierten wissenschaftlichen Institutionen, sie wird getragen von parteinahen Stiftungen und - oft neben ihrem Lebenserwerb - von früheren Mitarbeitern wissenschaftlicher Einrichtungen. Gemessen an diesen Umständen, liegt von ihnen eine erstaunlich reichhaltige Literatur zur Geschichte der DDR, der KPD, der SED, zu Sozialismus und Stalinismus vor. Einige Autoren haben mit ihren Publikationen den Weg in die breitere Öffentlichkeit und fachliche Anerkennung gefunden, die Mehrheit wird ignoriert, und dies in einem Umfange, wie es von der Qualität und von ihrer wissenschaftlichen Bedeutung her nicht gerechtfertigt ist. Ähnlich ergeht es in gewisser Weise auch der kritischen DDR-Forschung von seiten der PDS. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der DDR und den eigenen Wurzeln hat daher in erheblichen Maße eher eine innere, auf die Partei selbst gerichtete Funktion, als eine in die Gesellschaft hinein. Ihre Wirkung in der Gesellschaft ist daher noch geringer, als sie schon normalerweise wäre, in der öffentlichen Aufmerksamkeit steht sie hingegen auf Schritt und Tritt.

Die PDS trat ihren Weg mit eindeutiger Absage an Stalinismus und mit fundamentaler Kritik am DDR-Sozialismus an und bekennt sich dazu geschichtspolitisch. Ihre Führung drängt auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem gescheiterten Sozialismusmodell, lehnt allerdings - politisch wie wissenschaftlich zu Recht - eine Reduzierung der DDR auf ihr politisches System ab. Sie will sie in der Komplexität von Staat und Gesellschaft in einem integrativen und komplexen Horizont untersucht sehen; betrachtet sie nicht als politisches Leitbild (allenfalls könne man aus ihr gewisse soziale Elemente und Normen übernehmen); sie hält eine Entwicklung hin zu einem demokratischen Sozialismus für einen offenen, nicht für einen "gesetzmäßigen" Prozeß.

Die Führung der PDS vertritt zudem ein dem der SED entgegengesetztes Wissenschaftsverständnis, das die Autonomie auch einer so politischen Wissenschaft wie der Geschichte gewährleistet und kein parteiamtlich verbindliches Geschichtsbild verhängt. Da die Indoktrination statuarisch obsolet, kann in der PDS eine solch breite und intensive Geschichtsdiskussion in ihren eigenen Reihen über die Fundamente ihres Geschichts- und Politikverständnisses und die eigene (Vor-)Geschichte stattfinden, wie sie keine andere Partei der Bundesrepublik aufweist. Natürlich resultiert dies sachlich und ideologisch aus dem Scheitern der SED, aus der die PDS hervorgegangen ist, und aus dem Untergang eines perspektivlosen "Grundmodells" von Sozialismus wie dem sowjetischen, das die SED-Spitze noch zu erhalten trachtete, als es in der UdSSR bereits in Auflösung begriffen war. Die PDS und andere linke Gruppierungen, die nach der Verabschiedung des SED-Parteimodells und -Sozialismuskonzepts entstanden sind, fanden sich nach dem großspurigen Anspruch der SED auf das Podest des Siegers der Geschichte in der Grube des Besiegten wieder - ein quälender Grund, über die Ursachen des Absturzes und dessen Folgen für die Menschen, für die man verantwortlich war, bis an die Wurzeln gehend nachzudenken. Der exzellente Geschichtsdenker Reinhard Koselleck meinte optimistisch, "die historischen Erkenntnisgewinne stammen - langfristig - von den Besiegten Â… [Denn:] Die Erfahrung des Besiegtwerdens enthält Erkenntnischancen, die ihren Anlass überdauern, gerade wenn der Besiegte genötigt ist, wegen seiner eigenen auch die übergreifende Geschichte umzuschreiben." 18

Im politischen Leben hat sich allerdings immerfort gezeigt, daß dazu der Besiegte sich selbst noch einmal überwinden und aus dem ohnehin empfindlichen Schneckengehäuse der Selbstgerechtigkeit hinausschlüpfen muß. Für die PDS haben sich für einen solchen Erkenntnisprozeß zwei gravierende ideologische und politisch-praktische Schranken herausgestellt: die jahrzehntelange intensive Prägung der Mitgliedschaft durch die stalinistische Version des Marxschen Denkens, ohne daß in der Breite eine tiefere Vertrautheit mit dem Marxschen Denken gelungen wäre; und die mentalen politischen Auswirkungen der Verwerfungen im deutschen Vereinigungsprozeß.

