Die Überschriften in bürgerlichen westlichen Medien, nachdem Präsident Wladimir Putin im Dezember vergangenen Jahres die (gegenüber der Fassung von 2010) modifizierte russische Militärdoktrin bestätigt hatte, waren so einseitig, wie im Kontext des neuen Feindbildes Russland speziell der USA und der NATO wohl nicht anders zu erwarten: „Nato und Ukraine sind jetzt Putins größte Feinde“ (Spiegel Online), „Revised Russian Doctrine Calls NATO Main Threat“ (Voice of America), „Neue Militärdoktrin in Russland: Ukraine und Nato eine ‚Bedrohung‘“ (Die Zeit) …
Eingehendere Darstellungen oder gar Analysen – Fehlanzeige. Stattdessen kognitive Inkompetenz, schludrige Übersetzung oder bewusste Irreführung, denn die russische Doktrin erklärt die NATO eben gerade nicht pauschal oder als Organisation zur „Hauptbedrohung“. Vielmehr wird in dem entsprechenden Dokument unter „grundlegende äußere militärische Gefahren“
- konkret auf „die Verstärkung des Machtpotentials der Organisation des Nordatlantischen Vertrages (NATO) durch globale Funktionen […] sowie das Heranrücken der militärischen Infrastruktur der NATO-Mitgliedstaaten an die Grenzen der Russischen Föderation, darunter durch die Erweiterung des Blocks“, sowie
- auf „die Entfaltung […] militärischer Kontingente ausländischer Staaten […] auf Territorien der Staaten, die an die Russische Föderation und an mit ihr verbündete Staaten angrenzen, oder in anliegenden Gewässern, darunter für politischen und militärischen Druck auf die Russische Föderation“
verwiesen.
Solche Aussagen waren in der Doktrin von 2010 nicht enthalten. Sie beziehen sich aber auch hier dezidiert nur auf bestimmte Aktivitäten der NATO, von denen westliche Politiker, Militärs und andere Experten gern behaupten, sie würden die Sicherheit Russlands nicht beeinträchtigen. Als Prämisse in Rechnung zu stellen, dass Moskau das grundsätzlich anders sieht, wäre eine Mindestvoraussetzung für einen konstruktiven Austausch zu diesen Fragen und damit für Verständigung. Daran mangelte es im Westen jedoch schon lange vor dem Ukraine-Krieg.
Gleichwohl will Moskau die Tür für fortgesetzte Beziehungen zur NATO keineswegs zuschlagen. Im Doktrin-Dokument wird im Kontext der „grundlegenden Aufgaben der Russischen Föderation zur […] Verhinderung militärischer Konflikte“ explizit auch „die Aufrechterhaltung eines gleichberechtigten Dialoges auf dem Gebiet der europäischen Sicherheit mit der Europäischen Union und der NATO“ aufgeführt. Das politische Signal, das Moskau im gegenwärtigen zugespitzten Beziehungsverhältnis zum Westen zugleich damit setzt, dass es diesen Punkt erst nach dem „Zusammenwirken mit der Republik Abchasien und der Republik Südossetien zum Zweck der Gewährleistung der gemeinsamen Verteidigung und Sicherheit“ auflistet, sollte dabei nicht überbewertet werden.
Und wo die Kollegen von Spiegel Online und Zeit ihre Erkenntnisse bezüglich der Ukraine her haben, bleibt ihr Geheimnis. Der Name des Nachbarstaates wird im gesamten Doktrin-Dokument jedenfalls nicht genannt.
Andererseits wird unter grundlegende äußere militärische Gefahren
- „die Destabilisierung der Lage in einzelnen Staaten und Regionen und Unterminierung der strategischen und der regionalen Stabilität“ und
- „die Installierung von Regimes in Staaten, die an die Russische Föderation angrenzen, darunter im Resultat des Sturzes der legitimen Organe der Staatsmacht, und deren Politik die Interessen der Russischen Föderation bedroht“,
genannt. Darunter fällt aus Moskauer Sicht derzeit ganz gewiss zuvorderst die causa Ukraine, aber das rechtfertigt jedoch nicht a priori Revolver-Überschriften wie die eingangs zitierten.
Es gab allerdings durchaus auch Beispiele wahrheitsgemäßerer Berichterstattung. So „kabelte“ Markus Sambale, ARD-Hörfunkkorrespondent Moskau: „Die Militärdoktrin behält insgesamt ihren defensiven Charakter, auch der Ukraine-Konflikt wird nicht ausdrücklich erwähnt.“
Die grundlegende Defensivität der modifizierten Doktrin ist in einer Art Selbstverpflichtung der Russischen Föderation fixiert, nämlich – „zum Schutz der nationalen Interessen des Landes und der Interessen ihrer Verbündeten militärische Maßnahmen nur anzuwenden nach Ausschöpfung der Möglichkeiten des Einsatzes politischer, diplomatischer, rechtlicher, ökonomischer, ökologischer, informationeller und anderer Instrumentarien gewaltlosen Charakters“. Hintertürchen für präventive oder präemptive Militäraktionen jenseits der russischen Grenzen hingegen finden sich in dem Dokument nicht. Und schon gar nicht für einen nuklearen Erstschlag, wie das im Vorfeld der Verabschiedung der Doktrin vereinzelt gefordert worden war.
