»Die Wahrheit« und »kerzengerade Abgrenzungslinie« des Olaf Scholz

Hamburg nach dem G20-Gipfel

Olaf Scholz hat in einer Regierungserklärung die Entscheidung, den G20-Gipfel nach Hamburg zu holen, verteidigt. Zugleich hat er um Entschuldigung für die Ausschreitungen beim Treffen gebeten: Es sei trotz aller Vorbereitungen nicht durchweg gelungen, »während des G20-Gipfels die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten«.

Im Nachhinein sei klar, dass die Sicherheitsbemühungen nicht gereicht hätten, um einer neuen Dimension der Gewalt Herr zu werden und Straftaten zu vereiteln. Scholz wies Bewertungen zurück, dass Gipfel-Veranstalter und Polizei eine Mitverantwortung für die Eskalation am Wochenende trügen. Verantwortlich für die Gewalttaten seien einzig und allein jene Straftäter, die mit einer unglaublichen Rücksichtslosigkeit und massiver krimineller Energie diese schweren Straftaten begangen hätten.

Zur Wahrheit – so Scholz – gehöre ferner: Wer zu Demonstrationen aufrufe und dabei eindeutig auf eine Beteiligung des »Schwarzen Blocks« ziele, trage Mitverantwortung für das Handeln jener Kriminellen. Er übte scharfe Kritik an Abgeordneten der Linkspartei. »Ich jedenfalls finde es unerträglich, dass sich sogar Mitglieder der Bürgerschaft bei Demonstrationen mit denen unterhaken, die am Abend vorher ganze Straßenzüge verwüstet haben.« Er forderte alle Parteien auf, eine »kerzengerade Abgrenzungslinie« zum Extremismus zu ziehen.

Was diese selbstgerechte, autoritäre Inszenierung eines sozialdemokratischen Politikers sollte, machte anschließend der SPD-Fraktionschef Andreas Dressel klar: »Die Linke ist der parlamentarische Arm des Schwarzen Blocks.« Es geht um eine Neuauflage des »Linken«-Bashings. Dazu einige Anmerkungen.

Im Gegensatz zu der These, der G20-Gipfel sei ein überflüssiges und teures Event, halten wir die Beratungen auf und am Rande des G20-Gipfels gerade in der gegenwärtigen Konstellation der Weltunordnung für unverzichtbar. Die Ablehnung des Treffens der politischen Führung von wichtigen kapitalistischen Industrie- und Schwellenländern durch militante Gegner, ist politisch sehr fragwürdig, weil dieses »zentrale Forum zur internationalen Zusammenarbeit in Finanz- und Wirtschaftsfragen« zwar keine völkerrechtliche Legitimität hat, aber eine Ebene zur Verminderung und Steuerung von gravierenden weltpolitischen Konflikten darstellt. [1]

Gerade in diesen Zeiten mit unberechenbaren Diktatoren an der Spitze einiger Nationen ist ein Austausch nötig, Regierungschefs müssen miteinander reden können – beispielsweise über Handelskonflikte oder den Klimaschutz. Sie müssen außerdem, und auch dafür sind solche Konferenzen gut, in den Monaten vor ihrem Treffen spüren, welche Themen der internationalen Politik die BürgerInnen interessieren.

 

Ein vorprogrammierter Konflikt

Die Bundesregierung und der Hamburger Senat hielten die Durchführung des G20-Gipfels in Deutschland für unverzichtbar. Dabei stellte sich schon frühzeitig die Frage, ob die Entscheidung, den Gipfel in der Hamburger Innenstadt und in unmittelbarer Nähe zum links-alternativen Schanzenviertel mit seinem linksautonomen Zentrum »Rote Flora« stattfinden zu lassen, zu vertreten sei. Man hätte sicherlich auch in Hamburg einen anderen Tagungsort finden können.

Die Sicherheitsbehörden hatten schon früh in internen Lageeinschätzungen vor einem innerstädtischen Konferenzort gewarnt. »Aufgrund des urbanen Umfelds und der starken linksextremistischen Szene wird Hamburg die geeignete Bühne für Ausschreitungen gewalttätiger Linksextremisten aus dem In- und Ausland sein«, warnte das Bundesamt für Verfassungsschutz im Mai in einer internen Lageeinschätzung. »Klares Ziel des militanten Spektrums ist es dabei, eine Eskalation der Straßenmilitanz und damit einen Kontrollverlust für die eingesetzten Sicherheitskräfte herbeizuführen«, hieß es weiter. In anderen Papieren war davon die Rede, dass die Autonomen den Veranstaltungsort Hamburg als »Provokation« empfänden und die besondere Nähe der Messehallen zum Schanzenviertel ein besonderes Problem darstelle.

