Kunst in sowjetischen Lesebüchern
Die Generation der aktuellen russischen politischen Elite - so auch Präsident Putin - wurde geprägt vom sowjetischen Schulwesen. Ziel der damaligen Schulbildung war die Erziehung der Sowjetbürger*innen zum Heldentum und dem Glauben an die Sowjetunion. Die zugrundeliegenden Schulbücher genießen bis heute große Popularität und werden gar im Internet als Nachdruck angeboten. Victoria Storozenko beleuchtet die Nachwirkung von Traditionen der Kunsterziehung in der Sowjetunion im heutigen Russland.
Schulbücher sind wichtige Erziehungsmedien in jeder Gesellschaft. Vom Bildungsministerium zertifiziert und legitimiert, vermitteln sie Wissen, Normen und Werte und werden von den Schüler*innen täglich im Unterricht genutzt. Der Erziehungs- und Bildungsauftrag des Staates wird in Schulbüchern besonders deutlich. Insbesondere die russischen Grundschullehrbücher "Heimatsprache" ("Rodnaja Retsch"), die Russisch als Heimatsprache der Sowjetunion propagieren, bilden die Grundlage, um die national-staatliche Identität in der Sowjetunion zu konstruieren und diese zu verfestigen. Nach der Oktoberrevolution 1917 arbeiten sowjetische Pädagog*innen eine neue Schulbuchkultur aus, die die neuen Generationen der sowjetischen Bürger*innen zum Heldentum und dem Glauben an die Sowjetunion unter Zuhilfenahme von Darstellungen der bildenden Kunst erziehen soll. Diese Schulbuchkultur hat bis heute eine große Popularität und gehört zur Basiserziehung der heutigen, nicht mehr jungen russischen Spitzenpolitiker.
"Für alle, denen es nicht egal ist, mit welchen Schulbüchern ihre Kinder lernen."1
Glücklich, fröhlich und unbesorgt spazieren Grundschulkinder in Schuluniform mit blühendem Flieder in einer Hand und ihrer Schultasche in der anderen Hand zur Schule. Im Hintergrund werden neue Häuser gebaut und Elektrizitätsmasten eingerichtet. Mit diesem Fotomotiv aus der Sowjetzeit wirbt der Internetbuchladen "Stalinskij Bukvar" für den Eigenverkauf von sowjetischen Schulbüchern.2 Sie werden für ihre Inhalte gelobt und mit aktuellen Schulbüchern verglichen.
Ein Stalin-Bild, umrahmt im roten Stern - dem Abzeichen der Oktjabrjata, der Jungorganisation der Kommunistischen Partei für die Grundschulkinder, lächelt von der Webseite. Darüber ist das Motto zu lesen: "Für alle, denen es nicht egal ist, mit welchen Schulbüchern ihre Kinder lernen."3 Ein weiterer Slogan bringt es auf den Punkt: Es handelt sich um die "Wiedergeburt sowjetischer Schulbücher". Die Webseite bietet allen Interessierten an, in einem Social Media-Portal VKontakte4 über den Wert der sowjetischen Didaktik und Methodik zu diskutieren. Der Krieg in der Ukraine wird mit keinem Wort erwähnt.
Wie es begann: Die Kulturrevolution
Nach der Oktoberrevolution 1917 konstituiert sich langsam das neu erschaffene Land Sowjetunion. Dabei werden gesellschaftsrelevante Funktionssysteme neu definiert. Der Erste Weltkrieg (1914 bis 1918), der Bürgerkrieg (1917 bis 1922) und die Hungersnöte in sowjetischen sozialistischen Teilrepubliken sind die prägenden Ereignisse, die das Leben von Millionen von Menschen kosten und die Situation erschweren, ein neues System der Diktatur des Proletariats zu verwirklichen. Während die erste Regierung5 von gebildeten Volkskommissaren an der Spitze dominiert wird, ist die Mehrzahl der Bevölkerung gänzlich ungebildet (Analphabetismus), wohnt in ländlichen Gegenden unter prekären Bedingungen und kämpft ums Überleben.
