»Never Again«

Staatliche Erinnerungskultur im post-genozidalen Ruanda

Unter der Devise »Never Again« setzt die Regierung des RPF (Ruandische Patriotische Front) seit Juli 1994 auf eine vereinende Versöhnungspolitik. Alljährlich vom 7. – 13. April wird das Kwibuka (Erinnern) begangen. Zum diesjährigen 25. Erinnerungstag wurde die Trauerzeit bis zum 4. Juli ausgeweitet, der Tag, an dem 1994 der Genozid beendet wurde und der heute als Liberation Day gefeiert wird. Den Auftakt bildet jedes Jahr eine Gedenk- und Trauerzeremonie am 7. April, dem internationalen Tag gegen die Verbrechen des Genozids in Ruanda, im Konferenzzentrum in Kigali. Überlebende und Angehörige erzählen dabei öffentlich ihre Geschichten und oft sind internationale StaatsvertreterInnen zu Gast. Abends findet im Amahoro-Stadion (Amahoro = Frieden) eine Totenwache statt.

Während der Trauerzeit steht der Alltag still. Viele RuanderInnen müssen nicht arbeiten und besuchen stattdessen die Gedenkveranstaltungen, die selbst in den kleinsten Gemeinden stattfinden. Bis in die entlegensten Orte sind Gedenktafeln angebracht. An jedem letzten Samstag im Monat ist die Bevölkerung per Gesetz dazu angehalten, den öffentlichen Raum aufzuräumen und die Gedenktafeln zu pflegen, die häufig von Blumenbeeten umgeben sind. Bei diesem Umuganda (Beitrag) soll sich die Nachbarschaft kennenlernen und zusammen arbeiten, denn 1994 kam es häufig zu Morden unter NachbarInnen.

Erinnerungszeiten und Erinnerungsorte

Fünf der Kirchen und Schulen, in denen Tutsi vergeblich Schutz vor ihren MörderInnen gesucht hatten, wurden zu Gedenkorten umgebaut. In den meisten sind Gebeine der Opfer zu sehen. Im Memorial im südlichen Murambi liegen sogar durch Kalk mumifizierte Leichen, um der Nachwelt die Mordtaten zu veranschaulichen. 1994 konnten nur wenige Ermordete von ihren Angehörigen identifiziert und beerdigt werden, viele wissen bis heute nicht, was mit ihrer Familie und ihren FreundInnen geschah. Dem perfekt organisierten Morden stand während des Genozids die gewollte Verhinderung eines würdigen Begräbnisses gegenüber. So hat das heutige kollektive Gedenken die zusätzliche Aufgabe, das sabotierte individuelle Andenken zu ersetzen.

2004 wurde mit internationaler Unterstützung der größte Gedenkort für die Opfer eröffnet, das Kigali Genocide Memorial. Vor allem die Organisation Aegis Trust, die auch beim britischen National Holocaust Centre involviert ist, war maßgeblich daran beteiligt. Beim Betreten des Memorials gelangt man zuerst in die Ausstellung über die (post-)koloniale Geschichte der Tutsi in Ruanda: The 1994 Genocide Against The Tutsi. Mithilfe von Bildern und Informationstafeln werden die Vorgeschichte und der Verlauf des Genozides und die juristische Aufarbeitung dargestellt. Dann kommt man in die zweite Ausstellung Wasted Lives, in der andere internationale Verbrechen und Genozide, wie zum Beispiel jene in Armenien und Namibia, thematisiert werden. Im letzten Raum, dem Childrens Room, hängen Bilder von im Genozid getöteten Kindern an der Wand. Mittlerweile betreut Aegis Trust auch verschiedene Bildungsprogramme. Bildung spielt im heutigen Ruanda eine zentrale Rolle. Die ganze Schulzeit lang lernen die Kinder über die Ursachen und Folgen des Genozides und wie ein solcher in Zukunft verhindert werden kann.

Entsprechend soll die ruandische Erinnerungskultur eine Matrix des gesamten gesellschaftlichen Lebens bilden. Die ethnischen Bezeichnungen wurden aus dem Ausweis gestrichen, die Kategorien Hutu und Tutsi staatlicherseits abgeschafft und durch den einenden Begriff RuanderIn ersetzt. Politische Parteien dürfen keine ethnische Ausrichtung mehr haben. 2003 wurde eine neue ruandische Verfassung eingeführt, in der ein Genozid-Präventionsgesetz verankert ist, das jede Leugnung des Genozids sowie die Verbreitung spaltender Ideologie verbietet. Zur Aufarbeitung des Genozids wurden eigene Institutionen gegründet, wie etwa die Nationale Einheits- und Versöhnungskommission.

Krise der Erinnerungskultur …

Ein wichtiger Aspekt bei der Aufarbeitung war die strafrechtliche Verfolgung der Génocidaires, wie die Tätergruppe genannt wird. Internationale Aufmerksamkeit bekamen vor allem die Gacaca-Strafprozesse, die aus vorkolonialen Rechtsstrukturen übernommen wurden. Mithilfe von LaienrichterInnen wurden Verbrechen dort verhandelt, wo sie geschehen waren, und die lokale Bevölkerung mit einbezogen. Es gab keine direkte Anklage oder Verteidigung, stattdessen wurden Interviews geführt. Bei den öffentlichen Verhandlungen konnten alle Beteiligten für oder gegen die Schuld der Angeklagten sprechen, und es fanden nicht selten Dialoge zwischen Überlebenden und VerfolgerInnen statt. Das Gerichtssystem versprach, beim Aufbau der Einheit zu helfen und Vergebung zu ermöglichen. Allerdings schwand über die Jahre das Interesse. Anstatt wöchentlich mit der Vergangenheit konfrontiert zu werden, wollte man lieber mit dem alltäglichen Leben fortfahren und in die Zukunft blicken. So empfanden viele RuanderInnen das Ende der Gacaca-Gerichte 2012 als Erleichterung.

