Daß Gerhard Schröder gern den Mund voll nimmt, ist bekannt. Daß ihm anschließend oft die eigenen Worte um die Ohren fliegen, ist die nicht überraschende Folge. ...
... Diese Vorschnäuzigkeit scheint er sich nicht abgewöhnen zu können. Mal war es sein vollmundiges Versprechen, allein an einer eindrucksvollen Reduzierung der Arbeitslosigkeit gemessen werden zu wollen, mal die bedenkenlose Zusicherung einer "uneingeschränkten Solidarität" mit den USA bei ihrer auf Vorherrschaft zielenden Jagd nach dem Phantom Terror.
Das jetzt mit viel betulicher Kritik bedachte Kanzler-Wort von einem deutschen Weg - abweichend von Washingtoner Kriegsplänen - ist jedoch keine solche Kraftmeierei. Vielmehr muß das aufgeregte Geraune von einem deutschen Sonderweg und die erschrockene Warnung vor einem Ausscheren aus der von Konrad Adenauer bewirkten Westbindung verwundern. Auch das Menetekel eines neuen deutschen Nationalismus wird in den Kommentaren schaurig-schön an die Wand gemalt. Es gibt ihn zweifellos - aber vor allem bei denen, die mit dem Wort von der deutschen Leitkultur hausieren gehen.
Mit dem Zwischenruf "Sonderweg!" läßt sich in Deutschland jeder Gedanke ersticken und jede Diskussion beenden. Dahinter steckt der Wunsch, es möge alles so bleiben, wie es war, ehe der selbstmörderische und doch so gemütliche Kalte Krieg plötzlich endete und es mit der in Sonntagsreden beschworenen Wiedervereinigung Ernst wurde. Die Bundesrepublik war NATO-Mitglied ohne eigene Verfügungsgewalt und Liebkind in der Europäischen Union. Auch die Zeiten der Scheckbuch-Politik sind vorbei. Sowohl die des jahrelang erkauften Alleinvertretungsanspruchs in der Dritten Welt wie die der Finanzierung US-amerikanischer Kriegführung anstelle von Bundeswehreinsätzen im Zweiten Golfkrieg Anfang der neunziger Jahre. Jetzt muß national entschieden werden, was international geleistet werden soll. Eigene Interessen stehen dabei gegen Bündnis- oder Mitgliedsinteressen. Oft kommt dabei ein Sonderweg heraus. Frankreich entschied sich unter Charles de Gaulle gegen die militärische Mitgliedschaft in der NATO. Die USA boykottieren, neben anderen Abkommen der Staatengemeinschaft, den Internationalen Gerichtshof. Die Bundesrepublik - ganz Mighty Mouse, die sie ist - verweigert als einziges EU-Land ein Tempolimit auf ihren Autobahnen.
Der deutsche Weg von Gerhard Schröder, dem womöglich letzten SPD-Kanzler in den nächsten zwei Jahrzehnten, mag einem kurzfristigen Wahlkalkül entspringen. Falsch ist er nicht, was die Sicherheits- und Bündnispolitik der Bundesrepublik betrifft. Eine Korrektur ist seit langem fällig. Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation muß sich die Bundeswehr neu legitimieren. Sie ist die Erblast des atomaren drôle de guerre. Der mühsame Erhalt der NATO, ihre unsinnige Osterweiterung sowie unterschiedlichste Engagements der dafür nicht geschaffenen Truppe sind keine hinreichenden Begründungen für ihren Erhalt.
So stellt sich die einfache Frage: Bundeswehr wofür und wozu? Konrad Adenauer hat diese Frage nicht interessiert. Er wie die Mehrheit westdeutscher Politiker empfanden die Teilnahme am atlantischen Bündnis als Generalabsolution. Die gerade überstandene Hybris des Krieges war ihnen kein Anlaß zu einer exemplarischen Friedenspolitik. Bedenkenlos folgten sie allen apokalyptischen Atomkriegsstrategien, von der massiven Vergeltung bis zur abgestuften Abschreckung.
Auch die Bundeswehr, aus dem Boden gestampft mit den Kadern der besiegten Wehrmacht, gestattete sich kein Nachdenken, ob es nach Hitler überhaupt noch einmal eine deutsche Armee geben sollte; ihren Auftrag hielt sie hinter Wortschöpfungen wie "Vorwärtsverteidigung" im Unklaren. Wichtiger war, ob die Knobelbecher genannten Stiefel aus Kaiserszeiten und die von Hitler verliehenen Orden (ohne Hakenkreuz) getragen werden durften. Der maßvolle Plan eines konventionell bewaffneten 100 000-Mann-Heeres des Hitler-Gegners Bogis lav von Bonin wurde von den ehemaligen Wehrmachtsstrategen Adolf Heusinger und Hans Speidel hintertrieben. Sie wie auch der zweite Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß schufen einen gepanzerten und atomwaffenfähigen Koloß von 500 000 Soldaten.
Bundespolitiker und Bundeswehrführung sind mit dieser Altlast aus den Anfangsjahren der Bundesrepublik nie fertig geworden. Trotz des Epochenbruchs ist die Bundeswehr eine Vasallenarmee der USA geblieben. Weniger als je entspricht sie so dem Verfassungsauftrag, der sie auf Verteidigungszwecke beschränkt. Darauf aber hat sich das vereinigte Deutschland im 2+4-Vertrag verpflichtet. Für die Sicherheitspolitik der Bundesrepublik bedeutet das: Die Bundeswehr steht nicht für Interventionskriege zur Verfügung, auch nicht wenn der Auftrag mit dem Zusatz humanitär versehen ist. Sie wird auch nicht dem Weltbeherrschungsmuster der USA zu Diensten sein, selbst dann nicht, wenn diese unter einem erschlichenen oder erpreßten UNO-Mandat handeln.
Wie man aus der Liga der großen Kriegsnationen ausscheiden und ein einflußreiches und anerkanntes Mitglied der Völkergemeinschaft bleiben kann, hat Schweden vorgemacht.
Der Weg dahin könnte ein deutscher Weg sein.
erschienen in Ossietzky 17-2002