Die Neue Ökonomische Politik (NEP) soll den zurückgebliebenen Stand der industriellen Entwicklung überwinden, um die Sowjetunion zum wettbewerbsfähigen Land zu machen. Doch fehlen die dafür benötigten ausgebildeten Arbeitskräfte - die Investition in Bildung und Erziehung beginnt. Die umfassende Kulturrevolution (ab 1921/1922) soll die Bevölkerung des riesigen Landes aufklären und umerziehen.6 Dabei übernehmen das Schulsystem und der Unterricht eine tragende Rolle, um die Themen Erziehung, Bildung und Kultur zusammenzubringen und die kulturelle Rückständigkeit der Bevölkerungsmassen zu verbessern. Die Schulkinder sollen das neue Wissen nach Hause tragen und ihre oft ungebildeten Eltern aufklären. Die verbesserte Kulturlage der Bevölkerungsmassen wird auch von Stalin als eine Notwendigkeit für den technologischen Fortschritt betrachtet:
"Die Arbeiterklasse kann nicht zum wirklichen Herrn des Landes werden, wenn sie es nicht versteht, ihre kulturelle Rückständigkeit zu überwinden, wenn sie es nicht versteht ihre eigene Intelligenz heranzubilden, wenn sie die Wissenschaft nicht meistert, und wenn sie es nicht versteht, die Wirtschaft auf wissenschaftlicher Grundlage zu leiten."7
Kunst und Kultur gehören dem Volk. Angeblich bourgeoise Kulturschaffende werden verhaftet, ermordet oder ins Ausland verbannt, gleichzeitig wird daran gearbeitet, neue, proletarische Kunst zu entwickeln, abgekürzt "Proletkult", eine "proletarische Massenkultur unter Ausschaltung der traditionellen Kultur"8. Kulturpaläste für das Volk, "dvorzy kultury" werden errichtet, Veranstaltungsorte für Zirkus, Ballett9 und Kino werden eröffnet. Der sozialistische Realismus in der Kunst und das revolutionäre Ballett werden hochgelobt. Bücher werden günstig verkauft, staatliche Bibliotheken füllen sich mit enteigneten Büchern der Intelligenzija. In diesen Selbstfindungsjahren am Anfang der 1920er Jahre wird für kurze Zeit die Kunstfreiheit genossen, es wird radikal experimentiert, bevor die Säuberungen beginnen.10
In der Zeit der Kulturrevolution wird ein spezifischer Kulturbegriff entwickelt. Unter Kulturverständnis werden "die grundlegenden Verhaltensnormen und die Einstellungen eines Menschen bis zur Ebene der Hochkultur (Kunst, Wissenschaft, Bildung)"11 zusammengefasst. Seine Effizienz gestaltet sich dadurch, dass von Anfang an bezüglich der Kulturziele zwischen der führenden Elite, städtischen und ländlichen Bevölkerungsmassen unterschieden wird. Während die Elite sich mit der Hochkultur auskennen soll, werden an die Landbevölkerung ("kolchosniki") minimalistische Kulturanforderungen gestellt, die z.B. die Beherrschung von Hygieneregeln, Lesen und Schreiben und die selbstständige Beherrschung des Alltags betreffen.
