Jugend 2002

Ungleichheit der Zukunftschancen

in (11.11.2002)

Der Schwerpunkt der diesjährigen Shell-Jugendstudie, in der eine repräsentative Befragung von 2.500 Jugendlichen im Alter von 12 bis 25 Jahren die Datenbasis bildet, ...

... liegt bei der Erfassung der politischen Einstellungen und des politischen Engagements Jugendlicher in Deutschland.[1] Im 2. Teil der Studie, auf den in diesem Artikel nicht näher eingegangen werden soll, werden 20 Jugendliche, die sich besonders mithilfe des Internets politisch engagieren, ausführlich porträtiert.
Jenseits spektakulärer Medienschlagzeilen und der entsprechenden kulturkritischen Schuldzuweisungen der Erwachsenenwelt an die Jugend, wie sie in der Rezeption der Studie durch die Presselandschaft geisterten, ist es verdienstvoll und nützlich, in regelmäßigen Abständen Daten zur Lebens- und Bewusstseinsverfassung der nachrückenden Generation in Deutschland zu erheben und miteinander zu vergleichen.

Die besondere Lebenssituation der Jugendlichen als - in der Mehrzahl - zukünftige ArbeitnehmerInnen und StaatsbürgerInnen zu untersuchen, kann wichtige Erkenntnisse für die Gesellschaft liefern. Das gilt allerdings nur dann, wenn die Bewusstseinslagen, Wertorientierungen und Einstellungen der Jugendlichen vor dem Hintergrund der besonderen Lebenslage dieser Altersgruppe als Schülerinnen, Auszubildende oder junge ArbeitnehmerInnen untersucht werden.

Jugend 2002 braucht Virtuosität

"Die Spielräume für die Selbstbestimmung des Verhaltens und die Selbstorganisation der Persönlichkeit sind nach Auffassung der meisten Jugendforscherinnen und Jugendforscher im Verlauf der letzten Jahrzehnte deutlich gestiegen." /33/ Frühe Partizipation am Konsumgütermarkt, früher und erweiterter Zugriff auf moderne Kommunikationsmittel, schwindender Einfluss von Eltern, Erziehern und Schule führen dazu, dass sich diese Spielräume für die Jugendlichen immer früher eröffnen, was ihnen aber zugleich auch sehr viel mehr abverlangt: "Die Fähigkeit zu einer reflexiven Selbstkontrolle ist in heutigen Gesellschaften schon für Jugendliche notwendig, weil ein schneller gesellschaftlicher Wandel in den Ausbildungs-, Arbeits- und Wertsystemen eine immer wieder neue subjektive Standortbestimmung verlangt." /33/ Mit anderen Worten: Das, was der flexible Kapitalismus von allen Lohnabhängigen an raschen Anpassungsleistungen in der Arbeitswelt und darüber hinaus im privaten und kulturell-öffentlichen Leben verlangt, fordert er auch von der nachwachsenden Generation. Hinzu kommt für sie allerdings die Anforderung, eine Reihe von "Statuspassagen", also Übergängen, zu bewältigen:
- An erster Stelle ist hier der Übergang ins Berufsleben zu nennen. Bildungs- und Ausbildungsgänge in der Schule, in der Berufsbildung und an den Universitäten werden im Vergleich zur Elterngeneration länger, der Trend zu höherwertigen Abschlüssen setzt sich fort. Ein besserer und höherwertiger Abschluss, als ihn die Eltern hatten, garantiert heute aber keineswegs eine bessere berufliche Laufbahn. Im Gegenteil: Die eigenen Ansprüche, die Erwartung der Eltern, dass ihre Kinder es mal besser haben sollen, und die realen Engpässe auf dem Arbeitsmarkt führen zu Enttäuschungen, Verunsicherungen und hohem psychischem Druck. /vgl. 35/
- Der Weg von der Herkunftsfamilie zur Etablierung einer eigenen Familie ist eine zweite Statuspassage, die aufgrund verlängerter Ausbildungs- und Schulphasen immer längere Zeit in Anspruch nimmt und unsicherer geworden ist. Obwohl die Mehrzahl der jungen Leute am Ideal einer eigenen Familie festhält, wird es aufgrund erlebter Beziehungsschwierigkeiten in der Herkunftsfamilie (Scheidungen, Alleinerziehende, Patchworkfamilien nehmen in den letzten Jahrzehnten deutlich zu) und gestiegener Ansprüche an die Beziehungsorganisation - nicht zuletzt aufgrund des veränderten Geschlechterverhältnisses - schwieriger, das Ideal zu realisieren. Die Unsicherheit der sozialen Lage aufgrund der prekären Situation auf dem Arbeitsmarkt verschärft diesen Trend.
- Schließlich ist auch die Passage in den Freizeit- und Konsummarkt für viele junge Leute äußerst prekär geworden. Der hohe Kommerzialisierungsgrad sämtlicher Freizeitaktivitäten geht für viele einher mit eingeschränkten Konsummöglichkeiten. "Können Jugendliche sozial und materiell den Ansprüchen an Modestandards und soziale Rituale nicht nachkommen, geraten sie in eine spannungsreiche psychische Situation." /36/

