Treppensichten

Die historische Unkenntnis von Politikern, einschließlich Ministern, und entsprechenden Journalisten ist himmelschreiend: am 29. August seien auf der Reichstagstreppe „Nazi-Fahnen“ geschwenkt worden, hieß es. Da war keine einzige Nazifahne. Zu sehen waren Fahnen des kaiserlichen Deutschlands: eine schwarz-weiß-rote Trikolore mit gleichbreiten Querstreifen. Das Nazi-Reich hatte eine rote (!!) Fahne, in der Mitte ein großes weißes Loch, in dem ein schwarzes Hakenkreuz prangte. Auch die Reichskriegsflagge des Nazi-Reiches war in der Grundfarbe rot, die des Kaisers weiß.

Die schwarz-weiß-rote Fahne war das Symbol von Bismarcks Reichseinigung, nach zeitgenössischer Interpretation verkörperte Schwarz-Weiß die Farben Preußens, während Rot-Weiß als Farben der Hansestädte galten. Bismarck ließ diese Farben in der Bundesverfassung des Norddeutschen Bundes 1867 verankern, 1871 wurden sie für die Flagge des deutschen Kaiserreiches übernommen. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg und der Novemberrevolution 1918 galt diese Fahne als Ausdruck des gescheiterten monarchistischen und militaristischen Systems, und in der Weimarer Reichsverfassung wurde 1919 Schwarz-Rot-Gold als Nationalflagge festgelegt. Allerdings blieb die Handelsflagge, unter der deutsche Schiffe fuhren, Schwarz-Weiß-Rot, allerdings mit einer schwarz-rot-goldenen Gösch links oben.

Die Weimarer Republik durchzog ein Flaggenstreit. Die Sozialdemokraten, unterstützt von den anderen Parteien der Mehrheit der Reichsverfassung von 1919 (Zentrum und Linksliberale) unterhielten als Wehrorganisation das „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“, während die Deutschnationalen weiter unter Schwarz-Weiß-Rot marschierten und die Kommunisten mit ihrem Rotfrontkämpferbund unter der roten Fahne der Weltrevolution. Das hatte auch seine ideologische Dimension, die Rechten bemühten sich, „Schwarz-Rot-Mostrich“ zu verhohnepiepeln, während die staatstragenden Kräfte darauf verwiesen, dass Schwarz-Rot-Gold bereits die Farben des alten „Heiligen Römischen Reiches“, der Freiheitskämpfer von 1813 und der Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49 gewesen waren.

1925 wurde der kaiserliche Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg Reichspräsident. Ein Jahr später erließ er eine Flaggenverordnung, wonach die deutschen Auslandsvertretungen neben der schwarz-rot-goldenen Reichsflagge auch die schwarz-weiß-rote Handelsflagge hissen sollten. Reichskanzler Hans Luther hatte das gegengezeichnet und musste nach massiven Protesten zurücktreten. Die Flaggenverordnung jedoch blieb in Kraft. Nach Hitlers „Machtergreifung“ wurde sofort Schwarz-Rot-Gold unterbunden und bereits im März 1933 Schwarz-Weiß-Rot als Nationalflagge verordnet, parallel dazu jedoch bereits die rote Nazifahne mit dem weißen Loch und dem Hakenkreuz. Damit wurde die Armbinde der Nationalsozialisten, die sie bereits seit Anfang der 1920er Jahre trugen, zum Nationalsymbol erhoben. Aber erst nach dem Tode Hindenburgs verstanden sich die Nazis 1935 dazu, die Hakenkreuzfahne zur alleinigen Reichs- und Nationalfahne zu erklären.

Alle Verbrechen des Nazi-Reiches wurden unter der Hakenkreuzfahne begangen. Für die schwarz-weiß-rote Fahne gilt der Befund von 1918: sie stand für autoritäre Herrschaft, Militarismus und Krieg – im Sinne des Ersten Weltkrieges. Sie steht nicht für die Nazi-Verbrechen. Insofern ist es richtig, dass diese Fahnen auf den Treppen des Reichstages nichts zu suchen haben. Dort aber waren – auf dem vielbenutzten Video, das von wem auch immer stammt – auch Fahnen der USA, Russlands, Polens, der Türkei und Berlins zu sehen. Die hat übrigens auch die Farben Schwarz-Weiß-Rot. Hoffentlich kommt jetzt kein „politisch Korrekter“ auf die Idee, die Farben Berlins zu verändern.

Wenn man dieses Video noch einmal in Ruhe anschaut, wird klar: Es bestand offenbar nicht die Absicht, den Reichstag in der Tat „zu stürmen“, sondern diese Bilder zu produzieren. Dass diese Leute eigentlich Nazis seien und sich nur nicht getrauten, mit Nazi-Fahnen zu schwenken, ist eine Unterstellung. Selbst wenn dieser Satz richtig wäre, folgt: Diese Demokratie ist wehrhaft, weil Nazis sich nicht trauen, Nazi-Symbole öffentlich zu präsentieren, weil sie wissen, dass sie dann unweigerlich in den Karzer kommen. Alarmistisches Gerede der nicht-rechten Parteien und ihrer Funktionsträger ist daher als Wertaussage, nicht als Tatsachenfeststellung zu verstehen. Trotzdem wäre der Gesundheitsminister, der ja ein prospektiver CDU-Vorsitzender sein möchte, gut beraten gewesen, sich sachkundig zu machen. Bevor er sich die Nazi-Fahnen auf den Reichstagstreppen halluziniert.

Die Wochenzeitung der freitag meinte zu dieser Demonstration: „Wirr ist das Volk“. Das meinten übrigens auch Erich Honecker und das SED-Politbüro Anfang Oktober 1989 über die damaligen Demonstranten in der DDR. Das Problem ist nur: „Wir sind das Volk“ wird immer von unten artikuliert, nicht von oben verordnet. Ansonsten gilt der alte Grundsatz: „Dann soll doch die Regierung das Volk auflösen, und sich ein neues wählen.“ Was die linksintellektuelle Schickeria für angemessen hält, muss nicht dem Verständnis des „Pöbels“ (was eigenlich: Le Peuple, das Volk meint) entsprechen.

Krankenschwestern, Busfahrer, Kassiererinnen an der Supermarktkasse und viele andere wurden von den bürgerlichen Insassen des „Home-Office“ beklatscht, als Corona auf dem Höhepunkt war. Jetzt heißt es, es sei kein Geld da für angemessene Entlohnung. Wieder mal wurden die Wenig-Verdiener von den Besser-Verdienenden verarscht. Die Arbeiterklasse wählt AfD, weil sie von SPD und Linken verraten wurde, und die Grünen sind ohnehin eine Partei der Besserverdienenden, sozusagen die FDP in vegan, mit Ökosocken und Fahrrad statt Porsche. Wir sollten die Demonstrationen in Berlin Ende August mal so betrachten.

Bei der zweiten Corona-Welle werden diese gemissachteten Menschen wahrscheinlich wieder ihre Pflicht tun, ohne Murren und Knurren: „Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun“. Das ist eine Sache, die die verkifften Mate-Trinker vor ihren Bildschirmen nicht verstehen – nur: aus dem Internet kommt die realexistierende Hilfe bei Corona-Befall nicht. Rein sachlich betrachtet wäre es naheliegend, gerade dann zu streiken und erst wieder ans Werk zu gehen, wenn eine ernsthafte Einkommenserhöhung definitiv zugesagt ist.

Auch in diesem Sinne sind die Fahnen des Kaisers zunächst als absurder, nicht-linker Protest gegen den faulenden Spätkapitalismus zu verstehen.