Schule und Pädagogik
Die "ästhetische Erziehung der Massen"12 in der Schule und an außerschulischen Lernorten wird propagiert und umgesetzt. Der Schule als Kulturort wird eine besondere Rolle zugesprochen, um die Idee der ästhetischen Erziehung und Bildung im Schulalltag zu erleben und das Selbstbewusstsein der proletarischen Kultur zu stärken. Die Erziehung soll die kommunistische Ideologie vom Kindergarten bis zum Berufsleben propapieren. In dieser Zeit entwickeln engagierte Pädagog*innen wie Vygotsky neue Sichtweisen auf die Schule und den Unterricht, die Pädagogik "als Technik, die zu einer ertragreichen Arbeit taugliche Verfahren feststellt und anwendet."13 Es sei die Aufgabe der Lehrkräfte, "ein Filter" zu sein,
"indem er alles reinigt, was Unterricht heißt: indem er all den bürgerlichen, feudalen Schlamm zurückhält, damit unsere Kinder davon nicht verpestet werden, und er muss alles hindurchlassen, was es in der Wissenschaft Gutes gibt, alle die Wahrheit, die das Bürgertum verborgen gehalten hat, alle die neuen Errungenschaften der Wissenschaft, zumal der kommunistischen Wissenschaft."14
Es wird mit Schultypen, Unterrichtsformen, Didaktik, Methodik und Lehrmaterialien experimentiert, neue Ideen werden ausprobiert oder verworfen, es gibt "permanente Schulexperimente"15 in der Kulturrevolution. Die Schulentwicklungsforschung favorisiert praktisch orientierte Laborschulen nach dem Prinzip der US-amerikanischen Pädagogin Helen Parkhurst, der Begründerin der Dalton-Pädagogik.16 Dabei wird auf den Frontalunterricht verzichtet und Schüler*innen dürfen ihre Lernprozesse selbständig gestalten. Die Lehrkraft setzt jedoch Lernziele, wird zur Mentorin des Lerngeschehens und überprüft die Resultate.
Die sowjetische marxistische Pädagogik unterstützt die Idee, eine homogene sowjetische Identität durch die Schulerziehung zu erreichen. Ihre Anhänger*innen und Vertreter*innen sind davon überzeugt, der jungen Generation in der Sowjetunion durch die bessere Bildung und Erziehung sich lohnendere Lebensperspektiven zu bieten, als es eine kapitalistische Welt tut, die den Besitz des Kapitals verherrlicht und auf der Idee der Arbeitsteilung und Menschenausbeutung beruht.
Das neue Schulsystem braucht neue Schulbücher; ganze Kommissionen beschäftigen sich damit, systemrelevante und systemkonforme Ziele in die Schulbücher zu integrieren, die im ganzen Land benutzt werden. Ihre Inhalte werden vom Volkskommissariat zur Aufklärung, später Aufklärungsministerium17 genehmigt und sollen bestimmte Wahrheitskonstruktionen determinieren. Die 1930er Jahre werden als das Ende des pädagogischen Experimentierens und als die Zeit der Stabilisierung des Schulwesens verstanden. Ihre ausgearbeiteten Ziele wie die patriotische Erziehung und der Aufbau des Sozialismus behalten ihre Gültigkeit noch Jahrzehnte danach18 sowie die Vorstellung, dass das Schulbuch "das wichtigste Unterrichtsmittel"19 ist.
Einblicke in das Lesebuch Rodjana Retsch (Heimatsprache)
Betrachtet man exemplarisch das Lesebuch Rodnaja Retsch (Heimatsprache)20 für die vierte Klasse aus dem Jahr 1955, erschienen in der 11. Auflage, so erfährt man die zentralen Schwerpunkte des sowjetischen Staatsdenkens. Dazu gehören: gesundheitliche Aufklärung21, die die Kulturrevolution stark vertrat, die Dankbarkeit für die bessere Kindheit als die vor der Sowjetunion, Heldentum und Patriotismus, nicht zuletzt verbunden mit den Narrationen über die Revolution, Lenin, Stalin oder den 2.Weltkrieg. Ein großes Thema bildet zudem der technologische Fortschritt, der Einsatz von Maschinen in den Fabriken, die das Leben der Arbeiter erleichtern, und die jedem zugängliche Elektrizität. Letztere wurde von Lenin in einen Zusammenhang mit dem Atheismus gestellt: "Die Elektrizität wird den Bauern ihren Gott ersetzen. Wenn der Bauer erst einmal die Elektrizität anbetet, tritt die Sowjetmacht bald an die Stelle der Himmelsmacht."22
Das Lesebuch orientiert sich in seiner Struktur an den Jahreszeiten. Nationalfeiertage und thematische passende Texte werden ihnen zugeordnet. Zusätzlich findet man die sowjetische Staatshymne. Die Struktur dieses Lesebuches wird bis in die 1990er Jahre für Schulbücher übernommen.23 Die Lesebücher enthalten schwarz-weiße Illustrationen und Gemäldeabbildungen in Farbe. Vergleicht man verschiedene Auflagen dieses Lesebuches, so lässt sich feststellen, dass die Textauswahl fast die gleiche bleibt, doch ändern sich Gemäldeabbildungen, die mal Lenin, mal Stalin abbilden, die unerwünschten Parteiangehörigen werden aus den Abbildungen entfernt.