Größere und frühere Spielräume für selbstständiges Handeln zusammen mit den gestiegenen Anforderungen an die Selbstorganisation und die objektiven Erschwernisse ihrer erfolgreichen Verwirklichung verlangen von den Jugendlichen eine "Virtuosität des Verhaltens und der Problemverarbeitung", die vielen offensichtlich nicht zur Verfügung steht.

Wachsende Ungleichheit

Ob und in welchem Maße jungen Menschen eine solche Virtuosität in der Problembewältigung schwierigster Übergänge zur Verfügung steht, hängt offensichtlich von einer Reihe von Faktoren ab, die mit den Klassenstrukturen unserer Gesellschaft und nicht allein und in erster Linie mit individuellen Dispositionen zu tun haben. Insofern kommen die Autoren und Autorinnen der Shell-Studie 2002 nicht daran vorbei, sich die Frage nach "wachsende(r) Ungleichheit der Zukunftschancen" /53/ zu stellen.

Wie die PISA-Untersuchung kommt auch die Shell-Studie zu dem Ergebnis, dass die Schulabschlüsse zentrale Bedeutung für die Verbesserung der Chancen der Jugendlichen haben, den Übergang in das Erwachsenenleben als ArbeitnehmerIn und aktive/r StaatsbürgerIn zu bewältigen. Je höher der Bildungsabschluss, desto größer die Chancen auf eine zufriedenstellende Position innerhalb der Gesellschaft. Die Unsicherheit über den zu erreichenden Abschluss, das Nichterreichen des Wunschberufs wegen nicht ausreichender Abschlüsse und das Verlassen der Schulen ohne jeden Abschluss machen Jugendliche zu "Bildungsverlierern". Instabile Verhältnisse in ihren Herkunftsfamilien sowie geringe Akzeptanz in den Gleichaltrigengruppen sind bei diesen Jugendlichen besonders häufig. "Offenbar entsteht zunehmend eine Gruppe struktureller Bildungsverlierer, die sowohl materiell, statusbezogen wie auch im Hinblick auf ihre soziale Eingebundenheit wenige Chancen haben, eine zufriedenstellende Position in der Gesellschaft zu erlangen." /71/

Wie die AutorInnen der PISA-Studie kommen auch die Shell-Studien-AutorInnen zu dem inzwischen nicht mehr überraschenden Ergebnis, dass der soziale Status der Herkunftsfamilie bedeutend für die Bildungs- und damit Lebenschancen der Kinder ist. Vorsichtig formulieren sie, dass die Bildungschancen nicht "komplett deterministisch" verteilt sind, sich aber dennoch zeigt, "wie eng die besuchte Schulform an den sozialen Hintergrund der Schülerinnen und Schüler geknüpft ist." /64/

Die Kinder mit einem Vater, der einen höheren Bildungsabschluss hat (Abitur oder Fachabitur), erreichen oder streben zu Dreiviertel einen ähnlich hohen Schulabschluss wie der Vater an. Nur jedes 20. Kind aus einer Familie mit einem derartigen Bildungshintergrund erreicht keinen oder nur den Hauptschulabschluss. Demgegenüber kommt nur jedes vierte Kind mit einem Vater mit einfachem oder keinem Schulabschluss zu einem Abitur oder Fachabitur, und jedes dritte Kind mit diesem familiären Bildungskapital erreicht keinen oder lediglich den Hauptschulabschluss. /vgl. Abb. 2.2, S. 56/

Entsprechende Daten über die Korrelation mit der Schichtzugehörigkeit zeigen ein ähnliches Bild: Kinder aus den oberen Gesellschaftsschichten erreichen zu 51-62% das Abitur, aus den unteren Schichten lediglich zu 10-17%. Demgegenüber müssen sich nur 7% der Kinder aus der Oberschicht mit höchstens dem Hauptschulabschluss zufrieden geben, aus der Unterschicht hingegen 65%.