Die Krise des Erinnerns umfasst weitere Bereiche. So kritisiert Gerd Hankel, Völkerrechtler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung, die Umsetzung der oben genannten Genocide Memorials. Während das Memorial in Kigali als Museum mit verschiedenen Ausstellungen fungiert und zusätzlich ein Massengrab für über 250.000 Menschen umfasst, sind beispielsweise die Memorials in Ntarama und Murambi eher Ausstellungsorte für nicht identifizierte Knochen, Folterinstrumente oder mumifizierte Leichen. Hinsichtlich der Akzeptanz der Memorials sieht Hankel Probleme. Viele Überlebende würden die Orte meiden, weil sie schmerzhaft genau wissen, was geschehen ist, und sie noch immer Angehörige vermissen. Ehemalige Hutu dagegen meiden die Orte, weil diese die Vorgeschichte des Genozids aus ihrer Sicht einseitig beschreiben und auch einige Angehörige der Hutu-Mehrheit Opfer von Verbrechen geworden sind – was in der offiziellen Geschichtsschreibung aber keinen Platz findet.

… und ihr autoritärer Gehalt

Auf den ersten Blick nicht als Teil der Erinnerungskultur erkennbar, verkörpert auch Staatspräsident Paul Kagame eine lebendige Erinnerung und symbolisiert den Fortschritt des Landes. Kagame leitete 1994 die Mission, durch die die RPF den Genozid beendete und zur Regierungspartei wurde. Bis ins Jahr 2000 war er Vizepräsident und Verteidigungsminister, seither ist er Präsident. Bei den Präsidentschaftswahlen 2003 erhielt Kagame 94 Prozent der Stimmen. Europäische WahlbeobachterInnen sprachen von einer »undurchsichtigen Erfassung und Weitergabe der Wahlergebnisse«, der Einschüchterung der Bevölkerung durch die RPF und dem Verschwinden einer Wahlurne. Auch 2010 und 2017 wurden ähnliche Vorgänge beobachtet. In den letzten 25 Jahren verbot oder behinderte die Regierung zudem etliche oppositionelle Parteien.

Andererseits entwickelte sich innerhalb dieser 25 Jahre die Stätte des Genozides zu einer der am meisten prosperierenden Republiken in Ost- und Zentralafrika. Die ruandische Erinnerungskultur ist so mit einem spektakulären Friedensprozess verbunden. Die autoritäre Regierungspolitik wird für die ruandische Erinnerungskultur allerdings zu einem Krisenfaktor, weil sie von der Regierung funktionalisierend und eindimensional betrieben wird – oder zumindest unter diesem Verdacht steht. Kritik an Kagame wird stets mit dem Hinweis gekontert, dass nur er den Friedensprozess garantiere.

Im Spannungsfeld zwischen dem imperativen »Never Again« und einer demokratischen Erinnerungskultur hat die ruandische Regierung die Tür zur rassistischen Hetze von 1994 erfolgreich zugeschlagen. Die Tür zum demokratischen Diskurs offen zu halten, bleibt aber eine Herausforderung.

 

 

Annika Lüttner studiert Politik- und Kulturwissenschaft an der Universität

 

 

 

1994 geschah in Ruanda ein Genozid. »100 Tage« lang folterten, schossen oder schlugen fanatisierte Hutu-Milizen und ihre SympathisantInnen über 800.000 RuanderInnen zu Tode, weil diese als Tutsi oder als andere Volksfeinde galten. Erst der Einmarsch der von Tutsi gegründeten Ruandischen Patriotischen Front (RPF) beendete das Morden und entmachtete die dafür verantwortliche Hutu-Regierung. Beim folgenden Wiederaufbau erhielt das (auch juristische) Aufarbeiten, Erinnern und Aussöhnen einen zentralen Stellenwert.

Die Erinnerungskultur in Ruanda ist somit keine, die erst nach einer Phase der »Abkühlung« begann. Vielmehr ist sie direkt aus dem genozidalen Krieg als zentrales Moment der neuen Staatsräson entstanden. Für Ruanda brachte das erste Vierteljahrhundert nach dem Genozid einen rasanten Prozess der Aussöhnung und des Wiederaufbaus – während in der benachbarten DR Kongo noch heute dorthin geflohene, rassistische Hutu-Milizen ihr Unwesen treiben. Die teils autoritäre, eindimensionale Politik der immer wiedergewählten RPF in Ruanda erscheint in einem milderen Licht, wenn man bedenkt, dass sie ihr Aussöhnungsprojekt zunächst gegen hunderttausende MörderInnen verteidigen musste, die die neue Regierung etwa vom damaligen Zaire aus stürzen wollten. Dieser Kontext macht die flächendeckende ruandische Erinnerungskultur, so beschränkt sie vor Ort auch sein mag, zu einem einzigartigen Projekt.

 

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