Trotz kritischer und produktiver Nachdenklichkeit vieler hat ein beträchtlicher Teil der Mitgliedschaft weder das deterministische Geschichtsmodell, noch nostalgische Haltungen zur DDR überwunden. Statt zu erwartender historisch-materialistischer Sichtweise tauchen hin und wieder Verschwörungstheorien auf, die den Untergang der DDR auf Verrat oder ein Komplott Gorbatschows mit Bush und Kohl zurückführen; etliche Theoretiker weigern sich, in der DDR strukturelle, systembedingte Defizite als Wurzeln des Scheiterns zu nennen - gleichwohl, ob sie es für politisch "inopportun" halten (was nicht Sache der Geschichtswissenschaft wäre) oder sich ein ältliches Muster als Option reservieren wollen. Wie sie dies und den daran angesetzten Voluntarismus mit dem proklamierten Anspruch auf Marxismus vereinbaren können, macht neugierig. Unter diesen Umständen ist in der PDS ein Streit um den Charakter des politischen Systems der DDR und den historischen Platz des "Realsozialismus" wenn nicht gerade immer virulent, so doch latent anzutreffen. Daß dabei ein analytisch orientierendes Beschreibungsmodell wie die Totalitarismustheorie pauschal ein heftiger zentraler Angriffspunkt ist und ohne hinreichende Sachkenntnis und Prüfung verworfen wird, liegt auf der Hand.

Hinzu tritt das unreflektierte Selbstverständnis vieler, als "Zeitzeuge" aus erster Hand kundig zu sein. Gewiß, die eigene Erinnerung kann niemandem geraubt werden. Der Historiker freilich wird geradezu zwanghaft geplagt von Skrupeln und Zweifeln gegenüber der "Erinnerung" von Zeitgenossen, die selbst Funktionsträger, Träger von Macht in der von ihnen bewirkten Geschichte waren und nun über sich selbst historische Urteile mit unbedingtem Wahrheitsanspruch fällen. Der Historiker ist den Regeln der Quellenkritik und -interpretation verpflichtet, er weiß um die punktuell aufschlußreiche oder gar einzigartige Aussagekraft einer derart subjektiven Quelle, allerdings ebenso um deren Fragwürdigkeit und Begrenztheit. Selbst bei "gutem Willen" des Erinnernden - was ja auch meistens nichts anderes als eine Form eigenen Freispruchs ist - trügt die Erinnerung, weil das Gedächtnis sie, situativ beeinflußt, immer wieder neu schreibt. 19 Die größten Mühen bereitet offensichtlich die Einsicht, daß der Erlebnishorizont des einzelnen und der Erklärungshorizont des Historikers auseinander fallen. Wenn dann noch deren Darstellungen und Interpretationen verdächtigt und als "Geschwätz" abgetan werden, sind warnende Grenzschilder eines internen Diskurses erreicht.

Die Partei ist jedoch ihren vorwiegend älteren Mitgliedern gegenüber verpflichtet, moralisch: denn sie sind aufrechte Sozialisten, so wie sie es verstehen; und praktisch: da sie ungeachtet ihrer eventuell fortwirkenden ideologischen Vorbehalte in der alltäglichen politischen Arbeit als die aktivsten gelten. Zudem halten sich im Denken der ostdeutschen Wählerschaft Elemente wie: eine positive Einstellung zur Idee des Sozialismus selbst (über 70 Prozent), der Vorrang sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit vor "Freiheit", Zweifel an der Fähigkeit der parlamentarischen Demokratie zur Lösung der gesellschaftlichen Probleme (zwei Drittel); Demokratisierung der Wirtschaft; Verringerung der Einkommensunterschiede; stabile Beschäftigung und sichere Renten und ähnliches mehr. 20 Eine Allensbach- Umfrage Ende 1997 ergab, daß zwei Drittel der Ostdeutschen meinten: "Eigentlich war es eine schöne Zeit in der DDR". 21