Wer nachträglich als politischer Verantwortungsträger behauptet, er sei von den Ausschreitungen überrascht worden, sagt definitiv nicht die Wahrheit. Der Konflikt war programmiert. Deshalb haben die politisch Verantwortlichen und die Polizeiführung nach diesen eindeutigen Ansagen auch alle verfügbaren Kapazitäten – letztlich mehr als 20.000 Polizeikräfte – in der Hansestadt zusammengezogen. In seiner selbstgerechten Entschuldigungsrede vor der Bürgerschaft billigte Bürgermeister Olaf Schulz zu, dies habe aber letztlich nicht gereicht, um die Sicherheit der HamburgerInnen zu gewährleisten.

Schlichtweg ignoriert wurde von den Verantwortlichen der Sicherheitskonzeption für das Treffen in Hamburg, vor allem von Einsatzleiter Dudde, der Erkenntnisstand in der Polizei-Wissenschaft: In Auswertung vieler Versammlungsszenarien wurde immer wieder festgestellt, dass eine harte Linie nur zur Eskalation führt und es dann eine seltsame Achse zwischen den Hardlinern der Polizei und den »gewaltbereiten Chaoten« gibt. [2]

Für uns steht außer Frage: Auch bei den diversen Einsätzen von über 20.000 Polizeikräften ist es zu »Übergriffen« und »Fehlverhalten« gekommen, davon zeugen vielfältige Berichte von Augenzeugen. Pauschal von »heldenhaftem Verhalten« der Polizeikräfte zu sprechen, dabei offen zu lassen, was darunter zu verstehen ist, ist fragwürdig. Zumal alle BeobachterInnen noch vor Beginn des eigentlichen G20-Treffens einen konkreten Fall vor Augen hatten: Drei komplette Berliner Einsatzhundertschaften, etwa 220 Polizisten, sind wegen »unangemessenem Verhalten« mit sofortiger Wirkung aus dem Einsatz entlassen worden. Die Beamten sollen in ihrer Unterkunft in Bad Segeberg exzessiv gefeiert und sich daneben benommen haben.

 

Verlemundungen und dumpfbackige Rhetorik

Ein Teil der politischen Linken – Linksextremisten oder -autonome – versteht sich als entschiedener Gegner unserer gesellschaftlichen und politischen Ordnung. Sie sind, wie man jetzt in Hamburg gesehen hat, in der Wahl ihrer Mittel nicht zimperlich und halten Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzungen für legitim. Wir teilen dies nicht und bestehen auf strikter Abgrenzung gegenüber dieser Einstellung und dem entsprechenden Verhalten. Darüber wäre im Fall von diktatorischen Strukturen oder ähnlichen Notstandskonstellationen anders zu diskutieren. Eine gravierende politische Schwäche innerhalb des Protestlagers war die unzureichende oder fehlende Kritik an gewollter gewaltsamer Militanz von Teilen der Bewegung.

In einem der vielen Blogs im politischen Umfeld der Szene heißt es dazu: »Die Exekutive in der bürgerlichen Gesellschaft ist notwendig immer im Ausnahmezustand, da sie in jeder Situation spontan über die Anwendung von Gewalt entscheidet. Der Ausnahmezustand ist also nicht das Äußerliche der bürgerlichen Gesellschaft, sondern alltäglicher Bestandteil ihrer Herrschaftspraxis.« [3] Das daraus abgeleitete Widerstandsrecht gegenüber den repressiven Organen imperialistischer Mächte ist bezogen auf die gesellschaftliche Realität in Deutschland völlig absurd. Auch Provokationen seitens der Staatsorgane können keine gewalttätigen Aktionen legitimieren.

Der Verfassungsschutz spricht aktuell von einem »linksextremistischen Personenpotenzial« in Deutschland von ca. 28.000 Personen und von mehr als 8.000 »gewaltbereiten Linksextremisten«, und warnt vor einer anhaltenden Ausbreitung in Deutschland und Europa. Unklar ist freilich, wie die Sicherheitsdienste dieses Personenpotenzial ermitteln.

