Die Trägerin des diesjährigen Sacharow-Preis für geistige Freiheit des Europäischen Parlaments, Malala Yousafzai, traf Mitte Oktober den US-Präsidenten und Träger des Friedensnobelpreises Barack Obama. Die 16-jährige Pakistanerin sprach dabei die US-Drohnenangriffe an: „Ich habe auch meine Bedenken ausgedrückt, dass Drohnenangriffe den Terrorismus nähren. Dabei werden unschuldige Opfer umgebracht, und sie führen zur Verbitterung beim pakistanischen Volk.“ Ob sich Präsident Obama allerdings diese Wort zu Herzen nehmen wird oder kann, ist seit den neuesten Entwicklungen und Aufdeckungen um das US-Drohnenprogramm mehr als zu bezweifeln.
Der UN-Sonderberichterstatter zu Menschenrechten bei der Bekämpfung von Terrorismus, Ben Emmerson, stellte Mitte Oktober 2013 erstmals „offizielle“ vorläufige UN-Zahlen zum Einsatz von bewaffneten Drohnen außerhalb bewaffneter Konflikte vor. Diese Zahlen entsprechen ungefähr den minimalen Schätzungen des Bureau of Investigative Journalism. Das Bureau gibt für Pakistan (2004 – 30.11.2013) insgesamt 380 (329 unter Obama) Drohnenangriffe an, durch die mindestens 2.534 - 3.642 Menschen getötet wurden. Für Jemen (2002 – 30.11.2013) werden 55 - 65 bestätigte Drohnenangriffe mit 269 - 389 getöteten Menschen aufgeführt. Zusätzliche werden noch 302 - 481 durch Drohnen getötete Menschen vermutet. Für Somalia (2007 – 30.11.2013) werden 4 - 10 Drohnenangriffen mit 9 - 30 Toden gezählt.
Emmerson nennt dabei als größtes Hindernis, um das Ausmaß der Drohnenangriffe zu bewerten, die mangelnde Transparenz der Staaten. Dies mache es extrem schwierig, die angebliche Präzision der Drohnenangriffe zu überprüfen. Insbesondere die USA seien daher aufgerufen, endlich Zahlen über Angriffe und Opfer herauszugeben.
Zusätzlich zu den angeführten Drohnentoten außerhalb bewaffneter Konflikte, die nach nicht nur nach Meinung von Menschenrechtsorganisationen völkerrechtswidrig sind, setz(t)en die USA Drohnen in den Kriegsgebieten im Irak, in Afghanistan und Libyen in noch weit größerem Umfang ein. Ob Drohnenangriffe durch die USA darüber hinaus noch in anderen Ländern durchgeführt wurden, ist nicht bekannt.
Das bereits genannte Bureau of Investigative Journalism hat es sich zusätzlich zur Ermittlung dieser abstrakten Opferzahlen mit dem Projekt „Naming the Dead“ zur Aufgabe gemacht, die Namen und die Geschichten der Getöteten zu ermitteln, unabhängig von der ihnen zugeschriebenen Schuld. Der 16-jährige Tariq Aziz aus Mir Ali ist einer der Getöteten, dessen Geschichte beim Bureau nachgelesen werden kann.
Tariq Aziz wurde durch einen Drohnenangriff getötet, den die CIA durchführte. Er wurde wahrscheinlich Opfer eines sogenannten Signatur Strikes, bei dem, wie Jeremy Scahill in seinem Buch „Schmutzige Kriege“ schreibt, „Menschen anhand von Lebensmustern anstelle eindeutiger Informationen ins Visier genommen werden.“ Solche Muster seien beispielsweise „Männer im Militärdienstalter, die in einer bestimmten Region einer großen Versammlung beiwohnen.“ Oder Aziz wurde aufgrund seiner Teilnahme an einer Versammlung getötet, deren Anhänger gegen die Drohnenangriffe demonstrierten. Dazu Rainer Rupp in einem Beitrag für junge Welt: „Laut aktuellem, internem Trainingshandbuch für Pentagonangestellte (reiche) bereits die Teilnahme an einer politischen Protestdemonstration, die als ‚leichte Form des Terrorismus‘ gilt.“ Scahill nennt einen solchen Tötungsgrund „Kontaktschuld“, durch die jeder Mensch einzig aufgrund seiner Nähe zu Menschen, die bereits auf der US-Todesliste für Drohnenangriffe stehen – Aziz verdiente sich seinen Unterhalt als Fahrer –, selbst in Gefahr gerate, auf eben diese zu kommen. Und alle, die auf einer solchen Liste stehen, werden gegebenenfalls ohne Gerichtsverfahren getötet.
Doch nicht das Töten ohne Gerichtsbeschluss allein ist das größte Problem, sondern dass keine Anklage erhoben wird, auf die der beschuldigte Mensch reagieren kann – beispielsweise indem er sich stellt, um seine vermeintliche Schuld zu widerlegen oder im Gefängnis zu verbüßen. Die Person kann sich nicht stellen, weil sie ihre Anklage und die Aufnahme auf einer solchen Liste nicht erfährt; und falls sie es wüsste, verrät jeder Versuch einer Kontaktaufnahme, etwa via Mobiltelefon, um ein faires Verfahren zu erreichen, die Zielkoordinaten an eine gegebenenfalls bereits im Anflug befindliche Drohne und besiegelt damit den eigenen Tod.