Völlig widerspruchsfrei ist das Dokument in der Frage der Defensivität allerdings nicht. So heißt es unter „Einsatz der Streitkräfte […] in der Periode unmittelbar drohender Aggression und in Kriegszeiten“: „Ebenso rechtmäßig ist der Einsatz der Streitkräfte, anderen Truppen und Organe für die Gewährleistung des Schutzes ihrer Bürger, die sich außerhalb der Grenzen der Russischen Föderation aufhalten, in Übereinstimmung mit den allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechtes und den internationalen Verträgen der Russischen Föderation.“
Damit hat sich Moskau – ungeachtet der über die Aussage drapierten völkerrechtlichen Gaze – erneut dem Vorwurf ausgesetzt, der insbesondere in den baltischen Staaten und in Polen sicherheitspolitische Befürchtungen befeuert: Russland könnte die hybride Kriegführung, für die es in der Ost-Ukraine mehr als nur das Indiz offenbar skalierter Waffenlieferungen an die Separatisten gibt, bei günstiger Gelegenheit oder gebotenem Anlass auch gegenüber weiteren Anrainerstaaten ausprobieren.
Auf der strategischen Ebene setzt Russlands modifizierte Militärdoktrin weiterhin auf nukleare Abschreckung – mit dem primären Ziel, nukleare wie nichtnukleare Aggression gegen die Russische Föderation und ihre Verbündeten zu verhindern. Für den Fall des Falles wird der nukleare Gegenschlag allerdings nicht nur als Antwort auf einen Angriff mit Atomwaffen oder mit anderweitigen Massenvernichtungsmitteln angedroht, sondern auch bei „einer Aggression mit konventionellen Waffen gegen die Russische Föderation, bei der die Existenz des Staates selbst in Gefahr gerät“.
Das mag man zu Recht als wahnwitzige Eskalationsdrohung mit dem Risiko des Aufschaukelns bis zum allgemeinen Raketen-Kernwaffen-Krieg samt der Gefahr einer weitgehenden Vernichtung der menschlichen Zivilisation betrachten, denn die Atomwaffenarsenale Russlands und der NATO-Staaten sind zwar im Vergleich zu den Hochzeiten des Kalten Krieges stark reduziert, aber für wenigstens eine Apokalypse dürften sie noch immer ausreichen. Andererseits Moskau hält damit der NATO letztlich nur den Spiegel vor: Denn genau eine solche Strategie verfolgte der Nordatlantikpakt in Zentraleuropa praktisch bis zum Ende des Kalten Krieges, weil er sich dort konventionell stark unterlegen wähnte.
Heute liegt im Verhältnis zur NATO die starke Unterlegenheit auf russischer Seite. Trotzdem beziehungsweise auf der Basis der Möglichkeit des Rückgriffs auf ein quantitativ mehr als ausreichendes und waffentechnisch differenziertes Nuklearpotential formuliert die Moskauer Militärdoktrin: „Die grundlegen Aufgaben der Streitkräfte, anderen Truppen und Organe in Kriegszeiten sind, die Aggression gegen die Russischen Föderation und ihre Verbündeten abzuwehren, den Truppen (Kräften) des Aggressors eine Niederlage zuzufügen und ihn zur Einstellung der Kampfhandlungen zu zwingen unter Bedingungen, die den Interessen der Russischen Föderation und ihrer Verbündeten entsprechen.“
In Anlehnung an einen berüchtigten amerikanischen Essay von 1982 ist man versucht zu fragen: Is victory really possible? (Die Autoren Colin S. Gray und Keith B. Payne hatten seinerzeit in der renommierten Zeitschrift Foreign Policy eine reichlich realitätsferne militärtheoretische Kopfgeburt publiziert und den Sieg in einem Nuklearkrieg durch einen nuklearen Erstschlag, inklusive „Enthauptung“ der sowjetischen Führung, für möglich erklärt.)
Unter anderem diese Passage der russischen Militärdoktrin offenbart das in zentralen Fragen zutiefst Gestrige im militärischen und strategischen Denken im heutigen Russland: Selbst um den Preis möglicher nuklearer Selbstvernichtung vermag man sich nicht von tradierten Kriegführungs- und Siegkonzeptionen zu lösen.
Da sind die Russen, als sie noch sowjetisch waren, schon mal deutlich weiter gewesen. Bereits im Juli 1963 hatte die Führung der KPdSU in einem Offenen Brief an die chinesische Parteiführung die Erkenntnis formuliert, dass es in einem nuklearen Krieg keine Gewinner mehr geben könne.
Diese Feststellung verschwand anschließend zwar über 20 Jahre als zu defätistisch für den weltweit angestrebten Sieg im internationalen Klassenkampf wieder in der Versenkung, ja wurde quasi unter Strafe gestellt. Aber sie brach sich nach dem Führungswechsel zu Michail Gorbatschow im Jahre 1985 und auf der Grundlage neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, darunter an zentraler Stelle die Theorie vom sogenannten nuklearen Winter, in der UdSSR, in der DDR, aber auch in amerikanischen Kreisen und anderswo umso nachhaltiger Bahn und fand schließlich – auf sowjetische Initiative – Eingang in den strategischen Kanon der Organisation des Warschauer Vertrages (WVO). Im Kommuniqué des WVO-Gipfels vom Mai 1987 hieß es: „In einem Kernwaffenkrieg gäbe es keine Sieger.“ In der bei nämlicher Gelegenheit verabschiedeten Militärdoktrin der WVO fehlte folgerichtig jedes Siegpostulat, wie es für die Jahrzehnte zuvor zum militärischen Mantra der Organisation gehört hatte.
Die jetzige russische Militärdoktrin legt die Schlussfolgerung nahe, dass es an der Zeit ist, die damaligen Debatten und Kontroversen um diese Fragen unter den veränderten heutigen Bedingungen erneut zu führen.