Wir sind Helden
Auf dem Cover des Lesebuches [i]Heimatsprache[/i] sieht man die Abbildung des Gemäldes Tri Bogatyrja (Drei Krieger siehe https://de.wikipedia.org/wiki/ Datei:Die_drei_Bogatyr.jpg) des Künstlers Wiktor Wasnezow (1848-1926), gemalt im Jahre 1898. Als Vertreter von Romantik, Realismus und Symbolismus stellt er drei Helden aus slawischen Sagen dar: Dobrynja Nikitisch, Ilja Murometz und Aljoscha Popowitsch, die Kraft, Ausdauer und Mut symbolisieren.24 Diese Helden sind bereit, ihre Heimat zu verteidigen und sollen als Vorbilder für Schüler*innen der 4. Klasse fungieren. Dieser Bildaufmacher symbolisiert zentrale immer wiederkehrende Themen des Lesebuches: Heimat und Helden.
Wer denkt, es sei zu früh, das Thema in der 4. Klasse zu behandeln, täuscht sich. Im Buch zwischen den Seiten 126 und 127 befindet sich eine Abbildung des Gemäldes von Fjödor Reschetnikov (1906-1988), das den Verweis zum Schulalter der Kinder herstellen soll: Pribil na kanikuli (Zu den Ferien offiziell eingetroffen). Auf dem Gemälde sieht man im Vordergrund die Szene der Ankunft eines Jungen, vielleicht neun oder zehn Jahre alt, der eine winterliche Militäruniform trägt. Fröhlich salutiert er vor seinem Großvater, der ebenfalls in einer strammen Körperhaltung seinem Enkel gegenübersteht und, möglicherweise fröhlich-ironisch, auf seinen Enkel von oben herab durch seine Brille schaut. Es handelt sich um die Rückkehr nach Hause für die Ferien von der Militärschule "Suvoroskoje utschilitsche".
Das Bild vermittelt eine positive Atmosphäre und eine fröhliche Stimmung durch die bunten Farben und den geschmückten Weihnachtsbaum im Hintergrund. Man sieht auch eine junge Frau mit rotem Pionierhalstuch im Hintergrund, die ebenfalls fröhlich lächelt und den Tisch von ihren Schulsachen befreit. Möglicherweise ist es die große Schwester des Jungen. Das Gemälde soll die Viertklässler anregen, darüber ins Gespräch zu kommen oder einen Essay darüber zu schreiben. Die fröhliche Stimmung des Bildes wird gleichzeitig von der Frage beschattet, warum die Eltern des Jungen nicht abgebildet sind. Einige Interpretationen des Gemäldes schlagen vor, dass sie im Zweiten Weltkrieg verstorben sind oder zumindest der Vater des Jungen im Krieg gefallen ist.25
Kindheit früher und heute
Die Erziehung zur Dankbarkeit für ihre Kindheit wird durch die Abbildungen von vier kontrastvollen Gemälden zwischen den Seiten 96/97 von Wasilij Bajuskin (1898-1952) besonders deutlich. Das erste Gemälde V utschenii (Während der Ausbildung) zeigt eine Arbeitssituation in der Werkstatt eines Schusters. Es herrscht eine arbeitsame, jedoch bedrückende Atmosphäre, die von der Körpersprache der Figuren dargestellt wird. Dem gegenüber steht das zweite Gemälde V masterskoj remestlennogo utschilitscha (In der Werkstatt einer handwerklichen Ausbildungsstätte), das die Ausbildungssituation in der Sowjetunion darstellt. Gezeigt wird eine saubere, helle und gut organisierte Werkstatt voller Menschen und Maschinen, Frauen und Männer, die selbstbewusst diese Maschinen betätigen. Ein Junge wird angelernt. Dabei erklärt ihm ein junger Arbeiter, wie man mit den Maschinen umgeht. Die beiden sind in ein Gespräch vertieft und befinden sich in einer gemeinsamen Aktion. Der Junge zeigt interessiert auf ein Detail der Maschine und der junge Mann erklärt es.