Zu den Gemeinplätzen der Berichterstattung über die Eskalationen in Hamburg gehört die Behauptung, Gewalt von links werde »verharmlost« oder sei viel zu lange »unterschätzt« worden. Das wird auch durch noch so häufige Wiederholung nicht wahrer. Diese »kerzengrade Abgrenzungslinie« schlägt in Verleumdungen um: »Die Linke ist der parlamentarische Arm des Schwarzen Blocks.« Gefährlicher als die dumpfbackige Rhetorik der Sozialdemokraten Dressel und Groth ist die Polemik von FDP-Chef Lindner oder der Hamburger FDP-Vorsitzenden, Suding, die linke Parteien auffordern, »die Politik der falschen Toleranz zu beenden«.

Mit »Vulgärkritik« am Kapitalismus bereite man Linksextremen den Boden. [4] In Hamburg müsse man endlich auch auf der Schanze öffentliche Sicherheit durchsetzen. In Rückzugsorten der Linksautonomen wie der Roten Flora und der Rigaer Straße in Berlin dürfe der Staat keine rechtsfreien Räume zulassen.

Mehr noch: Die Bemühungen, in der aktuellen aufgeladenen Atmosphäre eine Erklärung für die Ausbreitung des »Linksextremismus« und für die Eskalation zu finden, führen dazu, dass man sich selbst erklären muss: Wie man es denn mit der Gewalt halte? Das ist natürlich ein durchsichtiges Manöver. Denn nach Ursachen für die Gewalteskalation zu suchen, heißt noch lange nicht, dass man sie gutheißt oder zur Nachahmung aufrufen will.

Von Vorurteilen und Feindbildern abgesehen, ist es schwer, die Linksautonomen und ihre Dynamik zu verstehen. Unter ihnen sind Leute, die ein hohes Bildungsniveau haben. Anders als sozialistisch-kommunistische Kapitalismuskritiker lehnen sie organisatorische Strukturen und kollektive Formen eher ab. Den meist jungen, männlichen Aktivisten geht es darum, die eigene Freiheit im Moment des Protests auszuleben: »Wir träumen nicht, das Bestehende zu verändern, uns genügt, wenn wir es brennen sehen.«

 

Schwarze Block keine homogene Gruppe

Der schwarze Block in Hamburg zog im Schanzenviertel viele MitläuferInnen und Schaulustige an. Er ist ein Symbol, das Linksautonome für sich nutzen, um Militanz und Opposition auf der Straße auszudrücken. Die Theatralik des Agierens und der Kick bei Grenzüberschreitungen entfalten offenkundig eine Attraktivität. »Von der eruptiven Massenmilitanz ging eine mehr oder weniger unbewusste Faszination und Irritation für die Gesellschaft aus, die sich im Diskurs über die ›sinnlose Gewalt‹, aber auch in endlosen Livestreams und den Selfies vor den brennenden Barrikaden äußerte. Diese Irritation musste sogleich wieder vergessen gemacht werden, indem die Schanze am Morgen danach in einer Bürgeraktion aufgeräumt wurde.« [5]

Das Pathos und der provokative Habitus zielen auf Jugendliche und Heranwachsende, man versucht sich als junge Avantgarde zu inszenieren und eine erlebnisorientierte Klientel zu erreichen. Der schwarze Block geht auf das Lebensgefühl von Menschen aus urbanen Quartieren mit ihren multikulturell entwurzelten und gentrifizierten Konflikten zurück. Laut Polizeiangaben waren unter den 186 festgenommenen Gewalttätern in Hamburg neben 132 Deutschen, acht Franzosen, sieben Italienern und fünf Schweizer Staatsbürgern auch Personen aus Russland und Spanien. Der schwarze Block funktioniert als anlassbezogene Versammlung mehr oder minder Gleichgesinnter. Gestandene Linksautonome, Sympathisanten und MitläuferInnen schließen sich zusammen zu einem Gemeinschaftserlebnis.

Nachträglich soll jetzt die neue Qualität des schwarzen Blocks aufgeklärt werden. Hamburgs Kriminaldirektor Jan Hieber ist Chef der Sonderkommission »Schwarzer Block«. Ihm werden rund 170 Mitarbeiter zugewiesen, die Bundespolizei und die Polizei der Länder schicken Hilfe, um die Straftäter anklagen zu können.