So steht die Geschichtspolitik der PDS permanent vor einem mehrfachen Spagat: Sie muß um ihres Bestehens als politischer Kraft willen die radikale, an die Wurzeln packende Auseinandersetzung mit der SED- und DDR-Geschichte verbinden mit der Verteidigung gegen eine unhistorische und verzerrende Totalverurteilung der DDR und mit der Berücksichtung der Stimmungen in Mitgliedschaft und Wählerschaft. Zugleich nähern sich in der Geschichtswissenschaft Historiker aus dem PDS-Feld und nicht wenige Historiker aus der Alt-BRD in ihren Auffassungen und Sichtweisen an, ohne Schaden für Wissenschaft oder Politik. Da die Marxsche historische und soziologische Methode ohnehin in der modernen Historiographie präsent ist, merkt man manch einem Buch auf den ersten Blick seine Herkunft nicht an - sondern erst bei spezifischen Aspekten und Sichten. (Im übrigen gilt dies ähnlich für manch eine Veröffentlichung unter der Formel "eine marxistische Analyse" - man ahnt zuweilen "Marxismus" erst an Sprache und Terminologie.)

Während unter den Historikern in der PDS und deren Umfeld sich die internationalen Regeln des wissenschaftlichen Diskurses und des Umgangs mit den Quellen durchgesetzt haben, sind öffentliche Diskussionen in Medien und Veranstaltungen weitgehend den Nachwirkungen des tradierten Geschichtsbildes, der Unterwerfung unter den "Nutzen" für die "Politik der Partei" und den exzessiven Merkmalen des politischen Meinungsstreits unsäglicher Erinnerung verhaftet. Die klassische Figur des "objektiven Gegners" (Hannah Arendt), der mit jedem Worte lügt und verfälscht, dem man von vornherein nicht glaubt, folglich mit ihm sachlich nicht diskutiert, sondern ihn "entlarvt", hält sich hartnäckig und behindert oder unterdrückt gar nebenher das allzu oft zitierte "Lernen aus der Geschichte". Nicht wenigen scheint es in solchen Debatten mehr um die politisch-ideologische Abwehr eines wolkigen "Klassengegners" als um eigene Einsichten, Erkenntnisse oder Schlußfolgerungen zu gehen. Aber die Freund-Feind Schemata sind nicht nur für die PDS eine Plage!

In unverkennbarem Widerspruch zur Verneinung eines verbindlichen Geschichtsbildes präsentiert das geltende Parteiprogramm jedoch ein (partielles) Geschichtsbild. Der historische Exkurs ist wohl nur "historisch" zu erklären (Tradition, Erklärungs- und Wertungsbedürfnis), auf die Dauer gesehen indessen in dieser Form ohne Strafe unhaltbar, weil er im Widerspruch zum "weltanschaulichen" Pragmatismus und zur Pluralität der Partei steht und die geschichtswissenschaftlich tätigen Mitglieder bevormundet. Die Historische Kommission beim Parteivorstand der PDS empfiehlt wohlbedacht, die Aussagen in einem neuen Programm auf ein "Grundverständnis von Geschichte überhaupt", "ein maßsetzendes Verständnis von Geschichte" zu beschränken und die PDS als Partei von der "Warte" her zu bestimmen, "Teil einer der großen, weit in die Geschichte zurückreichenden Ströme" des antikapitalistischen Kampfes zu sein. 22 Damit wäre ein intensiver Diskurs über Theorien und Realitäten der Zeitgeschichte und ihr wissenschaftlich begründeter politischer Gebrauch erleichtert, weil nicht programmatisch - ergo verbindlich - vorgegebene Urteile im Wege stehen würden.