Das dritte Gemälde Detstvo preschde (Kindheit früher) zeigt, wie die Kinder früher in Armut ihren Alltag bestreiten mussten und wie schwer er war. Ein Mädchen, vielleicht neun oder zehn Jahre alt, sitzt vor einem typischen Ofen auf einer Bank, ihre Mutter oder Großmutter liegt krank auf dem Ofen. Das Kind ist barfuß, da es noch recht jung ist, baumeln seine Füße in der Luft. Es trägt eine schon etwas kaputte und schmutzige traditionelle Volkstracht und hütet ein Baby. Es passt zudem gleichzeitig auf andere Kinder im Zimmer auf. Vor ihm auf dem Boden, genaugenommen auf einem kleinen Heuhaufen, sitzt ein kleiner Junge, der vermutlich noch nicht laufen kann und zu dem Mädchen hochschaut, als würde er gerne mit ihm spielen. Im Hintergrund erkennt man einen anderen kleinen Jungen, vielleicht fünf bis sechs Jahre alt, der winterlich angezogen ist und wahrscheinlich gerade von draußen hereinkommt. Er hält einen Holzeimer voll Wasser in der Hand und läuft in die Richtung der Ziege, die hinter dem Ofen im Warmen steht. Die Farben sind recht dunkel gehalten, es dominieren Blau, Weiß, Braun und Schwarz. Die einzige Lichtquelle ist das Fenster links im Bild. Durch Gegenstände und symbolische Repräsentationen, wie die Ziege im Haus, erkennt man einen trostlosen und ärmlichen dörflichen Haushalt.
Die heutige Kindheit betrachtet man dagegen im vierten Gemälde Detstvo sejtschas (Kindheit jetzt). Es zeigt eine Erzieherin oder Lehrerin im Vordergrund, eine junge gutaussehende Frau, die von einer Schar glücklicher Kinder umgeben ist. Die Personen befinden sich in der Natur, die Farben sind hell und leuchtend, vor allem Blau, Gelb, Weiß und Rot. Man genießt die grüne Landschaft. Der Himmel ist fast blau, sorgenfrei, nur ein paar weiße Wolken und ein Flugzeug sind zu sehen. Die Kinder sind gerade dabei, die heimischen Pflanzen auf einem Hügel zu entdecken. Alle tragen saubere und ordentliche Kleidung. Die Lehrerin und die Kinder sind einander zugeneigt. In der Ferne im Hintergrund sieht man ein Haus mit rotem Dach, eventuell die Schule. Es wird symbolisch ein aktives, gemeinsames und naturverbundenes Lernen präsentiert, bei dem kein hierarchisches Verhältnis zwischen der Lehrerin und den Schülerinnen und Schülern zu erkennen ist. Es ist ein Bild über eine glückliche Kindheit in der Sowjetunion.
Diese Bilder sollen die Erzählung von Anton Pawlowitsch Tschechow (1860-1904) Wanjka untermauern und im größeren Zusammenhang mit dem Thema "Kindheit früher und heute" mit den Schüler*innen besprochen werden.