Trotz eines generellen Trends zu höherwertigen Schulabschlüssen gibt es ein deutliches West-Ost-Gefälle: Ist die Zahl derjenigen, die nur mindestens einen Hauptschulabschluss erreichen, im Westen der Republik von ca. 25% 1991 auf inzwischen 20% gesunken, so ist er in den Ländern der ehemaligen DDR gegenüber 1991 von 5% auf heute 20% gestiegen. Die Vereinigung hat also in den neuen Bundesländern zu deutlichen Bildungsstandardabsenkungen geführt, jedenfalls in den unteren Bildungsbereichen.

Betrachtet man diejenigen jungen Leute, die die Schule bereits verlassen haben, so wird deutlich, wie sehr der Schulabschluss die Zukunft determiniert. 45% aller Jugendlichen, die die Schule ohne Abschluss verlassen haben, sind arbeitslos. Demgegenüber sind fünf mal mehr Abiturienten erwerbstätig als arbeitslos. /vgl. Abb. 2.20, S. 75/

Die prekärere Lage auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt lässt zusammen mit der Zunahme der Anzahl geringerer Bildungsabschlüsse in den neuen Bundesländern die Jugendlichen in den neuen Ländern düsterer in die Zukunft blicken als die im Westen, was die Erfüllung ihrer beruflichen Wünsche betrifft. Sind in den alten Bundesländern knapp ein Viertel pessimistisch, sind es im Osten ein Drittel. Die Übersicht zeigt auch, dass mit steigender Schichtzugehörigkeit die Unsicherheit geringer wird, im Osten wie im Westen. /vgl. Abb 2.19, S. 74/

Hauptschüler weisen zusammen mit Jugendlichen aus den unteren sozialen Schichten (die Gruppen überschneiden sich - wie gezeigt - weitgehend) charakteristische Freizeitpraxen auf, in denen sie sich deutlich von anderen Teilen der Jugend unterscheiden. "Jugendliche aus der Unterschicht sind in ihrer Freizeit häufiger passiv im Verhalten. Fernsehen, Videos anschauen, rumhängen und sich stylen sind dementsprechend häufiger anzutreffen." /79/

Hauptschüler surfen weniger im Internet und lesen weniger als SchülerInnen mit höheren Schulbesuchen. "Vor allem die beiden Punkte Surfen im Internet und Bücher lesen sind zusammengenommen wichtig. Hier zeichnet sich ab, dass Hauptschülerinnen und -schüler den Anschluss an die moderne Kommunikationswelt im Vergleich zu den anderen Schülerinnen und Schülern eher verpassen und auch in der Wissensgesellschaft durch mangelndes Interesse am Lesen eher schlechter abschneiden werden." /79/

Nicht nur materiell sind Jugendliche aus den unteren Schichten und HauptschülerInnen abgekoppelt und haben beispielsweise signifikant geringere Zugangsmöglichkeiten zum Internet /vgl. Abb. 2.25, S. 83/ Auch von ihren Bildungsvoraussetzungen sind sie immer stärker ausgeschlossen von aktiver Freizeitaktivität und kulturellen Angeboten, die für viele Jugendliche und Erwachsene als selbstverständlich gelten.

Auf dem Hintergrund dieser Daten kann es nicht verwundern, dass die Einschätzung der gesellschaftlichen Zukunft bei den Jugendlichen in Ost und West wieder deutlich negativer wird. Knapp die Hälfte der Jugendlichen im Westen und Zweidrittel im Osten schätzen die Zukunft eher düster ein. Nur 1981, zur Zeit der NATO-Nachrüstung, war die Stimmung unter den Jugendlichen in (West-)Deutschland schlechter als heute in den neuen Bundesländern, und auch die Stimmung im Westen hat sich gegenüber den letzten Jahren deutlich verschlechtert.

