Alltagsgeschichten aus dem real existierenden Kapitalismus
„Arm aber sexy“, so lautete die 2003 vom Berliner Oberbürgermeister Wowereit geprägte Lifestyleaussage über den gewöhnlichen Bewohner der Hauptstadt. Darunter stellt man sich seitdem einen gut gebildeten, geschmackvoll, wenn auch ein wenig nachlässig gekleideten, in DIY- Möbeln lebenden Loftbewohner vor, der gerne morgens auf dem Dach seines Fabrikgebäudes in Kreuzberg oder Mitte einen Latte Macchiato schlürft und dort die letzte wilde Nacht Revue passieren lässt.
Dass Armut und prekäre Lebensbedingungen unter bestimmten Umständen nicht mehr als unattraktiv, bemitleidenswert und abstoßend wahrgenommen werden, zeigt die schmerzfreie Vermarktung derselben als Neo-Bohemien-Lebensgefühl: „Erleben Sie, wie eine Stadt trotz oder gerade wegen ihrer finanziellen Knappheit poetischen Reichtum hervorbringt“, lockt ein alternativer Reiseanbieter Touristen nach Berlin. Zum poetischen Reichtum der Stadt gehören die zahlreichen Flohmärkte und billigen, stets geöffneten Kneipen ebenso wie Mietpreise, bei denen Austauschstudenten aus Barcelona feuchte Augen bekommen. Alles ist ausgerichtet auf einen billigen DIY-Lifestyle, der zwar die Angestellten des Biodiscounters um die Ecke alt aussehen lässt, es aber möglich macht, dass ich mein Biobrot für unter zwei Euro erstehen kann. Und auch der Verzicht auf Fleisch, den das Jobcenter Pinneberg unlängst allen Hartz-IV-Empfängern in einer Spar-Broschüre empfahl, kann mühelos in den hippen neuen Armutsalltag eingebaut werden. Ohnehin gibt es eine Vielzahl an Kochbüchern („Hartz-IV-Kochen mit 4,36 Euro am Tag“) oder sonstiger Ratgeberliteratur, die uns einen würdevollen Umgang mit wenig Kohle lehren möchten. Von allen Ecken scheint es zu rufen: „Finde dich mit dem Scheiß ab, mach einfach das Beste draus.“
Als vor einiger Zeit die großen Modezeitschriften an meinem Lieblingsspäti den „Homeless-Chic“ als neuen Trend auf den Straßen der Metropolen ausmachten, war er hierzulande bereits längst angekommen. Die Aneignung von Armut als besondere Kreativitätstechnik ist scheinbar hip geworden. Und solange sie nicht als solche entlarvt wird, darf sie sich als die abgefuckte kleine Schwester von Peek und Cloppenburg fühlen. Wehe aber, wenn sich dann doch herausstellt, dass das WG-Zimmer die Eigentumswohnung und die übergroße Strickjacke von Vivian Westwood ist. Aber was dann? Eigentlich auch schnurzegal. Denn arm zu sein, ist vielleicht nicht schick, ein bisschen so auszusehen aber offenbar schon.
Armut verschwindet ja auch nicht aus dem Alltag, nur weil einige sie als modische oder kulinarische Inspirationsquelle nutzen. Sie soll eben nur nicht mehr so hässlich und mitleiderheischend daherkommen. Arbeitslosigkeit oder prekäre Arbeit und damit verbundene Armut ist schließlich keine selbstgewählte Situation. Sie resultiert zumeist aus Lebensumständen, die es uns schlicht nicht ermöglichen, besser zu leben. Und wie sexy es in Berlin tatsächlich zugeht, erkennt man vielleicht daran, dass jedes dritte Kind in einer Familie lebt, die Hartz IV-Leistungen erhält. Da kommt der Shabby-Look schon in der Kita super an.
Aber natürlich sieht es auch anderswo nicht rosig aus. Fast jeder vierte Beschäftigte arbeitet in Deutschland für einen Niedriglohn. Deutschland verzeichnet damit den zweitgrößten Niedriglohnsektor in Europa. Working Poor ist also das neue Normalarbeitsverhältnis. Und mit dem soll ich mich jetzt eben anfreunden – so sieht‘s aus. Kann ja auch ganz romantisch sein. Ich freu mich jedenfalls schon auf den Winter. Endlich schön im Bett kuscheln bei Kerzenschein, anstatt die olle Zentralheizung anzuwerfen.
Diese Kolumne erschien zuerst in der Direkten Aktion #219 - September / Oktober 2013