Die Hauptfigur der Erzählung, ein neunjähriger elternloser Junge "Wanjka", der bei seinem Großvater in einem Dorf aufwächst, ist nun in der Ausbildung bei einem Schuster, der ihn schlecht behandelt. Er muss schwer arbeiten, wird geschlagen, bekommt kaum etwas zu essen und muss zusätzlich auf das neugeborene Kind der Frau des Schusters aufpassen. In seinem nächtlich geschriebenen Brief an seinen Großvater beschreibt er seine schweren Lebensbedingungen und seinen Alltag, dem er entkommen möchte. Sein Leben ist schlimmer als das eines Hundes. Er fleht seinen Großvater an, ihn von dort abzuholen, sonst würde er sterben. Die Dramatik spitzt sich zu, denn Wanjka kennt die Adresse seines Großvaters nicht und adressiert den Brief an: "Na derevnju deduschke" ("Für Opa auf dem Dorf").26
Ein weiteres Gemälde im Lesebuch, das das Thema der Dankbarkeit unterstützt, ist das gesellschaftskritische Gemälde Burlaki na Volge (Die Wolgatreidler siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Wolgatreidler) von Ilja Repin (1844-1930), im Lesebuch befindlich zwischen den Seiten 212 und 213. Um das Gemälde zu malen, befasste sich Repin mit den schweren Arbeitsbedingungen der Wolgatreidler und begleitete einige von ihnen und erfuhr ihre Lebensgeschichten, um möglichst realitätsnah diese Szene darzustellen. Das Gemälde wurde international bekannt und 1873 mit einer Bronzemedaille bei der Weltausstellung in Wien ausgezeichnet. Ein schönes klares sommerliches Wetter am Wolgastrand mit einer Kirche in Weiß an einem Ufer steht im Kontrast zur dunklen, traurigen Gruppe der Wolgatreidler unterschiedlichen Alters am anderen Ufer, die in Lumpen gekleidet und sichtbar leidend, ein Schiff durch den Fluss ziehen. An der Stelle dient die Biografie von Repin selbst als Beispiel für jemanden, der aus ärmeren Verhältnissen stammt und es bis zum Künstler schafft.
Die Anführer und die Elektrizität
Ein anderes Gemälde im Lesebuch, Lenin provosglaschaet sowetskuju vlast (Lenin verkündet die sowjetische Macht siehe https://www.oebv.at/flipping book/9783209072382/12/, Seite 12), zu finden zwischen den Seiten 230 und 231 stammt von Vladimir Serov (1910-1968). Das Bild zeigt den Auftritt von Lenin in der Nacht vom 7. auf den 8. November 1917 im Smolnij, bei dem er den Sieg verkündet. Im Saal mit hohen Wänden herrscht eine aufgeregte Stimmung, alles ist in Bewegung.
Zwischen den Seiten 272 und 273 findet man ein weiteres Gemälde: Utro naschej rodini (Der Morgen unserer Heimat, 1946-1948), des Künstlers Fjödor Schurpin (1904-1972). Auf dem Gemälde sieht man einen strahlenden Stalin im Vordergrund, der in die Ferne schaut. Er trägt eine feierliche weiße Militäruniform. Es ist ein herrlicher Sommertag, er hält seinen Mantel über dem Arm. Der Himmel ist blau. Im Hintergrund sieht man das weite Land, einen Acker und die braune Erde. Stalin steht jedoch auf einem grünen Feld vor dem Acker. Auf dem Acker sind mehrere Agrarmaschinen sichtbar, die gerade das Feld bearbeiten. Rechts sieht man auch die hohen Strommasten. Auf der linken Seite erkennt man in der Ferne Fabrikschornsteine, die die Fabriktätigkeit bzw. die Arbeit darstellen, da Rauch aus ihnen aufsteigt. Auf der rechten Seite zwischen den Elektrizitätsmasten ist ebenfalls ein rauchender Schornstein in weiter Ferne zu erkennen.
Zurück in die Zukunft?
Diese Lesebuchanalyse zeigt nur einen Realitätsausschnitt aus der Wirklichkeit der Zeit der Sowjetunion. Sie schafft es lediglich, einen kleinen Einblick in die sozialistische Schulerziehung zu geben, die in den Schulbüchern, den historischen Dokumenten der Zeit, konserviert ist. Die Ideale der Sowjetunion und der Kulturrevolution werden durch die Einbettung von Kunst in die Lesebücher unterstützt.