Vertrauen in das politische System im Sinkflug

Die Einstellung der Jugendlichen zur Politik, so ist zu vermuten - und das bestätigen die Daten der Shell-Studie -, hängt zusammen mit ihren Möglichkeiten, sich am öffentlichen und politischen Leben in irgendeiner Weise zu beteiligen, und ihrer Erwartung, ob die Politik zur Lösung ihrer Probleme beitragen kann. Insofern kann es nicht verwundern, dass sinkendes Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit der Parteien, Rückgang des Interesses an Politik und die Gefährdung der sozialen Situation sowie die Bildungsferne der Jugendlichen miteinander korrelieren.

Insgesamt ist ein zurückgehendes politisches Interesse zu konstatieren. Bezeichneten sich 1991 noch 57% der Jugendlichen als politisch interessiert, so ist dieser Prozentsatz kontinuierlich auf heute 34% gesunken. Insbesondere unter Jugendlichen mit geringem Bildungsabschluss (Hauptschüler = 6%) und bei Mädchen (23%) ist das Interesse an Politik außerordentlich gering. Damit geht einher eine Rechtsverschiebung bei den parteipolitischen Präferenzen zulasten v.a. der Öko-Partei und zugunsten der Unionsparteien. Die Grünen haben ihre Stellung als stärkste Partei bei der Jugend (1984: 23%) deutlich verspielt und kommen heute auf nur noch 9%. Die Unionsparteien verzeichnen - wie die SPD - ca. 25% Zustimmung. Die stärkste Zustimmung mit 27% erfährt allerdings die Aussage, dass "keine Partei" den jugendlichen Befragten nahe steht. /Vgl. Abb. 3.5, S. 98/ Besonders deutlich auch hier wieder, dass insbesondere Hauptschüler zu 43% sich politisch im Rechts/Links-Schema überhaupt nicht positionieren können oder wollen. /vgl. Abb. 3.4, S. 96/

Der Trend zu rückläufiger Wahlbeteiligung, der für die gesamte Wählerschaft nicht nur in Deutschland festzustellen ist, setzt sich bei den Jugendlichen verschärft fort. In den letzten acht Landtagswahlen lag die Wahlbeteiligung in der Altersklasse der 18-24-Jährigen bis auf zwei Ausnahmen immer unter 50% und damit in der Regel um 25% unter der Wahlbeteiligung insgesamt. /vgl. Abb. 3.12, S. 107/

Die Jugendlichen in Deutschland haben in ihrer Mehrzahl Angst vor Terroranschlägen (aktuell wegen des 11. September), Armut, schlechter Wirtschaftslage, Krieg, Umweltverschmutzung und Arbeitslosigkeit. Dabei sind signifikant höhere Werte bei Mädchen festzustellen. Die wichtigsten Politikfelder sehen die Jugendlichen im Bereich Arbeitsmarkt, Kinder und Familie sowie Bildung.

Fragt man, welche Partei die Probleme in Deutschland am besten lösen kann, so ist das Ergebnis für die etablierten Parteien ausnahmslos niederschmetternd. CDU und SPD kommen auf 17% bzw. 18%, 19% machen keine Angabe und 37% sagen: keine Partei. In Ostdeutschland sind das sogar 45%. /vgl. Abb. 3.6, S. 100/

Wenn den politischen Parteien in unserer Parteiendemokratie wenig Kompetenz in den entscheidend wichtigen Lebensfragen der Jugendlichen beigemessen wird, so verwundert eine gewisse Politik- und Demokratiedistanz der Jugendlichen nicht, zumal diese eng an den sozioökonomischen Status, die Herkunft und die Chancen der Jugendlichen gekoppelt ist. So zeigt sich ein Drittel der Jugendlichen unzufrieden mit der Demokratie, unter den Arbeitslosen und im Osten der Republik sind das sogar jeweils 52%. /vgl. Abb. 3.8, S. 102/ "Der Begriff der Politikverdrossenheit darf demnach keinesfalls als beliebig interpretierbares Werturteil zur Charakterisierung der Beziehung von Jugendlichen zu Politik und Gesellschaft benutzt werden. Die bisher vorgestellten Untersuchungsergebnisse zeigen vielmehr, dass fehlendes politisches Interesse nicht schlechthin mit Demokratieverdrossenheit in einen Topf geworfen werden darf. Kritik an der Politik und an der Gesellschaft korreliert vielmehr mit prekären Lebensverhältnissen bzw. mit subjektiv empfundenen geringeren Chancen zur gesellschaftlichen Partizipation." /103f./

Selbstverwirklichung mit Sekundärtugenden?

