Vom unproduktiven Kapitalismus zur sozialistischen Marktwirtschaft

Sahra Wagenknecht plädiert für einen kreativen Sozialismus

Seit Ausbruch der Großen Krise im Herbst 2008 begleitet das geflügelte Wort, dass die Krise nicht die Stunde der Linken sei, den weiteren Krisenverlauf. Trotz unterschiedlicher sozialer Proteste in Europa sind die Linkskräfte keineswegs gefestigt, eher weiter »pulverisiert«, und auch die Sonderentwicklung in Deutschland mit einer noch parlamentarisch breiter verankerten LINKEN droht auf europäisches Normalmaß zurückgestutzt zu werden. Die Linke hierzulande war in diesem Zeitraum nicht in der Lage, die Fragilität ihrer Sonderstellung innerhalb der europäischen Linken, aber auch die rasanten Verschiebungen der politischen Kräftekonstellationen in Deutschland – Zerreißproben innerhalb des bürgerlichen Lagers von der »Sozialdemokratisierung« einer Merkel-CDU bis zur drohenden Marginalisierung seines neoliberalen Flügels, den Grünen-Hype und sozialdemokratische Konsolidierungsversuche sowie ihre eigenen elektoralen Niederlagen in Baden-Württemberg und Bremen – angemessen zu deuten und ihre laufende Programmdiskussion auch auf diese veränderten, immer noch finanzmarktkapitalistisch geprägten Krisenkonstellationen sowie ihre demokratiegefährdenden Potenziale angemessen zu beziehen. Aus der Führungsebene der Linkspartei war es lediglich der frühere Parteivorsitzende Lafontaine, der hier ein Deutungsangebot vorlegte: »Wer einen modernen linken Politikentwurf präsentieren will, muss sich mit dem Kapitalismus im neuen Gewande, dem finanzmarktgetriebenen Kapitalismus, auseinandersetzen«, lautete seine Botschaft im Mai 2008, als die politische Klasse in Deutschland eine neue Weltwirtschaftskrise noch für ein Strohfeuer auf US-amerikanischen Immobilienmärkten hielt. Nun hat es seitdem durchaus kritische Analysen und Deutungsversuche des Finanzmarktkapitalismus aus den Reihen der Linken, von Elmar Altvater bis Lucas Zeise, gegeben, die in ihren analytischen Befunden oft übereinstimmten. Umstritten blieben die Schlussfolgerungen bezogen auf eine Politik der Übergangsforderungen, die Rolle des Staates, die Qualität neuer makroökonomischer Regulierungen, den Ausbau und die Stärkung wirtschaftsdemokratischer Ansätze auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene sowie bezogen auf die Zielsetzung gesellschaftlicher Alternativen wie einer Solidarischen Ökonomie oder eines Demokratischen Sozialismus im 21. Jahrhundert.

 

Der »faire Marktwirtschaftler« als neuer Bündnispartner

In dieser Konstellation meldet sich die stellvertretende Parteivorsitzende Sahra Wagenknecht mit ihrem neuen Buch »Freiheit statt Kapitalismus« (Frankfurt/M. 2011)1 zu Wort. Schon in den Jahren zuvor geißelte sie in verschiedenen Publikationen den Finanzmarktkapitalismus, sprach sich für eine Politik der Verstaatlichung aus, befürwortete daher auch den Weg zum »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«, wie er in Venezuela unter Hugo Chávez praktiziert wird, hielt in der linken Geschichtsdebatte um den Sozialismusversuch im »Zeitalter der Extreme«, dem Realsozialismus, immer mehr zugute als seine »reformsozialistischen« Kritiker und verortete sich daher im politischen Strömungs-Spektrum der Partei DIE LINKE bislang immer auf der antikapitalistischen und kommunistischen Linken. Wie ordnet sich Wagenknechts neues Buch hierzu ein und vor allem: Wie ordnet die Autorin diese Intervention in ihrem politischen Selbstverständnis ein?

Schon der Ausgangspunkt verblüfft. Wagenknecht eröffnet ihr Buch zwar mit den demoskopischen Befunden, dass gegenwärtig »88 Prozent der Bundesbürger ... sich eine neue Wirtschaftsordnung wünschen« /7/ jenseits des Kapitalismus. Die Kehrseite dieser Systemkritik ist allerdings ihre Adressatenlosigkeit und damit das Fehlen einer politischen Kraft, der eine progressive, emanzipatorische und systemverändernde Politik zugetraut wird.2 Diese Diskrepanz nimmt Wagenknecht nun aber keineswegs zum Anlass, ihre politisch-theoretischen Anstrengungen dezidiert in diesen Zusammenhang von finanzmarktkapitalistischer Deformierung demokratischer Strukturen und politischer Krise der Linken einzuordnen und so in erster Linie zu gemeinsamen innerlinken Lernprozessen in der Suche nach Auswegen aus der Gefahr weiterer politischer Marginalisierung beizutragen. Vielmehr interpretiert Wagenknecht die »positive(n) Erfahrungen in der Diskussion mit ... offenen und fairen Marktwirtschaftlern« /12/ anlässlich ihres früheren Buches zur Finanzkrise3 theorie- und bündnispolitisch dahingehend, nun die Diskussionsbasis »zwischen echten, nämlich auch geistig liberalen Marktwirtschaftlern auf der einen und ebensolchen Sozialisten und Marxisten auf der anderen Seite« /ebd./ zu verbreitern. Dabei legt sie die diskurspolitische Messlatte insofern hoch, als sie den theoriepolitischen Imperativ eines Gründungsmitglieds und führenden Intellektuellen des Neoliberalismus – den »Glauben an die Macht der Ideen zurückgewinnen, der die Stärke des Liberalismus in seinen besten Zeiten war« (F.A. von Hayek 1949) – von links mit der neuen Eigentumsordnung eines »kreativen Sozialismus« einlösen will.

Es verwundert nicht, dass Wagenknechts frühere Finanzmarktkritik Zuspruch aus den Reihen des bürgerlichen Lagers selbst erfahren hat, ist dieses doch angesichts der Deformationen des bürgerlichen Leistungs- und Wertekosmos durch die Irrationalitäten des Finanzmarktkapitalismus und seiner überzüchteten Kultur leistungsloser Einkommen zunehmend in sich zerstritten und gespalten. Insofern ist es in der gegenwärtigen Gemengelage durchaus eine diskussionswürdige Option auch von links, mit aufrechten Bürgern gemeinsame Sache in der Kritik am Finanzmarktkapitalismus und an der schleichenden »Verrohung des Bürgertums« zu machen. Mit ihrer Option einer »Rückkehr zum guten Kapitalismus« versucht dies die gebeutelte Sozialdemokratie zum Zwecke ihrer Blutauffrischung ebenfalls.4 Diese Öffnung zum bürgerlichen Diskurs ist Wagenknecht nicht vorzuwerfen, irritierend bleibt, dass sie an keiner Stelle die für eine sozialistische Linke damit verbundenen strategischen Fragen ausspricht, transparent macht oder gar vertieft.

Vier Fluchtwege aus der Großen Krise zeichnen sich u.E. gegenwärtig ab: die Gefahr einer rechtspopulistischen Krisenlösung; die Option des bürgerlichen Lagers, das zwischen einer autoritären Variante der Sicherung von Eigentums- und Vermögenstiteln oder einer Rückkehr zu zivilen Verwertungsstrukturen unter Beschneidung finanzmarktkapitalistischer Ansprüche und begrenzter sozialer Inklusion schwankt; die Auflage eines Green New Deal; oder ein emanzipatorisches Transformationskonzept in Richtung solidarischer Ökonomie. Wagenknecht versucht eine Synthese von 2 und 4: Sie will an einer progressiv-bürgerlichen Zivilisierung des Kapitalismus ansetzen, diese radikalisieren und ihr so eine neue kreativ-sozialistische Eigentumsordnung abringen. »Man darf nicht unterschätzen, wie stark das, was wir bürgerliches Denken nennen, auch das Denken der meisten abhängig Beschäftigten ist. Wenn ich eine originär marxistische Terminologie verwende, versteht mich selbst auf einer Gewerkschaftsversammlung schon nur noch ein Bruchteil. Das Buch ist der Versuch, an Denkmuster anzuknüpfen, die sehr verbreitet sind, und sie so auf dem Weg zum Sozialismus mitzunehmen. Anfang des 20. Jahrhunderts konnte man andere Bücher schreiben, weil die marxistische Terminologie zumindest im Milieu der organisierten Arbeiterschaft lebendig war. Das ist leider heute anders. Heute gibt es ein verbreitetes Unbehagen am Kapitalismus. Gleichzeitig sind Begriffe wie Leistung und Wettbewerb positiv besetzt, was ja auch nicht falsch ist. Man darf der bürgerlichen Seite nicht Begriffe überlassen, auf die sie gar keinen Anspruch hat.«5

 

Ein »ordoliberaler« Maßstab der Kapitalismuskritik

Zu diesem Zweck parallelisiert Wagenknecht gleich zu Beginn unter der Überschrift »Das gebrochene Versprechen Ludwig Erhards« die gegenwärtige Krise des Kapitalismus mit der Konstellation am Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Beginn des bundesdeutschen »Wirtschaftswunders«. So wie die neoliberalen Globalisierungs- und Glücksversprechen durch die Finanz- und Wirtschaftskrise gebrochen wurden, hatte auch »der Liberalismus alten Schlags ... Mitte des vergangenen Jahrhunderts seine Unschuld verloren. Immerhin hatte die Welt gerade durchlitten, in welche Hölle die ungebändigte Profitgier wirtschaftlicher Machtverbünde führen kann« /17/ – also in Anlehnung an ein Diktum Max Horkheimers im Klartext: Der Liberalismus führte zum Faschismus. Daraus entwickelte sich sozusagen als Gegenschlag der »Neoliberalismus«, den Wagenknecht zu einem guten »Neoliberalismus 1.0« stilisiert in (allerdings unausgesprochener) Absetzung zu dem, was der Leser und die Leserin seit den Tagen eines Ronald ­Reagan und einer Margaret Thatcher und später eines George W. Bush, eines Tony Blair und Gerhard Schröder gemeinhin mit Neoliberalismus verbinden: »Kaum jemand weiß heute noch, dass der Begriff ›neoliberal‹ vor einem Dreivierteljahrhundert als erklärtes Gegenprogramm zu einem solchen Ausverkauf öffentlicher Verantwortung und zum alten Laissez-faire ungehemmter Profitmacherei entstanden war.« /15/6 Ein solches Gegenprogramm zu einem reinen wirtschaftspolitischen Marktliberalismus sieht Wagenknecht im nachkriegsdeutschen »Ordoliberalismus« verwirklicht und in der Politik eines Ludwig Erhard und seiner konzeptiven Ideologen wie Alfred Müller-Armack, Wilhelm Röpke u.a. historisch wirksam. Was dabei herauskommt, ist ein Idealtypus eines bürgerlich-liberalen und zugleich sozialstaatlich modifizierten Kapitalismus, den Wagenknecht im weiteren ihrer eigenen Kapitalismusanalyse als Maßstab der Kritik zugrundelegen wird.7 »Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft ruht auf vier Grundsäulen: dem Sozialstaat, dem Prinzip der persönlichen Haftung, der gemischten Wirtschaft und der Verhinderung wirtschaftlicher Macht. Die letztere Säule ist die tragende, bei deren Erosion das ganze Gebäude in sich zusammenfällt.« /29/

Und in der Tat, so ist es in den Augen Wagenknechts gekommen. Die produktive Konstellation des Kapitalismus aus Ludwig Erhards Zeiten hat sich im Finanzmarktkapitalismus in ihr Gegenteil verkehrt, »ohne den Umweg über die lästige Güterwelt und ohne reale Käufe und Verkäufe Profiteinkommen zu beziehen … Das hier skizzierte Modell trägt den Kapitalismus jetzt seit fast drei Jahrzehnten. Seit dieser Zeit werden also Profite in immer geringerem Maße reinvestiert...« /133/ Solange die Wettbewerbsbedingungen – wenn auch schon teilweise vermachtet – noch eine selbsttragende Investitionsdynamik ermöglichen, löste der Kapitalismus sein zivilisatorisches Vermächtnis ein. Aber die Sättigung und Vermachtung von Märkten durch Großunternehmen führte »schon Anfang des zwanzigstens Jahrhunderts ... zu den gleichen Ausweichreaktionen, die wir aus jüngster Zeit kennen: Die Investitionsdynamik und der Prozess technologischer Neuerung ließen nach. Stattdessen floss immer mehr Geld auf die Finanz- und Aktienmärkte.« /136/ In der Geschichte des Kapitalismus konnten nur Roosevelts New Deal und Erhards »Wirtschaftswunder« das Versprechen kapitalistischer Dynamik und »Wohlstand für alle« einlösen. Ein derzeit diskutierter »Green Capitalism« wird dies nach Wagenknecht nicht bringen können, weil gerade auf dem Gebiet der Infrastruktur, Stromversorgung und Netze die großen Konzerne mit ihrer dominanten Marktstellung jeglichen Wandel blockieren können. Das würde eine wirtschaftliche Ordnung prolongieren, »in der die Unternehmen nicht der Gesellschaft dienen, sondern sie sich unterwerfen« /304/. Daraus wird der Dreh- und Angelpunkt für den Übergang aus dem unproduktiven Kapitalismus in einen kreativen Sozialismus. Als Kronzeugen bemüht Wagenknecht an dieser im Aufbau ihres Buches strategischen Stelle den Bürger Roger de Weck: »Wir brauchen ›Eigentumsverhältnisse, die bewusst die Interessen der Individuen und des Gemeinwesens verbinden‹.8 Privates Eigentum im Bereich der Großunternehmen leistet das nicht mehr. Deshalb brauchen wir eine neue Eigentumsordnung.« /319/

 

»Neutralisierung« von Kapitaleigentum

Damit ist Wagenknecht am Ausgangspunkt der Alternative, für die die eingangs zitierten Grundsätze des »Neoliberalismus 1.0« wieder relevant werden: Ordnung, Verhinderung wirtschaftlicher Macht, persönliche Haftung, gemischte Wirtschaft. Denn »wo weder Regulierung noch Mitbestimmung noch Entflechtung funktioniert« /320/, muss eine neue Ordnung für die Zukunft her, ein Postulat, das Wagenknecht mit einer ersten – eine zweite wird später folgen – überraschenden Synthese aus dem marxistischen Impetus eines Philosophen der frühen DDR, Ernst Blochs »konkreter Utopie«, und der westdeutschen Ordnungsliebe des Ordo-Liberalen Walter Eucken begründet: »Es kommt im Hinblick auf die Wirtschaftspolitik nicht nur darauf an, welche Ordnungsformen realisiert waren und sind, sondern auch, welche möglich sind.« /319/9 In Ansätzen sieht Wagenknecht solche neuen ordnungspolitischen Möglichkeiten in »gut geführten, erfolgreichen und leistungsfähigen Familienunternehmen«. Diese zeichnen sich durch ein »weit überdurchschnittliches Investitions- und Innovationsniveau, eine große Wertschöpfungstiefe und im Übrigen auch durch eine extrem geringe Fluktuation ihrer Mitarbeiter ... aus, verkörpern also in jeder Hinsicht den Gegenentwurf zum kurzsichtigen renditegetriebenen Großkonzern.« /309f./ Aber auch hier verbleiben die vier wesentlichen Rechte der Unternehmenseigentümer noch im Rahmen des »Ancien Regime« und sind noch nicht in Richtung einer neuen Eigentumsordnung qualitativ verändert: »die Festlegung der Ziele und Kriterien der Unternehmensführung und somit die Entscheidung über Investitionen und Arbeitsplätze, die Hoheit über Personal­entscheidungen, das Recht zur Aneignung des im Unternehmen erwirtschafteten Gewinns, schließlich das Recht zur Veräußerung.« /314/

So wie der Kapitalismus der Nachkriegszeit »sozial gebändigt« /318/ wurde, spielt auch heutzutage »die Frage der Grenzziehung eine entscheidende Rolle ... Wie sehen dem Gemeinwohl dienende Eigentumsverhältnisse in Großunternehmen unterhalb jener kritischen Schwelle aus, jenseits deren privates Eigentum verfassungsrechtlich ausgeschlossen werden sollte?« /323/ Mit dieser Option, »etwa 100 oder 200 Firmen in Deutschland ... nach den genannten Kriterien als eigentumsunfähig (sic!!) zu klassifizieren« /327/, geht Wagenknecht über den wirtschaftspolitischen Horizont eines guten Bourgeois hinaus, der derzeit lediglich »Maß und Mitte« für die kapitalistische Unternehmenspolitik und -führung einfordert oder im Fall des Grünen-Bürgers Kretschmann eine »neue Gründerzeit« ausruft. Aber bei der Forderung nach Übernahme in die öffentliche Hand von gemeinwohlrelevanten Großunternehmen will Wagenknecht nicht stehen bleiben. »Eine andere Alternative ist, das Unternehmen denen zu übergeben, die in ihm arbeiten und deren Ideen, Engagement und Einsatz es seine Entwicklung und seinen Erfolg verdankt. Das schließt die bisherigen Eigentümer, sofern sie im Unternehmen arbeiten, ein, aber es beschränkt sich eben nicht auf sie.« /328/

Zur Begründung dieser Übergabe eines privateigentümlich geführten Unternehmens an die Belegschaft bemüht Wagenknecht die für die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft klassisch gewordene Eigentumsdefinition von John Locke: »Durch Arbeit wird der geschaffene Wert für Locke zum Eigentum des Arbeiters.« /328/ Wagenknecht spricht diese Eigentümerqualität zunächst auch dem Unternehmer zu und holt ihn sozusagen bündnispolitisch mit ins Boot bei der Begründung von »Belegschaftseigentum« auf dem Weg zu einem kreativen Sozialismus. »Die wenigsten Firmen wären ohne den außergewöhnlichen Einsatz ihrer Gründer je auf den Erfolgsweg gekommen. Viele Märkte wären nicht entstanden. In dieser ersten (sic!!) Unternehmensphase schafft Eigentum tatsächlich noch Identifikation und die Kreativität, Power und meist auch Selbstausbeutung des Eigentümers sind vielfach Basis der Unternehmensentwicklung.« /334/ Aber wie sieht es mit diesem »ursprünglichen Eigentumsrecht« des Unternehmensgründers nun in der zweiten, dritten und den folgenden Phasen des Betriebes aus? Hierzu bemüht Wagenknecht ihre zweite überraschende Synthese, indem sie den Eigentumssinn des bürgerlich-kapitalistischen Unternehmers mit einer längst vergessenen Konzeption eines im Realsozialismus während des »Prager Frühlings« 1968 gescheiterten Reformers versöhnen will: »Wer ein Unternehmen gründet, dem gehört es zunächst mit vollem Recht. Denn ohne seine Initiative gäbe es das Unternehmen nicht. Je mehr ein Unternehmen wächst, desto mehr verdankt es seine Existenz allerdings nicht mehr nur (sic!!) dem Gründer und Geschäftsführer, sondern auch der wachsenden Zahl der Mitarbeiter. Daher sollte ab einer gewissen Unternehmensgröße die von Ota Šik angeregte ›Neutralisierung des Kapitals‹ beginnen. Nicht nur um der Mitarbeiter, sondern auch um des Unternehmens willen.« /356/

Hier hat Wagenknecht den Kern ihrer Argumentation benannt und sozusagen »werttheoretisch« deduziert, dass Freiheit statt Kapitalismus möglich ist. Ein anderer Vordenker eines kreativen Sozialismus hatte noch viel theoretischen Schweiß auf die Analyse verwandt, dass und wie die Freiheit des Eigentümers der Ware Arbeitskraft nach abgeschlossenem Arbeitsvertrag mit dem Eigentümer der Produktionsbedingungen einhergeht mit der Akzeptanz und kontinuierlichen Subordination im kapitalistischen Arbeits- und Verwertungsprozess: »Das Eigentumsrecht schlägt um in das Recht auf der einen Seite, sich fremde Arbeit anzueignen, und die Pflicht auf der andren, das Produkt der eignen Arbeit und die eigne Arbeit selbst als andern gehörige Werte zu respektieren.« (MEW 42: 371) Die Auseinandersetzungen um Reform und Revolution innerhalb der Arbeiterbewegung drehten sich im Kern genau darum, auf welchem Wege die LohnarbeiterInnen diesen Fetischismus des Kapitals durchbrechen können und sich selbstbewusst als Subjekt der Wertschöpfung begreifen. Wagenknecht weist nach, wie dieser vertrackte Umschlag im kapitalistischen Aneignungsgesetz – »Im selben Maß, wie sie nach ihren eignen immanenten Gesetzen sich zur kapitalistischen Produktion fortbildet, in demselben Maß schlagen die Eigentumsgesetze der Warenproduktion um in Gesetze der kapitalistischen Aneignung« (MEW 23: 613) – wieder rückgängig gemacht werden könnte und Arbeiter und Unternehmensgründer sich dann als freie und kooperierende Akteure eines Wertschöpfungsprozesses begreifen können. Mit Rückgriff auf John Locke, Walter Eucken und Ota Šik liefert Wagenknecht eine elaborierte Begründung für »Belegschaftseigentum« – ein Vorschlag, den ihr früherer Parteivorsitzender Lafontaine immer wieder in die politische Diskussion brachte – als einem qualitativ neuen Stützpfeiler in der Eigentumsordnung eines kreativen Sozialismus.

Die dazu nötige Neutralisierung des Kapitals hält Wagenknecht durch die Wiedereinführung einer allgemeinen Vermögenssteuer für möglich, »die bei Finanz- und Immobilienvermögen an den Staat zu zahlen, bei Betriebsvermögen dagegen in unveräußerliche Belegschaftsanteile umzuwandeln ist. Diese Anteile könnten wie eine Art Stiftung verwaltet werden, deren Treuhänder von der Belegschaft bestimmt werden. Das Geld bliebe also im Unternehmen, würde aber allmählich den Entscheidungsspielraum des ursprünglichen Eigentümers zugunsten realer (mit Eigentum unterlegter) Mitbestimmungsrechte der Belegschaft zurückdrängen.« /336/

Wagenknecht skizziert den Übergang in eine marktsozialistische Eigentumsordnung in erster Linie am klassischen Familienunternehmen, bei dem die Verdopplung des Kapitals in Eigentum und Funktion noch nicht stattgefunden hat. Die­se Trennung ist aber in der Entwicklungstendenz des Kapitals selbst mit der Ausbildung der Formen des zinstragenden Kapitals angelegt. Mit der Bildung von Aktiengesellschaften erhält das Kapital zudem »direkt die Form von Gesellschaftskapital (Kapital direkt assoziierter Individuen) im Gegensatz zum Privatkapital, und seine Unternehmungen treten auf als Gesellschaftsunternehmungen im Gegensatz zu Privatunternehmungen. Es ist die Aufhebung des Kapitals als Privateigentum innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise selbst.« (MEW 25: 452) Im gegenwärtigen Shareholder Value- und Finanzmarktkapitalismus zeigen sich aber zugleich gesellschaftszerstörerische Seiten dieser Entwicklung. Für entwickelte Aktiengesellschaften gilt: »Je entschiedener man dem Interesse der Aktionäre Vorrang einräumt, desto stärker wird der Einfluss einer externen Macht (die Finanzmärkte) auf die Unternehmenspolitik. Dieser Prozess führt dazu, dass die Verantwortlichkeit der Manager-Macht abnimmt. Durch das Prinzip des Shareholders wird die Macht der Manager, nach eigenem Gutdünken zu entscheiden, eher gestärkt als eingeschränkt.«10 Solche Verhältnisse bedeuten aber: Privatproduktion ohne die Kontrolle des Privateigentums! Auf welchen Wegen aber die Beschäftigten in diesen Kapitalgesellschaften zu »Eigentümern«, die Shareholder Value-Steuerung dieser Betriebe gebrochen und eine gesamtgesellschaftliche Einbindung dieser Unternehmen zurückgewonnen werden können – ganz zu schweigen von der Reorganisation des finanzmarktkapitalistisch deformierten Kreditsystems zu einem »mächtigen Hebel ... während des Übergangs aus der kapitalistischen Produktionsweise in die Produktionsweise der assoziierten Arbeit« (MEW 25: 621): Das sind die eigentlichen Herausforderungen an einen »kreativen Sozialismus«.

 

Kein Übergang zum Marktsozialismus ohne mehr Wirtschaftsdemokratie

Auch bei Wagenknecht setzt sich eine späte Einsicht über die Gründe des Scheiterns des Realsozialismus durch und sie geht auf Distanz zu Sozialismus-Konzeptionen, die lange Zeit die politisch-theoretische Diskussion geprägt haben. »Kreativer Sozialismus hat sich von der Idee des planwirtschaftlichen Zentralismus verabschiedet. Er will mehr Wettbewerb, nicht weniger. Aber dort, wo lediglich Pseudowettbewerb stattfindet, weil natürliche Monopole oder Oligopole ihre Marktmacht zur Wettbewerbsverhinderung einsetzen, ist die öffentliche Hand gefordert. Es gibt Marktwirtschaft ohne Kapitalismus und Sozialismus ohne Planwirtschaft.« /345/

Auch in der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie werden die kapitalistischen Produktionsverhältnisse nicht einfach auf Marktverhältnisse reduziert, vielmehr ist diese Unterscheidung für die Marxsche Gesellschaftskritik konstitutiv: »Markt ist der allgemeine Ausdruck für die Circulationssphäre überhaupt« (MEGA II, 4.1: 189) und ist gerade daher mit historisch unterschiedlichen Produktionsweisen durchaus kompatibel. Gegenüber vielen MitstreiterInnen in der sozialistischen Linken, die in der Ware-Geld-Beziehung nach wie vor das zentrale Übel des Kapitalismus ausmachen, das es abzuschaffen gelte,11 markiert Wagenknecht den wesentlichen Unterschied zwischen kapitalistischer und sozialistischer Marktwirtschaft deutlich, auch wenn sie die Eckpunkte einer sozialistischen Marktwirtschaft in ihrem Buch nicht weiter ausführt.

Dazu gehört, dass die Trennung zwischen Politik bzw. staatlicher Exekutive und Unternehmensführung wirklich praktiziert wird und dass die Unternehmensführung in eine demokratische Unternehmensverfassung eingebunden ist, in der neben der Belegschaft auch die kommunalen und regionalen Interessen berücksichtigt sind. Gerade in einer solchen Perspektive kann sich eine sozialistische Marktwirtschaft also nur im Kampf um differenzierte Regulierungen auf den verschiedensten gesellschaftlichen Ebenen – vom Betrieb über die kommunale Ebene und den Einrichtungen der Zivilgesellschaft bis hin zum politischen Feld – herausbilden, mithin sind die gesellschaftlichen Akteure zentral. Und hier liegt eine zentrale strategische Leerstelle in Wagenknechts Sozialismuskonzeption – zumal wenn diese kreativ sein soll. Es geht um die sozialstrukturellen Voraussetzungen und die gesellschaftlichen Subjekte, die diese »neue Eigentumsordnung« auf den Weg bringen sollen. Hierbei weist Wagenknecht den Beschäftigten in den Betrieben, Büros und Verwaltungen eine veränderte und historisch neuartige Rolle zu. Mit der Neutralisierung des Kapitals sollen schrittweise Unternehmensanteile an eine Stiftung übertragen werden, die dann »der Belegschaft untersteht« /337/. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger als die Aufhebung der Entfremdung der lebendigen Lohnarbeit, die sich jetzt nicht mehr als bloßes Anhängsel des Kapitals als toter Arbeit begreift, sondern in den emphatischen Worten des kreativen Sozialisten Marx: »Die Erkennung der Produkte als seiner eignen und die Beurteilung der Trennung von den Bedingungen seiner Verwirklichung als einer ungehörigen, zwangsweisen – ist ein enormes Bewußtsein, selbst das Produkt der auf dem Kapital ruhenden Produktionsweise, und so sehr das knell to its doom« (MEW 42: 375) – also auch bei Wagenknecht »das Einläuten des Untergangs« eines unproduktiven Kapitalismus. Durch Belegschaftseigentum und Mitarbeiterbeteiligung »würden Anreize für ein Wirtschaften gesetzt, das erheblich effizienter, innovativer und für den allgemeinen Wohlstand förderlicher wäre als das heutige. Das wäre der Weg in eine echte Leistungsgesellschaft, in der jeder sein Leben mehr oder weniger mit den gleichen Startchancen beginnt.« /339/

Gemessen an diesen Anforderungen an ein verändertes Eigentümerbewusstsein und -verhalten legt Wagenknecht die Schwerpunkte ihrer Transformationskonzeption lediglich auf die (politischen) Hebel (Vermögens)Steuer, Staatseingriffe und Rechtsprechung zur Veränderung betrieblicher Eigentumsstrukturen. Fast völlig ausgeblendet bleiben hingegen die verschiedenen Ebenen der für die Akteure relevanten und daher schrittweise zu verändernden Regulierungen in Betrieb und Gesellschaft: die Formen der Unternehmenssteuerung, die komplexen Einbindungen der Betriebe und ihrer Belegschaften in gesamtgesellschaftliche Konkurrenz- und Ausgleichungsprozesse der Profitproduktion sowie die finanzialisierten sozialstaatlichen Rahmenbedingungen der Lohn- und Einkommensbezieher. Erst in sozialen Auseinandersetzungen um die Qualitätsveränderungen dieser Regulierungen können die ArbeitnehmerInnen eine neues Eigentümerbewusstsein ausbilden. Aber in Wagenknechts »Ordnungspolitik« kommen soziale Antagonismen, Kämpfe und die Suche nach neuen Handlungs- und Einflussmöglichkeiten »von unten« so gut wie nicht vor – und damit auch kein Brückenschlag zu anderen innerlinken oder gewerkschaftlichen Strategiedebatten eines Politikwechsels unter Bedingungen des Finanzmarktkapitalismus. Denn nach der finanzmarktorientierten Aufkündigung der kooperativen Verhandlungsmuster der Deutschland AG gilt: »Es geht um neue Formen der Unternehmenssteuerung – in wirtschaftsdemokratischer Perspektive um Investitionsentscheidungen, die nicht mehr allein den Imperativen der Kapitalverwertung unterliegen. Die Demokratisierung der Unternehmen wird aber nicht gelingen, wenn sie nur als Herstellung einer neuen Machtbalance an der Spitze gedacht wird. Eine neu ausgerichtete und verhandelte Unternehmenssteuerung erfordert neue Kollektivinteressen, die hergebrachte Repräsentationsverhältnisse von Betriebsrat und Gewerkschaft überschreiten. Ein neues Kollektivinteresse muss in den Produktionshallen und Büros entstehen: als Interesse an Neuzuschnitten der Arbeit, an der Rücknahme von Arbeitsteilung, an Aufqualifizierung, an ressourcengestützter Autonomie und Selbststeuerung.«12

Zweifelsohne bedeutet Wirtschaftsdemokratie für die Überwindung des Finanzmarktkapitalismus und die Beförderung eines »kreativen Sozialismus« noch sehr viel mehr. »Es geht auch um neue Beteiligungsmodelle, die Umwelt- und Konsumentenbedürfnisse in die Unternehmens- und Industriepolitik einbringen. Und schließlich ist das alles nur denkbar im Rahmen einer nationalen und supranationalen Wirtschaftspolitik, die nicht länger bedingungslos der Froschperspektive einzelwirtschaftlicher Rationalität folgt und für die durch eine wirkliche Wirtschaftsdemokratie ›von unten‹ neue wirksame Legitimationszwänge aufgebaut werden könnten. Aber die partizipative Umgestaltung der Erwerbsarbeit bleibt eine Schlüsselaufgabe.« (ebd.)

 

Hegemonie des Finanzkapitals und Destabilisierung der Lohnarbeitsgesellschaft

Ein bisschen mehr »klassenkämpferischen« Impetus in Richtung radikalisierter Mitbestimmung und Wirtschaftsdemokratie hätte man daher von einer stellvertretenden Parteivorsitzenden einer Linkspartei bei ihrem vollmundigen Plädoyer für Belegschaftseigentum schon erwarten können. Auch die sozialstrukturellen Veränderungen der Lohnarbeit unter der Finanzialisierung von Betrieben und der Formen sozialer Sicherung bleiben sträflich unterbelichtet. Die politischen, sozialen und kulturellen Umbrüche der letzten Jahrzehnte des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts bringen eine epochale Transformation des Kapitalismus zum Ausdruck – mit zwei zentralen Folgewirkungen: einer schleichenden Aushöhlung und Zerstörung des Werts der Ware Arbeitskraft sowie der Ausbildung einer Prekarisierung des gesellschaftlichen Arbeitskörpers, die die herkömmlichen Kategorien einer industriellen Reservearmee längst gesprengt hat.

Prekarisierung stellt einen Bruch mit der Entwicklung des so genannten Normalarbeitsverhältnisses dar, das selbst wiederum eine späte Erscheinung in der Geschichte des Kapitalismus ist. Bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts hatte sich das Lohnarbeitsverhältnis nach und nach »zu einer stabilen gesellschaftlichen Position entwickelt, mit der Sicherheitsgarantien und Rechtsansprüche verbunden wurden, die geeignet waren, einen gesellschaftlichen Bürgerstatus zu begründen. Diese Verknüpfung von Arbeit und sozialer Sicherung kann als die große Innovation der Erwerbsgesellschaft gesehen werden.«13 Das Arbeitseinkommen (Lohn) entspricht nicht mehr nur einem Entgelt für die unter der Regie des Kapitals verrichtete Arbeitszeit, sondern stellt eine neue Form von »gesellschaftlichem Eigentum« dar: der sozialen Absicherung von existenziellen Risiken wie Krankheit, Arbeitsunfälle, Arbeitslosigkeit und Altersversorgung. »Bis annähernd zum Beginn der 1970er Jahre konnte man ... beobachten, wie das Lohnarbeitsverhältnis durch Ausweitung kollektiver Regelungen konsolidiert wurde, durch kollektive Vereinbarungen, kollektive Rechte in Bezug auf Arbeit und soziale Sicherheit, starke Präsenz der Gewerkschaften, starke Präsenz des Staates, Kompromisse zwischen mächtigen kollektiven Akteuren und dergleichen. Man konnte damals insoweit von einem Kompromiss sprechen, als mächtige kollektive Akteure in der Lage waren, den Marktmechanismen die Stirn zu bieten.«14

Die Schlüsselthese lautet mithin: Mit Deregulierung und Privatisierung wird die Tendenz zur Transformation in Richtung leistungslosen Einkommens verstärkt, der (Leistungs)Druck auf die Wertschöpfungskerne und -ketten erhöht, relevante Teile der Bevölkerung prekarisiert, aus der Wertschöpfung dauerhaft exkludiert und als verfestigte Armuts- und Unterklasse dem fatalen Kreislauf selbst schon finanzialisierter Transfer- und Austeritätspolitik anheimgegeben. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht die Lohnarbeitsgesellschaft somit erneut vor einer »Polanyischen Situation«!

»Great Transformation« statt »Erhard reloaded«

Nach Karl Polanyi (1886-1964) ist die Gesellschaftsgeschichte des modernen Kapitalismus seit dem 19. Jahrhundert »das Ergebnis einer Doppelbewegung. Während sich die Marktorganisation in bezug auf echte Waren ausweitete, ... wurde andererseits ein ganzes Geflecht von Maßnahmen und Verordnungen in mächtigen Institutionen zu dem Zweck zusammengefasst, den Marktmechanismus in bezug auf Arbeit, Boden und Geld einzuschränken. ... Die Gesellschaft schützte sich selbst gegen die einem selbstregulierenden Marktsystem innewohnenden Gefahren – dies war das bedeutsamste Merkmal der Geschichte dieses Zeitalters.«15 In der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts versagte diese Doppelbewegung zum Selbstschutz der Gesellschaft. »Die Ursprünge der Katastrophe (lagen) in dem utopischen Bemühen des Wirtschaftsliberalismus zur Errichtung eines selbstregulierenden Marktsystems.«16 Erst zeitversetzt kam es nach der Weltwirtschaftskrise 1928ff. mit dem New Deal in den USA, und nach Faschismus und Weltkrieg mit dem Beveridge-Plan in Großbritannien und den sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Entwicklungen in Frankreich und Deutschland zu einem erneuten »Selbstschutz« der Gesellschaft. Mit den Arbeiten von J.M. Keynes lagen auch ein zeitdiagnostisch begründeter Abschied vom Laissez faire, eine gesellschaftstheoretische und ökonomiekritische Verarbeitung der Weltwirtschaftskrise sowie wirtschaftspolitische Alternativen vor.

Die große Niederlage des liberalen Kapitalismus in den 1930er und 40er Jahren ging einher mit einem »Revanchesieg des Staates ... Laisser-faire ist tot. Lang lebe die Planung (social control) – nicht nur für den Krieg, sondern zugleich als Grundlage für den Frieden und das kommende Reich der Brüderlichkeit.«17 Der italienische und deutsche Faschismus, der New Deal in den USA und der sowjetische Staatssozialismus stehen gleichermaßen für diese verschiedenen Ausprägungen eines »starken« bis »totalen« Staates und für die Entstehung neuer, massenkultureller Formen der Bildung oder Erzwingung von gesellschaftlicher Zustimmung und Konsens. Die Genese des Neoliberalismus liegt in dieser Gemengelage begründet und lässt sich bis in das Jahr 1938 zurückverfolgen. Das gesellschafts- und wissenschaftspolitische Vorhaben wurde erstmals auf einer Konferenz konkretisiert, die anlässlich des Erscheinens von Walter Lippmanns Buch The Good Society in Paris organisiert wurde. Das Buch eines der einflussreichsten US-amerikanischen Journalisten der Zwischenkriegszeit richtete sich sowohl gegen die traditionelle liberale Vorstellung des Laisser-faire als auch gegen kollektivistische Ansichten und wurde dort auf den Begriff des Neoliberalismus gebracht und mündete schließlich in der 1947 in der Schweiz ins Leben gerufenen Mont Pèlerin Society. Intellektuell und programmatisch stand von Hayek im Zentrum dieser Initiative. In seiner programmatischen Schrift aus dem Jahr 1949 »Die Intellektuellen und der Sozialismus« – aus der Wagenknecht in ihrem Vorwort pikanterweise das zentrale Motto von der »Macht der Ideen«18 ins eigene Stammbuch übernimmt – begründete er die Notwendigkeit, den Kampf um die Köpfe der Eliten aufzunehmen. Eigentlicher Antipode und impliziter Bezugspunkt war Keynes und dessen Verdikt, wonach die Ideen von Ökonomen und politischen Philosophen einflussreicher sind als gemeinhin angenommen, weil die Politiker »Sklaven des Denkens längst verblichener Ökonomen« (Keynes 1936) seien.19 Keynes verkörperte nach dem Ersten Weltkrieg innerhalb des bürgerlichen Lagers gegenüber einem radikalisierten Liberalismus noch eine Alternative, sozusagen einen »Dritten Weg«. Aber auf dem »langen Marsch« zum Neoliberalismus gelang es Hayek und Co., insbesondere in der Frage des Staatsinterventionismus den Keynesianismus weitestgehend von der liberalen Landkarte zu verbannen und als »sozialistisch« zu stigmatisieren.

Auch Walter Eucken, politisch-theoretischer Mitbegründer des westdeutschen »Ordoliberalismus« in den 1940er Jahren und der »Freiburger Schule« im Nachkriegsdeutschland,20 auf dessen ordnungspolitische Entwürfe sich Wagenknecht in ihrem Buch durchgängig bezieht, schrieb 1932 einen zentralen Aufsatz gegen die mögliche Anwendung der keynesianischen Methoden in Deutschland zur Lösung der Krise, der im Selbstverständnis des Neo- wie Ordoliberalismus einen bedeutsamen Referenzpunkt markiert: »Während die ältere antikapitalistische Bewegung nämlich, die auf Marx fußt, das Ziel einer staatenlosen sozialistischen Gesellschaft sieht, zu deren Durchsetzung der Staat lediglich vorübergehend wichtig ist, will der moderne Antikapitalismus gerade im totalen, die Wirtschaft umfassenden, möglichst autarken Staat den Kapitalismus überwinden.«21 Die politisch entscheidende Alternative besteht mithin für die Freiburger Schule in der Differenz zwischen Liberalismus und den verschiedenen Formen des Staatsinterventionismus wie Keynesianismus, Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus. Mit der westdeutschen Variante des Neoliberalismus und der Erhardschen Wirtschaftspolitik ist bei der Doppelreform vom Juni 1948 – Währungsreform und weitgehende Preisfreigabe – noch vor der eigentlichen Gründung der Bundesrepublik im Kern eine wirtschaftspolitische Richtungsentscheidung gegen eine keynesianische Reformalternative, gegen Umverteilung und Wohlfahrtsstaat, gegen betriebliche wie gesamtwirtschaftliche Mitbestimmung und einen starken öffentlichen Sektor gefallen und im Gewande eines »liberalen Interventionismus« die Durchsetzung und Sicherung einer wettbewerbsintensiven Marktwirtschaft angestrebt worden.

Wagenknecht hat diese gesellschaftsgeschichtlichen Konstellationen, politischen Kräfteverhältnisse und ideologischen Konfliktlinien in den USA und Europa beim komplizierten Übergang von Hobsbawms »Zeitalter der Katastrophe« mit Weltwirtschaftskrise und Weltkrieg in das »Zeitalter des Golden Age« nicht verstanden, wenn sie einerseits von Hayek, Erhard und Eucken in einen Topf wirft und zum neoliberalen »Gegenprogramm« zu Laissez-faire und ungehemmter Profitmacherei stilisiert, andererseits den Keynesianismus als den eigentlichen und unterschwellig viel wirksameren Bezugspunkt in seinem ansetzenden »Siegeszug« für die 1950er Jahre vollständig ausklammert. Es ist schlicht falsch, zur »Sozialen Marktwirtschaft« Erhardscher und ordoliberaler Prägung als erste »Grundsäule« den »Sozialstaat« /29/ zu zählen. Die Entwicklung in Richtung des Sozial- oder Wohlfahrtsstaats des 20. Jahrhunderts war das Resultat langwieriger gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und gewerkschaftlicher Kämpfe. Für die frühe Bundesrepublik steht dafür beispielsweise einer der längsten Arbeitskämpfe in Deutschland, der Streik um Lohnfortzahlung bei Krankheit im Jahr 1956 in Schleswig-Holstein – durchgesetzt gegen die Erhardsche Ordnungspolitik. Erst mit einer solchen sozialstaatlichen Zivilisierung kapitalistischer Marktökonomien in den 1950er bis 70er Jahren wird das geschichtlich wirksam, was Polanyi 1948 die »Doppelbewegung zum Selbstschutz der Gesellschaft« nannte. Dagegen versuchten die Neo- und Ordoliberalen schon in den 1940er Jahren insbesondere in einer Kritik am Beveridge-Plan alle auch heutzutage gängigen neoliberalen Topoi der Sozialstaatskritik aufzubieten und zu polemisieren: Dieser ganze sozialpolitische »Sicherungs- und Versorgungsapparat bleibt immer nur ein dürftiges Surrogat des gerissenen Eigentumsankers der Mittelschichten, ... die das ganze Uhrwerk in Gang haltende Sprungfeder der Selbstverantwortung wird immer schwächer... Ein Ende ist erst in der völligen Katastrophe von Staat und Gesellschaft abzusehen.«22 Das hat der neoliberale Finanzmarktkapitalismus schließlich selbst besorgt.

Heute befindet sich die kapitalistische Marktwirtschaft angesichts neoliberaler und finanzmarktkapitalistischer Zerstörung eines ehemals sozialstaatlich zivilisierten Lohnarbeitsstatuts vor einer erneuten »Great Transformation«. Es geht dabei um ein komplexes Reformprogramm in kritischer Anknüpfung an die Vorzüge und Schwächen der untergehenden Lohnarbeitsgesellschaft. Diese will Wagenknecht mit ihrem Plädoyer für einen kreativen Sozialismus und ersten Skizzierungen einer sozialistischen Marktwirtschaft in eine neue Eigentums­ordnung von Mitarbeitergesellschaften und Belegschaftseigentum transformieren. Aber ihr berechtigter Abschied von staatssozialistischen Konzeptionen, bei denen die gesellschaftlichen Individuen kein Selbstbewusstsein und aktives Verhalten als Eigentümer ihrer Reichtumsproduktion ausbilden konnten, wird darüber erkauft, dass eine am Bild des Unternehmergründers orientierte »ordnungspolitische« Eigentümervorstellung mit den besitzbürgerlichen Anrechten auf die erarbeiteten Werte auf die LohnarbeiterInnen übertragen wird. Der Ordoliberalismus – in Wagenknechts Lesart der »Neoliberalismus 1.0« – beklagte noch in der Erhard-Zeit der 1950er Jahre die Zerstörung des »Eigentumsankers der Mittelschichten« durch den Sozialstaat. Will Wagenknecht nun 2011 ihrerseits angesichts der Zerstörung des Sozialstaats durch den Neoliberalismus 2.0 den ordoliberalen Eigentumsanker für alle Gesellschaftsmitglieder wiederherstellen? Kann dies den Erfordernissen einer »Great Transformation« zur erneuten Zivilisierung gesellschaftlicher Reichtumsproduktion und -verteilung gerecht werden? Warum nicht gleich das Individualitätspotenzial und die avancierten Strukturen von Kooperation, Kollektivität und Vernetzung in den modernen Formen der Lohnarbeit selbst zur Herausbildung einer »Assoziation freier Individuen« nutzen, die die unterschiedlichen Ebenen gesellschaftlicher Regulierung ihrem assoziierten Verstand und »general intellect« unterwerfen. Denn »das fremde Eigentum des Capitalisten an der Arbeit ist nur aufzuheben, indem sich sein Eigentum als das des Nicht-Einzelnen in seiner selbständigen Einzelheit, also des associierten, gesellschaftlichen Individuums umgestaltet.« (MEGA II, 3.6: 2145) Etwas mehr an sozialer Fantasie, Kollektivität und solidarischer Ökonomie hätte man sich von der Genossin Wagenknecht auf ihrem Weg vom ordnungspolitischen Besitzindividualismus zum kreativen Sozialismus gewünscht, dann könnte es zu einer spannenden gemeinsamen Wanderung werden – auch mit aufgeklärten Bürgern und roten Fahnen.

[1] Seitenangaben im Folgenden in Schrägstrichen.

[1] Vgl. dazu u.a. Richard Detje/Wolfgang Menz/Sarah Nies/Dieter Sauer, Krise ohne Konflikt? Interesse- und Handlungsorientierungen im Betrieb – die Sicht von Betroffenen, Hamburg 2011; Joachim Bischoff u.a., Die große Krise. Finanzmarktcrash – verfestigte Unterklasse – Alltagsbewusstsein –Solidarische Ökonomie, Hamburg 2010, insbes. Kap. 4: Die große Krise im Alltagsbewusstsein.

[1] »Wahnsinn mit Methode. Finanzcrash und Weltwirtschaft«, Berlin 2008.

[1] Vgl. Sebastian Dullien/Hansjörg Herr/Christian Kellermann, Der gute Kapitalismus, Bielefeld 2009.

[1] »Kapitalismus untergräbt Freiheit und zerstört Demokratie«, Gespräch mit Sahra Wagenknecht über Defizite der Planwirtschaft, Vorzüge ordoliberalen Denkens und den richtigen Weg zum Sozialismus, in: junge welt, 14.5.2011.

[1] Wagenknecht verhält sich hier ausgesprochen geschichts- und theorielos zu den vielen politischen und publizistischen Anstrengungen in den Reihen der Linken seit Ende der 1990er Jahre, die Hegemonie neoliberaler Ideologien sowie ihrer Entstehung und geschichtlichen Wandlungsfähigkeit zu begreifen, zu erklären und gegen-hegemoniale Diskurse zu organisieren. Vgl. zusammenfassend: Hans-Jürgen Urban (Hrsg.), ABC zum Neoliberalismus, Hamburg 2006.

[1] Man könnte Wagenknecht für den Fortgang ihrer Argumentation entgegenhalten: »Was die Dame von den bürgerlichen Apologeten unterscheidet, ist auf der einen Seite das Gefühl der Widersprüche, die das System einschließt; auf der andren der Utopismus, den notwendigen Unterschied zwischen der realen und idealen Gestalt der bürgerlichen Gesellschaft nicht zu begreifen und daher das überflüssige Geschäft vornehmen zu wollen, den ideellen Ausdruck selbst wieder realisieren zu wollen, da er in der Tat nur das Lichtbild dieser Realität ist.« (MEW 42: 174) Es wird sich aber zeigen, dass die Autorin das heutige Geltendmachen des ordoliberalen Gegenentwurfs von 1949 keineswegs für ein politisch überflüssiges, sondern für ein heuristisch ertragreiches Geschäft hält. Dagegen setzt Harry Nick hier seine Kritik an Wagenknechts Buch an: »Ich kann mich nur wundern darüber, dass die Autorin, bekannt durch ihre radikale antikapitalistische Haltung, nicht auf die Idee kommt, Entstehen und Aussagen der Lehre von der Marktwirtschaft vor dem Hintergrund der existenziellen Krise des Kapitalismus in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu beleuchten (...) Das aber ist die Schlüsselfrage, auch für das reale Schicksal des marktwirtschaftlichen Konzepts.« (Harry Nick, Mit Ludwig Erhard zum »kreativen Sozialismus«?, www.harrynick.de, erscheint auch in Z, Nr. 87)

[1] Wagenknecht zitiert hier Roger de Weck, Nach der Krise. Gibt es einen anderen Kapitalismus?, München 2009, S. 53.

[1] Wagenknecht zitiert hier Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen 2004, S. 242.

[1] Michel Aglietta/Antoine Rebérioux, Vom Finanzkapitalismus zur Wiederbelebung der sozialen Demokratie, Supplement der Zeitschrift Sozialismus 3/2005, Hamburg, S. 17f.

[1] »Warenproduktion und Warenzirkulation sind aber Phänomene, die den verschiedensten Produktionsweisen angehören, wenn auch in verschiednem Umfang und Tragweite. Man weiß also noch nichts von der differentia specifica dieser Produktionsweisen und kann sie daher nicht beurteilen, wenn man nur die ihnen gemeinschaftlichen, abstrakten Kategorien der Warenzirkulation kennt.« (MEW 23: 128) Insofern ist die Polemik vieler Linken gegen den Markt zumindest mit Rückgriff auf die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie nicht zu begründen.

[1] Michael Schumann/Richard Detje, Demokratisierung der Wirtschaft »von unten« – ein neuer Anlauf für Systemkorrekturen, in: Hartmut Meine/Michael Schumann/Hans-Jürgen Urban, Mehr Wirtschaftsdemokratie wagen!, Hamburg 2011, S. 76/77.

[1] Robert Castel, Der Zerfall der Lohnarbeitsgesellschaft, in: Lohn der Angst, Liber Jahrbuch 3, Konstanz 2001.

[1] Ebd.

[1] Karl Polanyi, The Great Transformation (1944), Frankfurt/M 1978, S. 112.

[1] Ebd. S. 54.

[1] Wolfgang Schivelbusch, Entfernte Verwandtschaft. Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933-1939, München 2005, S. 51.

[1] Allerdings ist dabei eine alte Marxsche Weisheit zu berücksichtigen: »Die Idee blamierte sich immer, soweit sie vom Interesse unterschieden war.« Ob die Genossin Wagenknecht sich darüber im Klaren war?

[1] Vgl. dazu Dieter Plehwe/Bernhard Walpen, Neoliberale Denkkollektive und ihr Denkstil, in: Giovanni Arrighi u.a., Kapitalismus reloaded. Kontroversen zu Imperialismus, Empire und Hegemonie, Hamburg 2007; Bernhard Walpen, Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine hegemonietheoretische Studie zur Mont Pèlerin Society, Hamburg 2004; Jürgen Nordmann, Der lange Marsch zum Neoliberalismus. Vom Roten Wien zum freien Markt – Popper und Hayek im Diskurs, Hamburg 2005.

[1] Vgl. dazu Ralf Ptak, Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft. Stationen des Neoliberalismus in Deutschland, Opladen 2004.

[1] Walter Eucken, Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 36, Jena 1932, S. 305.

[1] Wilhelm Röpke, Der Beveridgeplan, in: Schweizer Monatshefte Juni-Juli 1943, S. 159-173.