Die Gemäldeabbildungen zeigen den Schüler*innen, dass Kunst ein Teil ihres Lebens sein soll und allen gehört. Die proletarische Kunst in den Lesebüchern, die ausschließlich von männlichen Künstlern stammt, gibt einschlägige Beispiele für Schüler*innen, wie sie ihre Welt betrachten sollen, die Welt, die ohne Social Media und Fernsehen existiert. Gemälde fungieren als Fenster in die bunte Erwachsenenwelt der Revolution, den Alltag der Kinder davor und danach, sie visualisieren und emotionalisieren Ereignisse. Sie unterstützen Schüler*innen bei ihren Selbstfindungsprozessen und helfen dabei, sich einzuordnen und das Gefühl der Dankbarkeit zu ihrer Heimat Sowjetunion mit ihren technologischen Errungenschaften zu entwickeln. Kunst wird zu Zwecken der politischen Propaganda in den Lesebüchern geschickt benutzt - wenn nicht da, wo sonst sollen junge Generationen mit den Idealen der Sowjetunion konfrontiert werden?
Die Metapher "Osteuropa als versteinerte Macht", die die Zeitschrift Osteuropa Heft 3/202127 ziert, könnte auf die versteinerte Macht des heutigen Russlands zutreffen. Die Illusion einer Lockerung ist nun angesichts des Krieges in der Ukraine obsolet geworden - mit den Worten des Schriftstellers Wiktor Jerofejew ausgedrückt: "Russland ist mehrheitlich Stalin, Putin und Iwan der Schreckliche"28. Welches Heldenepos die Lesebücher der nächsten Jahre in sich tragen werden, wird sich zeigen. Eine Vorlage für eine sowjetische Idee gäbe es bereits.
Anmerkungen
1) Zitert auf https://stalins-bukvar.ru. Alle Übersetzungen aus dem Russischen - eigene Übersetzungen.
2) https://stalins-bukvar.ru. Gestartet wurde dieses private Crowdfinding-Projekt "Stalinskij bukvar" ("Stalins ABC") im Mai 2017 und wurde schnell zum Erfolg. Es handelt sich um den Nachdruck von sowjetischen Schulbüchern aus den Jahren 1933-1959. Eine Auswahl von sowjetischen Schulbüchern kann kostenlos als pdf-Datei heruntergeladen werden oder in gedruckter Form kostenpflichtig bestellt werden.
3) https://stalins-bukvar.ru 15.07.2022.
4) https://vk.com/stalins_bukvar, 27.07. 2022.
5) Ausführlicher zur 1. Regierung vgl. Dimitri Wolkogonow 1996: Lenin. Utopie und Terror, Düsseldorf/Wien/New York/Moskau: 165.
6) In der geschichtswissenschaftlichen Forschungsliteratur wird die Kulturrevolution als die Zeitperiode zwischen 1921/1922 und 1939 oder aber 1928 bis 1931 bezeichnet und oft als 1. und 2. Kulturrevolution dargestellt. Vgl. Sheila Fitzpatrick (Hg.) 1978: Cultural Revolution in Russia, 1928-1931, Bloomington/Indiana University Press; Michel David-Fox 1999: "What is Cultural Revolution?", in: The Russian Review Vol. 58, No. 2: 181-353.
7) Stalin, zitiert in: Marianne Krüger-Potratz 1987: Absterben der Schule oder Verschulung der Gesellschaft? Die sowjetische Pädagogik in der 2. Kulturrevolution 1928-1931, München: 83.
8) Dimitri Wolkogonow 1996 (s. Anm. 5): 375.
9) Elena Juschkova 2013: "Vlijanije kulturnoj politiki SSSR na schkolu Aisidori Dunkan v 1920-e godi" (Einflüsse der Kulturpolitik der UdSSR auf die Schule von Isidora Dunkan in den 1920er Jahren), in: Irina Gluschenko / Vitaly Kurennoj (Hg.): Vremya, vperyod! Kulturnaja Politika SSSR (Zeit, vorwärts! Kulturpolitik der UdSSR). Moskva: 178-196.
10) Irina Gluschenko/Vitaly Kurennoj (Hg.) 2013: Vremya, vperyod! Kulturnaja Politika SSSR (Zeit, vorwärts! Kulturpolitik der UdSSR). Moskva: 8.
