Bei Weitem nicht so viel, wie es auf den ersten Blick erscheint. Zu dieser Ansicht führt der Blick auf die Analysen der Stimmabgabe.
Was Großbritannien insgesamt angeht, so ist das Ergebnis klar: 52 Prozent der an der Abstimmung Teilnehmenden haben für den Brexit gestimmt – ein knappes, dennoch deutliches Votum. Von den 92 Prozent der Wahlberechtigten, die sich für das Referendum registrieren ließen, haben nur gut 70 Prozent abgestimmt, so dass nur eine Minderheit der Inselbewohner für den Brexit votierte. Obwohl die demokratietheoretischen Implikationen von Volksabstimmungen hier nicht vertiefend diskutiert werden können, erhebt sich doch die Frage, inwieweit derartige politisch, ökonomisch und auch kulturell vielschichtige, das Schicksal ganzer Nationen respektive Länder betreffende Entscheidungen – und wenn ja, unter welchen Mehrheitsbedingungen – in Volksabstimmungen entschieden werden sollten. Ich komme darauf zurück. Bestätigung erhält diese Frage im konkreten Falle durch die Betrachtung der Regionen des Vereinigten Königreiches: Das Meinungsbild differiert erheblich: In England wollten gute 53 Prozent die EU verlassen, in Wales desgleichen, in London nur noch 40, in Nordirland gute 44, in Schottland gar nur 38 und in Gibraltar verschwindende vier Prozent. Gerade in den Hochburgen der Labour-Partei, den heruntergekommenen ehemaligen Industriestädten in den Midlands und in Nordengland gab es klare Mehrheiten für den Brexit. Bemerkenswert ist andererseits, wie massiv dessen Ablehnung im Norden – das heißt in Schottland und Nordirland, als ob es dort keine Benachteiligten gäbe – ausgefallen ist. Überlegungen, nach dem gescheiterten Referendum 2014 jetzt ein weiteres anzustreben, um sich vom Vereinigten Königreich loszusagen und mithin in der EU bleiben zu können, sind nach dieser denkwürdigen Abstimmung in Schottland deutlich realistischer geworden; ja es sind bereits „die rechtlichen Voraussetzungen“ für ein mögliches neues Referendum geschaffen worden.
Spaltet man die Wählerschaft nach Alterskohorten auf, wird die Uneinheitlichkeit des Meinungsbildes auf der Insel noch deutlicher: Je älter die Menschen sind, desto stärker waren sie für den Brexit – bei den 18- bis 24-Jährigen waren es sage und schreibe nur 27 Prozent, bei der nachfolgenden Kohorte bis zum Alter von 34 Jahren 38 Prozent, bei den Abstimmenden über 55 Jahre jedoch beinahe 60 Prozent. Vermasseln die Alten den Jungen die Tour? Es ist nur ein Schluss möglich: Die Jugend sieht ihre Zukunft in der EU. Und es mehren sich die Stimmen, die erschreckt auf das selbstverursachte Dilemma schauen und es rückgängig machen wollen: Schon mehr als drei Millionen Menschen haben eine Online-Petition unterzeichnet, in der sie eine Wiederholung des Brexit-Referendums fordern. Wobei es Meldungen gibt, ein Teil der Stimmen sei manipuliert ...