Auch an der Geschichtspolitik der PDS offenbart sich die Ambivalenz jeder der Historie bedürfenden symbolischen Politik. Sie liegt in erster Linie in der zwiespältigen Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik selbst. Geht es in der Wissenschaft um Erkenntnis, handelt es sich in der Politik um Macht. 23 Nun in Umkehrung aller rationalen Abwägung den Wahrheitsgehalt der eigenen Politik herauszustreichen, um ihren "Anspruch auf Realisierbarkeit" zu belegen und sich selbst dergestalt als Träger der "Wahrheit" zu präsentieren 24 , folgt einem fatalen voluntaristischen ideologischen Schema. Überhaupt scheint im Kontext der Geschichtsdebatten in der PDS im Jahr 2001 "historische Wahrheit" zu einem bevorzugten Slogan politischer Selbstlegitimation geworden zu sein, selbst wenn man sie mit Tatsachenverdrehungen paart. 25 Doch die Geschichtswissenschaft kann so oder so wie jede andere Wissenschaft nicht die Entscheidungen der Politik "legitimieren", sondern nur "in Kenntnis der Umstände, der prognostizierbaren Folgen und Nebenfolgen" ein Angebot machen, über das die Politiker entscheiden müssen - und es ja auch wollen. 26 Herren über die öffentliche Geschichtskultur bleiben sie damit immer noch.

Ernst Wurl - Jg. 1933; Dr. sc. phil, Historiker und Politikwissenschaftler, lebt in Leipzig; zuletzt in UTOPIE kreativ: "Die politische Utopie bei Fritz Behrens" (Nr. 77, März 1997).

1 Aleida Assmann, Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit - Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999, S. 11.

2 Vgl. zu diesem Komplex die informativen Ausführungen bei Hans Günther Hockerts: Zugänge zur Zeitgeschichte: Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zu Das Parlament, Bonn 51(2001)28, S. 15-30.

3 Wolfgang Hardtwig: Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. 8.

4 Jörn Rüsen: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken, in: Klaus Füßmann, Heinrich Theodor Grütter, Jörn Rüsen (Hg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute, Köln, Weimar, Wien 1994, S. 11. Seine zusammenfassende Definition lautet: "Geschichtskultur ist [...] die durch das Geschichtsbewußtsein geleistete historische Erinnerung, die eine zeitliche Orientierung der Lebenspraxis in der Form von Richtungsbestimmungen des Handelns und des Selbstverhältnisses seiner Subjekte erfüllt." Ebd. S. 20.

5 Felix Philipp Lutz: Geschichtsbewußtsein, in: Werner Weidenfeld, Karl-Rudolf Korte (Hg.): Handbuch zur deutschen Einheit 1949 - 1989 - 1999. Neuausgabe 1999, Bonn 1999, S. 392.

6 Eric Hobsbawm: Wieviel Geschichte braucht die Zukunft? München 1998, S. 18.

7 Vgl. summarisch Rolf Reißig: Die gespaltene Vereinigungsgesellschaft. Bilanz und Perspektiven der Transformation Ostdeutschlands und der deutschen Vereinigung, Berlin 2001.

8 Vgl. u. a. Christian Hacke: Weltmacht wider Willen. Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1993; Hans-Peter Schwarz: Die Zentralmacht Europas. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, Berlin 1994; Karl Kaiser, Hans Peter Schwarz (Hg.) unter Mitarbeit von Sven Olaf Berggötz und Petra Holtrup: Weltpolitik im neuen Jahrhundert, Bonn 2000.

9 Siehe dazu: Reinhard Rürup: Ideologisierter Holocaust? Was Norman Finkelsteins Vorwurf für die deutschen Gedenkstätten bedeutet, in: Die Zeit, Hamburg, Nr. 34 v. 17. 8. 00, S. 34.

10 Siehe Hans Günther Hockerts: Zugänge zur Zeitgeschichte, S. 19 f.

11 Siehe dazu und zum folgenden vergleichsweise Thomas E. Fischer: Geschichte der Geschichtskultur. Über den öffentlichen Gebrauch der Vergangenheit von den antiken Hochkulturen bis zur Gegenwart, Köln 2000, S. 169-212; Felix Philipp Lutz: Das Geschichtsbewußtsein der Deutschen. Grundlagen der politischen Kultur in Ost und West, Köln, Weimar, Wien 2000, S. 68 passim; Hans Steußloff: Zur Identität der Ostdeutschen. Merkmale und Tendenzen eines Phänomens, Berlin 2000.