11) Ebd.: 8.
12) Vasilij Kazin 1969: "Über die ästhetische Erziehung der Massen", in: Richard Lorenz (Hg.): Proletarische Kulturrevolution in Sowjetrussland, München: 33.
13) Luigi Volpicelli 1958: Die sowjetische Schule. Wandel und Gestalt, Heidelberg: 105.
14) Lunatscharski zitiert in: Luigi Volpicelli 1958 (s. Anm. 13): 104.
15) Oskar Anweiler 1964: Geschichte der Schule und Pädagogik in Russland vom Ende des Zarenreiches bis zum Beginn der Stalin-Ära, Heidelberg: 365.
16) Helen Parkhurst 1955: Die Welt des Kindes, Frankfurt am Main. Der Name kommt von der Stadt Dalton in den USA, wo Helen Parkhurst arbeitete. 2013 erhielt ein Gymnasium der Stadt Alsdorf den Deutschen Schulpreis für die Dalton-Pädagogik. https://www.deutscher-schulpreis.de/preistraeger/gymnasium-der-stadt-alsdorf, 29.07.22. Aber auch in der Corona-Zeit wurde das Lernen nach der Dalton-Pädagogik positiv wahrgenommen, https://deutsches-schulportal.de/schulkultur/marie-kahle-gesamtschule-bonn-deutscher-schulpreis-2020-wie-lernen-im-eigenen-tempo-auch-in-corona-zeiten-gelingt/, 29.07.22.
17) Volkskommisariat Aufklärung 1917-1946, danach: Ministerstvo Prosvetschenija.
18) Rainer Salzmann 1982: "Die Darstellung der deutschen Geschichte in den sowjetischen Schulgeschichtsbüchern", in: Internationale Schulbuchforschung, Vol. 4, No. 1: 5.
19) Aleksej Alekseewitsch Vagin / Nadeschda Borisovna Speranskaja 1959: Osnovnye voprosi metodiky prepodavanija istorii v starschich klassach (Ausgewählte Kapitel zur Methodik des Geschichtsunterrichts der älteren Klassen), Moskva: 131.
20) Rodnaja Retsch (Heimatsprache). Kniga glja tschenija v tschetvertom klasse natschalnoj schkoli (Das Lesebuch in der 4. Klasse der Grundschule). Moskva 11 1955. Autorinnen: Solovjeva, Schepetova, Volinskaja, Karpinskaja und Kanarskaja, 287 Seiten.
21) Victoria Storozenko: "›Practice basic hygiene, and you’ll stay healthy‹: How primary school reading textbooks transmitted cultural education in the Soviet Union", in: Waynne James, Cihan Cobanoglu, & Mahittin Cavusoglu (Eds.): Advances in global education and research (Vol. 4: 1-17). South Florida USF M3 Publishing. https://www.doi.org/10.5038/9781955833042, 29.09.22.
22) Lenin, zitiert in: Dimitri Wolkogonow 1996 (s. Anm. 5): 391.
23) Auch die Autorin des Artikels hat mit diesen Lesebüchern gelernt.
24) Laut des Oschegov-Wörterbuchs (https://slovarozhegova.ru) bedeutet "bogatir" - 1. "der Held aus russischen Sagen" - 2. "im übertragenen Sinne: der Mensch, der sehr viel Kraft, Ausdauer und Mut hat".
26) Zitiert im Lesebuch Heimatsprache: 97.
27) https://zeitschrift-osteuropa.de/hefte/2021/3/.
28) Aus einem Interview in Deutschlandfunk Kultur am 30.04.2022.
Dr. Victoria Storozenko (Jg. 1974) hat die Staatliche Pädagogische Universität Herzen in Sankt-Petersburg abgeschlossen und danach an der Philipps-Universität Marburg ihr 1.Staatsexamen fürs Gymnasiallehramt gemacht, promoviert und als wissenschaftliche Mitarbeiterin gearbeitet. Zurzeit unterrichtet sie Deutsch als Zweitsprache für ukrainische Schulkinder und absolviert ihr Referendariat an einem hessischen Gymnasium.