Wenn also Sahra Wagenknecht, Ko-Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke im Bundestag, sagt: „Brexit zeigt: Brüsseler Konzern-Lobbykratie hat Rückhalt der Menschen verspielt“, ist dieses Bild von „den Menschen“ jedenfalls für Großbritannien nicht stimmig. Dem steht nicht entgegen, dass sie mit der „Brüsseler Konzern-Lobbykratie“ nicht falsch liegt – jedoch ist auch das eine Frage, die hier nicht verhandelt werden kann. Schon seit geraumer Zeit – und das scheint mir der entscheidende Punkt zu sein – zerfällt das Königreich in Arm und Reich, in einander verachtende Klassen und Schichten, in Engländer, Schotten, Waliser. Das, was die Brexit-Befürworter gegenüber Europa vorbringen, vollzieht sich im eigenen Land stärker denn je. Zur tiefen sozialen und geografischen Kluft innerhalb der britischen Bevölkerung kommt eine altersbedingte hinzu, so dass neben Arbeitslosigkeit, Armut und mangelnder Teilhabe gewichtige andere Gründe für den Ausgang des Referendums eine maßgebliche Rolle spielen. Virulent wurden sie durch den Machtpoker zweier Politiker – der Konservativen David Cameron und Boris Johnson. Ersterer wollte unbedingt britischer Premier bleiben und musste deshalb die Unterhauswahlen im Mai 2015 gewinnen. Das gelang ihm entgegen den politischen Trends mit einem von zunehmenden anti-europäisch-unionistischen Tendenzen in der öffentlichen Meinung getriebenen Versprechen, im Juni 2016 ein Referendum in Sachen EU-Mitgliedschaft abzuhalten. Er meinte, den Tiger reiten zu können, und öffnete seinen europafeindlichen Landsleuten die Tür zum Austritt, um ihnen gleichzeitig dringend abzuraten, hindurchzugehen. Folgerichtig schlug sich Johnson, innerparteilicher Gegenspieler Camerons, bis Mai 2016 egomanischer Londoner Bürgermeister und als beliebtester Politiker Großbritanniens Aspirant auf Camerons Nachfolge, auf die Seite der Brexit-Befürworter – ohne wirklich vom Sinn eines Austritts überzeugt zu sein, wie viele, die ihn kennen, sagen. Ob er sich am Ende wirklich durchsetzen wird, ist offen, denn er hat in der zerstrittenen Regierungspartei viele Gegner.
Die Geister, die beide riefen ... Der schlimmste unter ihnen ist wohl Nigel Farage, Chef der UK Independence Party (UKIP). Besonders ihm ist es zu verdanken, dass der Kampf um die Stimmen der Briten hart und schmutzig wurde. Eine Labour-Abgeordnete fiel ihm zum Opfer. Ihr Mörder, „Britain first“ brüllend, als er schoss, konnte sich ermuntert fühlen von Farages Hetze, „dass Gewalt der nächste Schritt“ sei. Xenophobie in ihren schlimmsten Varianten war das beherrschende Thema, gegen Flüchtlinge sowieso, aber auch gegen Arbeitskräfte aus anderen EU-Ländern. Als hätte das Land seinen Stolz Brüssels oder der Deutschen wegen verloren oder sei von EU-Richtlinien geknebelt, die – und das wurde natürlich nicht gesagt – ohne die EU nicht aus Brüssel sondern aus London gekommen wären respektive dort zum Teil ihre Urheber hatten. Das Schüren von Ängsten – ohne Antworten auf die dahinterliegenden Probleme von Arbeitslosigkeit und Armut anzubieten –, sich aufschaukelnder Chauvinismus und falsche Versprechen („Die Gelder, die nach Brüssel gehen, stecken wir in das britische Gesundheitswesen“) waren also in erster Linie für das Ergebnis des Referendums verantwortlich. Und es ist mehr als zweifelhaft, ob ein eigenständiges Großbritannien (vielleicht noch geschmälert durch ein nicht mehr dazugehöriges Schottland) die sozialen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes allein besser wird meistern können, ganz zu schweigen von den globalen Herausforderungen.
In der erwähnten Petition sprechen sich deren Unterstützer dafür aus, dass die Gültigkeit eines neuen Volksentscheids über einen EU-Austritt an eine Wahlbeteiligung von über 75 Prozent des Elektorats oder eine Zustimmung respektive Ablehnung eines Brexits jeweils mit mehr als 60 Prozent der abgegebenen Stimmen gebunden wäre – beide Bedingungen erfüllte das erste Referendum nicht.
Alles in allem liegen meines Erachtens also die Ursachen für das Brexit-Votum nicht primär in der EU. Gestützt wird diese These auch dadurch, dass selbst einen Monat vor der Abstimmung nicht einmal ein Drittel der Befragten der Meinung war, die EU sei „das größte Problem, vor dem dieses Land steht“; andere Belange dominierten. Klar ist aber, dass einige Fragen der Brexit-Befürworter an die EU die absolut richtigen sind. Will die EU als politikfähige Gemeinschaft weiterhin bestehen, muss sie sich grundsätzlich ändern, muss vor allem vom administrativ-bürokratischen „Kopf“ auf demokratische „Füße“ gestellt werden. Dafür war der Brexit der letzte Weckruf!