Individualität und Sicherheit in neuer Synthese? lautet die Überschrift zu einem Kapitel der Shell-Studie, in dem es um Wertorientierungen und gesellschaftliche Aktivitäten geht. Der Autor dieses Kapitels, Thomas Gensicke, kommt zu einem optimistischen Schluss: "Die Jugend hat in den 90ern ihre ›rebellische‹ Mentalität des frühen Wertewandels, die sie besonders in den 70ern, teilweise noch in den 80ern hatte, abgestreift. Sie gibt sich nunmehr leistungs- und sicherheitsorientiert. Die jugendliche Mentalität bleibt allerdings im Vergleich zu den reiferen Jahrgängen besonders lebensfreudig und kreativ, so wie es für junge Menschen typisch ist. Das Neue ist, dass Wertorientierungen der Selbstentfaltung und der Selbstkontrolle zunehmend in einer unmittelbaren Wertesynthese miteinander verknüpft werden. Zentrum und Kitt dieser neuen Synthese aus Leistung und Kreativität ist das weiter gewachsene Sicherheitsbedürfnis junger Menschen." /141/

Die Jugend ist pragmatisch geworden. Der fehlende, knapp gewordene Wohlstand ist wegen seiner Knappheit besonders hoch geschätzt. Daher das Streben nach Sicherheit. Damit einher geht eine Renaissance der Werte Ordnung, Ehrgeiz, Leistung und Fleiß. Aus dem Befund, dass Werte wie Lebensgenuss, Kreativität, viele Kontakte und Freundschaften ebenso hoch im Kurs stehen wie Fleiß und Ehrgeiz, Gesetz und Ordnung, Sicherheit und Eigenverantwortung, schließt der Autor auf eine vollzogene Synthese zwischen den Werten der 60er und 70er Jahre, von Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung, mit den neuen, alten Werten Selbstkontrolle, Sicherheit und Disziplin.

Diese Schlussfolgerungen stehen in gewisser Weise quer zu den Befunden aus den vorhergehenden Kapiteln, in denen anhand sozial-struktureller Daten deutlich gemacht wurde, dass von "den" Jugendlichen nicht die Rede sein kann. Die vielleicht wichtigste Erkenntnis der neuesten Shell-Jugendstudie liegt gerade darin, dass die Untersuchungsergebnisse vor allem davon abhängen, welchen soziokulturellen Hintergrund der Jugendliche hat.

Dies zeigt sich bei der Untersuchung des gesellschaftlichen Engagements der Jugendlichen. Das Engagement der Jugendlichen im gesellschaftlich-kulturellen Raum ist allgemein rückläufig - selbstverständlich auch wieder in deutlicher Abhängigkeit vom sozialen- und Bildungsstatus. "Ein zusammenfassender Überblick über die Veränderungen der jugendlichen Wertorientierungen zeigt ein dominantes Muster. Leistungs-, macht- und anpassungsbezogene Wertorientierungen nehmen zu, engagementbezogene (ökologisch, sozial und politisch) ab. Die aktuelle Shell-Jugendstudie verwendet dafür den Begriff der Pragmatisierung." /152/

Es werden vier unterschiedliche Wertetypen unter den Jugendlichen herausdestilliert, die sich hinsichtlich ihres sozialen Status, der Bildung und der Wertorientierungen sowie des Engagements unterscheiden. Dabei sollen die selbstbewussten Macher am dichtesten am Puls des Zeitgeistes zu verorten sein. Sie und die pragmatischen Idealisten stehen gewissermaßen auf der Siegerstraße im Wettbewerb um Lebenschancen. Auf der anderen Seite sind die robusten Materialisten und die zögerlichen Unauffälligen auszumachen, die alles bei sich konzentrieren, was problematisch erscheint, also Gewaltbereitschaft, fehlendes Engagement, geringen sozialen Status etc. Und so zeigt sich selbst anhand dieser Kategorisierung, dass von einem "grundlegenden Wertewandel hin zu einer pragmatischen Haltung" /17/ nur eingeschränkt die Rede sein kann.


Anmerkungen:

Klaus Bullan ist Lehrer in Hamburg.
[1] Deutsche Shell (Hrsg.), Jugend 2002. Zwischen pragmatischem Idealismus und robustem Materialismus, Frankfurt am Main 2002

erschienen in Sozialismus 11/02