Festzuhalten ist, dass der schwarze Block eben keine homogene Gruppe ist. In Hamburg sollen sich laut Augenzeugen bei den Plünderungen auch unpolitische junge Leute spontan schwarz angezogen und vermummt haben. »Die Massenmilitanz führte zu einer Beteiligung widerlichster Personengruppen an den Riots. Wer auch immer im Einzelnen daran beteiligt war: allein schon die andauernde Beleidigung der Bullen als ›Huren‹, ›Hurensöhne‹ oder ›Fotzen‹ ist nicht zu tolerieren. Mit solchen sexistischen Mackern kann es keine linke Praxis geben. Es zeigt sich auch hier: die politischen Gegner_innen stehen leider nicht nur auf der anderen Seite der Barrikade.« [6]

Zudem wird auch berichtet, dass Rechtsextremisten die Chance zum Krawall genutzt und sich ebenfalls unter die Linksextremisten gemischt haben. Seit Jahren treten junge Neonazis mitunter ganz in Schwarz auf, als selbsterklärte »autonome Nationalisten«, und versuchen mit dem selben Pathos und dem provokativen Habitus sich als junge Avantgarde zu inszenieren und eine erlebnisorientierte Klientel zu erreichen und damit den Linksautonomen den Platz streitig zu machen.

Die linksautonome Szene wird Abgrenzungsprobleme mit den autonomen Nationalisten bekommen, wenn sie sich nur verbal und ideologisch gegen Sexismus, Antisemitismus, Antizionismus und Homophobie abgrenzt, aber vom oben genannten Habitus der Faszination der Massenmilitanz nicht ablässt.

Was bleibt? Ganz offenkundig versuchen die Hamburger SPD und der Senat einen Befreiungsschlag, indem sie die alleinige politische Verantwortung der linksautonomen Szene, aber darüber hinaus auch der Linkspartei in Hamburg aufbürden will. Auch wenn die Linkspartei in Vorbereitung und Durchführung ihrer Vorstellungen rund um den G20-Gipfel nicht gerade eine eindeutige Haltung eingenommen hat, ist dieser Versuch des Linken-Bashings durchsichtig und von kleinkarierten Motiven getragen.

Allerdings wäre es fahrlässig anzunehmen, die angedeuteten Absichten des Abräumens der »Roten Flora« und anderer repressiver Maßnahmen seien belanglos. Es ist nur zu hoffen, dass es den kühleren Köpfen in Zivilgesellschaft und Politik über die nächsten Wochen gelingt, die Aufklärung über die »Eskalationen« voranzutreiben und den Hardlinern der »kerzengraden Abgrenzungslinie« Zügel anzulegen, da sonst eine weitere Vergiftung des politischen Klimas in der Hansestadt zu befürchten ist.

 

[1] Siehe auch der Kommentar vom 8. Juli »Kompromisse – Massenproteste – militante Krawalle«: www.sozialismus.de/kommentare_analysen/detail/artikel/kompromisse-massenproteste-militante-krawalle/
[2] Zur Einsatztaktik gibt es viele offene Fragen, z.B. weshalb bei den Gewaltexzessen im Schanzenviertel erst so spät eingegriffen wurde. Zur Klärung u.a. dieser Fragen wäre ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss das geeignete Instrument. Im Unterschied zu einem Sonderausschuss, wie er von SPD und Grünen präferiert wird, hätte er deutlich bessere Möglichkeiten, Aufklärung zu leisten.
[3] http://achtermai.blogsport.de/2017/07/09/staat-polizei-riot-und-die-linke-thesen-zu-hamburg/.
[4] Dabei bereitet gerade die FDP, wie ihre Beteiligung an den Landesregierungen in Nordrhein-Westfalen und Schleswig Holstein zeigt, durch das Abräumen von sozialen Schutzrechten wie Mindestlohn und Mietpreisbremse, einer weiteren Verschärfung der sozialen Spaltung und damit der Zuspitzung der »Vulgärkritik« am Kapitalismus den Boden.
[5] »staat-polizei-riot-und-die-linke-thesen-zu-hamburg«. Punkt 5.
[6] Ebd. Punkt 7