12 Aus der inzwischen reichhaltigen Literatur sei nur verwiesen auf: Martin Sabrow: Die Diktatur des Konsenses. Geschichtswissenschaft in der DDR, München 2001; Ders.: Geschichte als Herrschaftsdiskurs. Der Umgang mit der Geschichte der DDR, Köln, Weimar, Wien 2000; Ders.: Verwaltete Vergangenheit. Geschichtskultur und Herrschaftslegitimation in der DDR, Leipzig 1997. Georg G. Iggers, Konrad H. Jarausch, Matthias Middell, Martin Sabrow (Hg.): Die DDR-Geschichtswissenschaft als Forschungsproblem, München 1998. Historische Zeitschrift. Beihefte. NF; Bd. 27 Lothar Steinbach: DDR-Historie zwischen Wissenschaftlichkeit und Politik. Anmerkungen zu unterschiedlichen Forschungsansätzen und kontroversen Bewertungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zu Das Parlament, Bonn 48(1998)45, S. 31 - 44.

13 Siehe die umfassende und kritische Darstellung bei Edgar Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1945- 1989, Darmstadt 1999. Weiterführend über 1989 hinaus: Ders.: Geschichte als Waffe. Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung, Göttingen 2001.

14 Vgl. Helmut Dubiel: Niemand ist frei von Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestags, München 1999.

15 Siehe Martin Sabrow: Der Untergang der DDR und die Historiker, in: Martin Sabrow (Hg.): Grenzen der Vereinigung. Die geteilte Vergangenheit im geeinten Deutschland, Leipzig 1999, S. 67-70.

16 Ungeachtet ihres politischen Charakters enthalten die Abschlußberichte im Einzelfall akzeptable Aussagen, namentlich die Materialien dazu bieten wissenschaftlich Wertvolles. Die Fatalität liegt im politisch verordneten Geschichtsbild.

17 Vgl. u. a. Dokumente gegen Legenden. Chronik und Geschichte der Abwicklung der MitarbeiterInnen des Instituts für Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 1996.

18 Reinhard Koselleck: Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthropologische Skizze, in: Christian Meier, Jörn Rüsen: Historische Methode, München 1988, S. 52 f.

19 Vgl. dazu den Vortrag Wolf Singers auf dem 43. Deutschen Historikertag in Aachen (September 2000): Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Nr. 226 v. 28. 09. 2000, S. 10. Exemplarisch ferner: John Kotre: Der Strom der Erinnerung. Wie das Gedächtnis Lebensgeschichte schreibt, München 1995.

20 Elisabeth Noelle-Neumann: Die Deutschen haben die Probe als Nation bestanden. Die Wiedervereinigung ist aber noch nicht abgeschlossen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27. 9. 2000.

21 Dies.: Eigentlich war es eine schöne Zeit. Überzeugungen, Werte und Ziele der DDR-Zeit sind gespenstisch konserviert, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 10.12. 1997, S. 5. Zurück in die DDR strebten allerdings nur sechs Prozent.

22 Zum Wechselverhältnis von Programmatik und Geschichte. Wortmeldung von Vertretern der Historischen Kommission der PDS vom 14. 3. 2000, in: ww.pds-online.de/ programmdiskussion/ dokumente/0003/ historiker.htm Datum: 24. März 2000; ähnlich Jürgen Hofmann: Geschichte ins Programm? In: Neues Deutschland, Berlin v. 30. 9. 2000.

23 Hannah Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Hrsg. v. Ursula Ludz, München, Zürich 1994, S. 333, 364.

24 Herbert Münchow: Kann Politik wahr sein? in: Mitteilungen der Kommunistischen Plattform, Berlin v. Januar 2000. (http://www.pds-online.de/ kpf-mitteilungen/ 0001005.htm)

25 Ein Beispiel: So heißt es in der Erklärung des Berliner alternativen Geschichtsforums "Wahrheit und Geschichte" vom 7. August 2001: Am 13. August 1961 "übte [die DDR] lediglich das jedem souveränen Staat nach Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen zustehende Selbstverteidigungsrecht aus." (junge Welt v. 8. 08. 2001) Der Artikel 51 bindet dies im anschließenden Konditionssatz ausdrücklich und ausschließlich an einen bewaffneten Angriff auf ein Mitglied der Vereinten Nationen. Siehe Helmut Stoecker (Hg.) unter Mitarbeit von Adolf Rüger: Handbuch der Verträge 1871-1964, Berlin 1968, S. 367.

26 Jürgen Habermas: Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Frankfurt am Main 1982, S. 37-39.