Die USA starten ihre Tötungsmissionen häufig von der US-Base Camp Lemonnier in Dschibuti oder von einer nicht offiziell bestätigten Drohnenbasis in Saudi Arabien. Auch im Niger haben die USA zunächst „unbewaffnete“ Drohnen stationiert, ebenso wie in Japan und Italien, um nur einige Staaten zu nennen. Zusätzlich starten Drohnen aus den US-Kriegsgebieten in Afghanistan und im Irak. Die pakistanische Erlaubnis für die US-Drohneneinsätze im eigenen Land erkauft sich die US-Regierung durch millionenschwere Zahlungen zur Unterstützung des „Anti-Terror-Kampfes“ (das heißt durch Militärhilfe) oder indem auch die pakistanische Regierung und der Geheimdienst eigene Oppositionelle auf die Todeslisten setzen können, wie die New York Times im April 2013 schrieb. Antiwar.com berichtet zudem, dass beim Besuch von US-Verteidigungsministers Chuck Hagel in Pakistan die aktuelle Auszahlung der Militärhilfe davon abhängig gemacht worden sei, dass Proteste der Bevölkerung gegen die US-Drohneneinsätze eingestellt würden. Die pakistanische Regierung arbeite dafür bereits Pläne aus.
Drohnenangriffe mit Tötungsziel führt dabei nicht nur die zunehmend militarisierte CIA durch, wie Scahill schreibt, sondern auch das US-Militär in Verbindung mit privaten Unternehmen. Die Abläufe werden dabei immer mehr institutionalisiert und alltäglicher. Durch die Enthüllungen von Edward Snowden wurde Mitte Oktober zudem die Verstrickung der NSA in den Drohnenkrieg aufgedeckt. Die CIA sei demnach erheblich auf die Fähigkeiten der NSA angewiesen, massenhaft Daten weltweit zu sammeln, um Aufenthaltsorte oder Lebensmuster potenzieller Anschlagsopfer mit Hilfe von Signals Intelligence (SIGINT) zu erfassen. Laut einem Bericht von Amnesty International liefern auch deutsche Geheimdienste beispielsweise Handydaten, die indirekt zu Tötungen in Pakistan beitragen.
Nicht zuletzt die Auseinandersetzungen um das US-Streitkräfte-Kommando für Afrika (Africom) in Stuttgart und die US-Air Base in Ramstein, die beide unmittelbar in den US-Drohnenkrieg eingebunden sind, nähren weiterhin den Verdacht deutscher Komplizenschaft, auch wenn eine erste Strafanzeige des Berliner Rechtsanwaltes Hans-Eberhard Schultz und des Bundestagsabgeordneten Wolfgang Gehrcke (Die Linke) zu diesen Verstrickungen vom Generalbundesanwalt abgelehnt worden ist.
Doch nicht nur die Angriffskoordination und -planung werden möglicherweise von deutschem Hoheitsgebiet koordiniert. Die geplanten Drohnenflüge durch die US-Armee bei Grafenwöhr zu Trainingszwecken müssen auch zu denken geben. Der SPD-Politiker Reinhold Strobel, der als einer der ersten entsprechende Bedenken äußerte, drückte es in einer seiner Pressemitteilungen treffend aus: „Unser Landkreis wird damit indirekt zum Truppenübungsplatz erweitert.“ Auch US-Militärs vor Ort, wie der Kommandeur des Trainingszentrums, Oberst James E. Saenz, der sich im Focus äußerte, lassen daran keinen Zweifel: „Grafenwöhr ist für Soldaten, die aus Europa kommen, die letzte Trainingsstation vor dem echten Einsatz.“
Experten sehen für Drohnen in den US-Streitkräften eine „Goldene Ära“ heraufziehen. Die großen US-Rüstungsriesen buhlen bereits um den Großauftrag für eine Tarnkappendrohne zum Einsatz von Flugzeugträgern, die dann im Verbund mit bemannten Kampfflugzeugen die zukünftigen Kriege der USA führen. Die Drohnen werden dabei einen bisher nicht vorhandenen Grad an Autonomie erreichen, wie es bereits medienwirksam mit dem Start und der Landung der X-47B von Northrop Grumman auf dem US-amerikanischen Flugzeugträger USS George H. W. Bush Mitte Juli 2013 demonstriert wurde. Ein Flug, den Militärkreise als historischen Meilenstein auf dem Weg zu autonomer Kriegsführung und als Demonstration des globalen militärischen US-Führungsanspruchs feierten.
Der Text folgt im Wesentlichen der Fassung in IMI-Analyse 2013/031. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors. Auf die Wiedergabe von Quellenangaben und Anmerkungen wurde verzichtet.
Thomas Mickan ist Politikwissenschaftler und Beirat der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen.