Der Erfolg der Ganztagsschule

– reformpädagogische Ideen, pädagogische Praktiken der Individualisierung und politische Konstellationen

Im letzten Jahrzehnt ist in Deutschland ein Trend zu beobachten, die tägliche Schulzeit auszuweiten Anvielen Grundschulen wurden in den 90er Jahren zunächst sogenannte „Verlässliche Halbtagsschulen" geschaffen, in denen die Kinder verbindlich bis 13.30 Uhr betreut werden, und seit etwa 2000 - verstärkt nach der im deutschen bildungspolitischen und pädagogischen Diskurs als Katastrophe bewerteten Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse[1]- wurden mehr und mehr Ganztagsschulen eingerichtet (vgl. Quellenberg 2007,Klieme u.a. 2007). In diesen Bestrebungen treffen sich unterschiedlicheMotivationen und Intentionen verschiedener politischer Akteure.

Wir finden vor allem drei Begründungen: Erstens sei ein Angebotan längeren Betreuungszeiten notwendig, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erhöhen, um Frauen Berufstätigkeit zu ermöglichen und damit - soneuerdings die bevölkerungspolitische Argumentation - die Geburtenrate, nichtzuletzt bei Akademikerinnen, zu erhöhen. Zweitenssei es notwendig Ganztagsschulen einzurichten, um Bildungsbenachteiligungen auszugleichen, die als Effekt spezieller familiärer Milieus entstehen. Und drittens wurde schon bei der Einführung der Ganztagsschule inRheinland-Pfalz, die den Auftakt der gegenwärtigen Institutionalisierung ganztägiger Angebote darstellte, deutlich, dass eine eigentümliche Verknüpfungvon sozialpolitischen Argumenten und reformpädagogischen Ansprüchen anzusätzliche Nachmittagsangebote vorgenommen wurde. Mit der Einführung vonGanztagsschulen war keineswegs nur eine verlässliche Betreuung angestrebt, vielmehr sollten schülerorientierte Angebote ein mit dem üblichen Schulalltag verglichen „anderes" Lernen garantieren (vgl. Scherr 2003, Olk 2003).

Scheinteinerseits kaum vorstellbar, dass die Ganztagsschule alle diese mit ihr verbundenen Ziele und Hoffnungen erfüllen kann, so könnte andererseits genaudiese Verbindung und Überlagerung unterschiedlichster Vorstellungen den Erfolgausmachen, den - gemessen am deutschen „Sonderweg" der Halbtagsschule (vgl. Hagemann/Gottschall 2002,Hagemann 2006) - derzeit das Ganztagsschulprogramm zu verzeichnenhat.     

Wir wollen, um diese These mit unseren historisch-diskursanalytischen undempirischen Befunden belegen zu können, in drei Schritten vorgehen: Wir werdenzuerst das Verhältnis von Ganztagsschule und Reformpädagogik kurz skizzieren, bevor wir im Anschluss Befunde zu den Konstruktionen der Praktiker und zu denpädagogischen Praktiken in Ganztagsschulen darstellen. Im nächsten Schrittwollen wir „Grenzverschiebungen" des Schulischen und die erkennbare Tendenz zuindividualisierenden Lernformen schultheoretisch diskutieren, um im Schlussteil Thesen zur gesellschaftlichen Bedeutung und der aktuellen Politik dieserEntwicklung zu notieren.

 

1. Der Diskurs über Ganztagsschulen und seine reformpädagogische Fundierung

Die gegenwärtigen bildungspolitischen Initiativen und die schulischen Akteure beziehen sich in der Konzeptualisierung schulischer und unterrichtlicher Entwicklungen und in ihren Begründungen  explizit, aber vor allem auch implizit auf eine reformpädagogische Programmatik (vgl. auch Kolbe/Reh 2008). Das lässt sich anhand der Veröffentlichungen,die die rheinland-pfälzischeReform begleiteten, aufzeigen.

Das erweiterte Schulangebot in Rheinland-Pfalzsollte fundiert pädagogisch gestaltet sein, damit Schule insgesamt sich verändere, damit sie auf schülerorientierteWeise mehr fördereund mehr Lernmöglichkeitenfür bessere Leistungen eröffne (vgl. Kolbe/Kunze/Idel 2005, 2006). So wurde auf eine spezifische Nutzung einerverlängerten Anwesenheit in der Schule gesetzt: „Unterrichtsbezogene Ergänzungen" sollen dabei keinesfalls den „normalen" Unterricht verlängern oder gar die Halbtagsstundentafelerweitern. Vielmehr bestehe gerade innerhalb der Ganztags-Angebote die Chance,durch schüleraktivierende Methoden „mit allen Sinnen zu lernen" (Ministerium für Frauen, Bildung undJugend 2001, Anlage 2). Unausgesprochen setzt dieser Text Ganztagsangebote mitden hinzukommenden neuartigen Elementen gleich und interpretiert derenVerhältnis zum Halbtagsprogramm zugleich als eine Spannung, die durch weitere Reformen gelöstwerden kann. Deren pädagogischerKern bestehe in „anderen" Unterrichtsmethoden, welche - der Programmatik entsprechend- einen „ganzheitlichen" Aneignungsprozess ermöglichen sollen. Mit „anderem" Lernensind Vorstellungen einer „Öffnung" schulischen Lernens und der unterrichtlichen Methoden und eine den Bedürfnissen der Lernenden gerecht werdende pädagogischen Gestaltung der Angebote gemeint. Das schließt eine besondere (individuelle) Förderung und „pädagogischwertvolle" Freizeit ein. Übereine im engeren Sinne sozialpolitische Zielsetzung hinausgehend wird mit dem rheinland-pfälzischen Programm zur Etablierung von Ganztagsschulen also einebildungspolitische Zielsetzung zugunsten einer im Ganzen erneuerten „schülerorientierten" und auf „Eigenaktivitäten" der Schüler und Schülerinnensetzenden Lernkultur an den Schulen verfolgt.

Die Reform-Formel der „Schülerorientierung" in der gegenwärtigenGanztagsschul-Programmatik stellt eine spezifische Rezeption reformpädagogischer Prinzipien dar, die in einer oft kultur- und d.h. immer auch medienkritischenPosition auf „unmittelbare Erfahrungen" zielt und damit gewissermaßen auch als intendierte Ausweitung und Grenzverschiebung des Schulischen gefasst werdenkann. Die Anleihen bei einem in der Zeit zwischen 1900 und etwa 1930 sich vervielfältigenden reformpädagogischen Diskurs[2]sollen im Folgenden kurz skizziert werden.

Mit der faktischen Durchsetzung eines Schulbesuchs aller Kinder um die vorletzte Jahrhundertwende in Deutschland wurde eineSchulkritik als Kritik an den etablierten Organisationsformen der institutionalisierten Erziehung virulent, die etwa die Dominanz des Fachunterrichts und die Formen einer „frontalen", kleinschrittigen Belehrung, die Einteilung der Schüler in Jahrgangsklassen und das Prinzip der Versetzung und vor allem auch dieDurchsetzung eines generalisierten Berechtigungswesens beklagte (vgl. Oelkers2004, S. 787-789). Vor dem Hintergrund einer universalisierten Schulbildung undeines generalisierten Bildes vom Kind entstanden verschiedene Reformschulen,deren Prinzipien die Orientierung am Kind, d.h. die Orientierung auch institutionalisierter Erziehung an Wachstum und natürlicher Entwicklung desKindes in Gemeinschaft durch den weitgehenden Verzicht auf eine Fremdbestimmungdurch „Kultur" oder „Politik", also etwa durch ein Curriculum, war (vgl.ebd.). 

Ullrich (2002) unterscheidet für den reformpädagogischen Denktypus fünf Aspekte, die sich einem solchen generalisierten Bild vom Kind, der romantischenVorstellung vom schöpferischen Genius der Kinder, ihrer Rolle als quasi innerweltliche Erlöser für in ihrerErkenntnis entfremdete Erwachsene (vgl. Ullrich 1999), ihrer sozialen Orientierungauf Gemeinschaft hin, und vor allem dem Prinzip der Zurückhaltung der Erzieher und desWachsenlassens des Kindes nach seinem eigenen Plan verdanken: Kinder und Jugendliche werden erstens als nicht entfremdete, uneingeschränkt entwicklungsfähige Wesen gedacht. Erziehung muss zweitens deshalb vom Verstehen der jungen Menschen ausgehen, und diesen auf gleicher Augenhöhe im Dialog begegnen und sie anerkennen. FürUnterricht und Lernen ergibt sich drittens daraus die Bevorzugung „negativer Erziehung" und von Lehrmethoden, die auf Selbsttätigkeit und Freigabe des Kommunizierens und des Ausdrucks gerichtet sind. Deshalb ist damit inhaltlich auch der Anspruch verknüpft, sich an der Logik der Aneignung (nicht der Fachwissenssystematik) zuorientieren. Schule ist viertensdeshalb dann als umfassender Lebensraum und nicht nur als Unterrichtsraumeinzurichten, in der vor allem nicht rollenförmige, diffuse Beziehungen imRahmen einer „Gemeinschaft", teilweise familienartig, das Zusammenleben prägen. Fünftens schließlich sind Lerninhalte deshalb neu zu bestimmen, als es für die selbsttätige und eigenlogische Entwicklung jedes Individuums fürden jeweilig Einzelnen relevanter, eigener „authentischer" Erfahrungen bedarf;Inhalte sind gemeinsam festzulegen und sind in offenen, alsoindividualisierenden Lernformen und gesamtunterrichtlich bzw. projektartig zubearbeiten.

Selbstverständlich werden - so zeigen sozial- bzw.bildungshistorische Studien, die die Praxis reformpädagogisch orientierterSchulen aufarbeiten (vgl. z.B. die frühe Sammlung Amlung u.a. 1993) - diese Prinzipien in durchaus unterschiedliche Schulprogramme und pädagogische Praktiken umgesetzt. Im Einzelnen präsentieren sich bedeutsame Unterschiede -etwa in der Art der Konstituierung familialer oder kameradschaftlich-autoritärer Gemeinschaft oder in der Durchsetzung von Methoden. Der in den Hamburger Gemeinschaftsschulen unternommene Versuch, den Lehrplanund eine Festlegung inhaltlicher Zielorientierung des Unterrichts abzulehnen und das Lernen der Kinder auf ihre Interessen zu gründen wurde so zu einer „Inthronisation des Lebens zum Prinzip seiner selbst" (Benner/Kemper 2003, S.148) und - entgegen der Intention - die Qualität des Schul- und Unterrichtslebensder privaten Willkür des Lehrers, anders formuliert der „pädagogischen Persönlichkeit"und seiner Autorität überantwortet (vgl. Benner/Kemper 2003, S. 136-164). ImGegensatz dazu wurde etwa - wiederum in der Bewertung Benner/Kempers (2003, S.165-206) und Ullrichs (2002) - im, ebenfalls auf einen Lehrplan verzichtenden, Programm Berthold Ottos das Lernen methodisiert auf die Interessen der Kindergegründet,indem der Gesamtunterricht als ein gemeinsam ausgehandelter forschender Prozesszwischen Lehrer und Schülerinnenaufgefasst wurde, in dem die Kinder sich selbsttätig bis zum Wissensstand der heutigenKultur vorarbeiten (können).

Sicherlich wurde die Vorstellung von der Ursprungsnähe der Kinderund ihrer Erlöser-Rollefüreine entfremdete Gesellschaft seither ebenso säkularisiert wie die Vorstellung von der schöpferischen Phantasie, dem Genius des Kindes, entmystifiziert wurde. Dagegen scheinen dieImplikationen der Anleihen an reformpädagogische Prinzipien wie etwa der Vorstellung vom Lernen allein auf der Basis der Interessen und der Motivation der Kinder schulpädagogisch-historisch noch nicht bearbeitet.Immer noch werden diese Positionen zu normativen Zwecken zitiert, ohne sich der Anforderung des Handelns in Antinomie-Spannungen der Moderne zu stellen.

Besonders interessant ist in Verbindung mit dergegenwärtigen Programmatik der Ganztagsschule die Frage nach einer anhaltenden Verklärung des Prinzips der „negativer Erziehung" und der „Eigentätigkeit" als Basis einer freien Subjektentfaltung. Ebenso nachhaltig wirkt die Vorstellung von Lernprozessen als Vervollkommnung des sich selbst schließlich durchschauenden, über sich und die Bedingungen seines Selbst verfügenden,autonomen Subjekts. Wird das religiössuggestive Moment abgeschattet, das diesen Prinzipien ihre Gültigkeitverlieh (vgl. Baader 2005, 2006), scheint auch die Ambivalenz derjenigen pädagogischen Praktiken ausgeblendet zu werden, in denen „Selbsttätigkeit" und Verantwortung für das eigene Lernen erforderlich werden. Die poststrukturalistische Kritik dekonstruiert gerade die Freisetzungsforderungen selbständig-selbstverantwortlichen Lernens als historisch sich profilierende Praxis der Subjektbildung (vgl.Pongratz 2004), als Subjektivationspraxis[3], die gleichzeitig produktiv wirkt, ermächtigt und größere Handlungsspielräume eröffnet, aber sie auch auf neue Weise unterwirft und erhöhte Anpassungsleistungen als Introjektion bzw. Internalisierung flexibler Handlungsanforderungen im Sinne der Herausbildung spezifischer, „intrinsischer" Motivationsstrukturen (vgl. Deci/Ryan 2000) erzwingt (vgl. Rabenstein 2007).

Reformpädagogische Methoden gehören so heute zum Kern einer Modernisierung der Schulen und die Reformpädagogik scheint in den aktuellen Entwicklungen nach einem Jahrhundert ihrer Geschichte vor allem dort zu sich selbst zu kommen, woSchulentwicklungsbestrebungen und pädagogisch-psychologische Konzepte eines „selbstregulierten Lernens" (vgl. etwa Boekarts 1997, Schreiber 1998, Wirth2004) miteinander verbunden werden. Wo auf den ersten Blick eine Grenzverschiebungdes Schulischen eher institutionelle Fragen aufwirft, stellt sich auf den zweiten Blick die Frage nach neuen Praktiken der Selbstführung als neue Formender Subjektivation und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung. Das soll imFolgenden ausgeführt werden.

 

2. Symbolische Konstruktionen und pädagogische Praktiken - Lernkulturentwicklungan Ganztagsschulen

Angesichts eines bildungspolitischen Diskurses, indem die Ganztagsschule geradezu mit Erwartungen und Anforderungen überfrachtet wird, kommt den Deutungen der schulischen Akteure ein besonderes Gewicht als Kontext und Entwicklungsbedingung in den einzelnen Schulen zu. Sie führen an den untersuchten Schulen inunserem Forschungsprojekt[4]einen ausgeprägten Legitimationsdiskurs (vgl. Kolbe/Reh u. a. 2009), in dem die Ganztagsschule zur ‚anderen‘ gegenüber der Halbtagschule stilisiert wird. Dabeihaben wir in den Schulen zwei unterschiedliche Figuren in verschiedenen Ausprägungenund Mischungen rekonstruieren können, die ebenfalls - möglicherweise unintendiert- auf Elemente reformpädagogischen Denkens und reformpädagogischer Schulkritik zurückgreifen.

In den Grundschulen und den Förderschulen, teilweise aber auch noch in den weiterführenden Schulen reichen die Konstruktionen nah an die im historischen Schulreformdiskurs immer wieder beobachtete Vorstellung heran, Ganztagsschulenkönnten die Familie ersetzen, oder zumindest in umfassender Weise Erziehungsdefizite von Familien kompensieren (vgl. Reh 2009). Einher damitgehen weitgehende Abwertungen der Familien: Von emotionaler Vernachlässigungund mangelnder Erziehung ist die Rede, es herrschen Vorstellungen über eine anregungsarme und leer bleibende Freizeitgestaltung. Zur Kompensation dieserDefizite in den Familien und schließlich damit in gewisser Weise auch derSchüler und Schülerinnen soll die Ganztagsschule in zweierlei Hinsicht dienen: Sie wird entweder als eine sorgende und Halt gebende ‚Gegenwelt' entworfen, inder die Kinder sich wohl fühlen und emotionale Zuwendung erhalten können. Oderaber man konstruiert Ganztagsschule als ein pädagogisch gestaltetes undsinnvolles Freizeitangebot, das den Kindern ermöglicht, auch nachmittags etwas zu lernen und Defizite eines anregungsarmen familiären Bildungsmilieus auszugleichen(vgl. Fritzsche/Rabenstein 2009).

Eineanders gelagerte Konstruktion konnte sowohl an Grundschulen als auch an weiterführenden Schulen entdeckt werden. Hier dient die Vorstellung von Ganztagsschule als diejenige einer Überwindung der Trennung von Schule und Leben und alsVerbindung von informellen und formellen Lernprozessen. Gleichzeitig werden indieser Figur Schüler und Schülerinnen zumeist als leistungs- undbildungsdefizitär wahrgenommen und Schule wird als Ort einer die notwendigen Arbeits- und Lernhaltungen vermittelnden, neuen Lernkultur verstanden. Ein Mangel der bestehenden Halbtagsschulen, der hier vorausgesetzt wird, bestehtdarin, eben nur ‚künstliche' Schule und nicht ein ‚wirkliches', ein erfahrungsunmittelbaresLeben zu sein und damit nicht hinreichend „Kompetenzen" als Einheitverschiedener Handlungsdispositionen - sozialer, emotionaler, volitionaler undkognitiver - auszubilden. Es wird hier eine Vorstellung von Unterrichtentwickelt, die dessen Ansprüche - bzw. überhaupt schulische - bis in die Freizeitangebote hineinwirken lässt. Nachmittägliche Angebote und Projekte, diegleichzeitig als Freizeitgestaltung deklariert und an Unterrichtsthemenorientiert werden sollen, überlagern so das, was mit einer der Erwerbsarbeit entgegen gesetzten Idee von Freizeit gemeint wird, durch den Anspruch, nun auchin der Freizeit ‚Nützliches' zu lernen.

Was implizieren diese Konstruktionen, wozu tragen sie bei? Schultheoretisch - vor dem Hintergrund einer Theorie gesellschaftlicher Entwicklung als funktionalerDifferenzierung (vgl. Luhmann 2002) - betrachtet, werden in den beiden unterschiedlichen Legitimationsfiguren einer ganztägigen Beschulung die Aufgaben der Schule gegenüber einem bestehenden Verständnis der Aufgaben derHalbtagsschule ausgeweitet; es finden in diesen Vorstellungen also Grenzverschiebungen des Schulischen statt (vgl. Kolbe/Reh u.a. 2009). So werden Vorstellungen über Wirkungsfelder von Familie und Schule im Sozialisationsprozess verschoben (vgl. Scholz/Reh 2009), Logiken von Unterrichtund Freizeit werden in der Vorstellung nicht deutlich gegeneinander abgegrenzt(Idel u.a. 2009) und in der Schule werden Kinder und Jugendliche mehr und mehr- vor bestimmtem Theoriehintergrund könnte man sagen - nicht mehr nur in der Rolle als Schüler adressiert, sondern als „ganze Personen" (vgl. Kolbe/Rabenstein2009).

Diese symbolischen Konstruktionen, die in den Planungen und in den Reflexionen der Praktiker virulent werden, produzierenspezifische Schwierigkeiten und Widersprüche für die Entwicklung von Ganztagsschulen. Die Ganztagsschulentwicklung wird oft nicht vom systematisierten Lernen, vom Unterricht aus, gedacht, sie soll schließlichanderes, mehr sein, z.B. familienähnlich, womöglich familiäre Aufgabenbewältigen, das „ganze unmittelbare Leben" werden und die „ganze Person" ansprechen. Gleichzeitig allerdings bleibt sie Schule, die zusätzlich mit kompensatorischen Ansprüchen auftritt. Ein Blick auf die pädagogischen Praktiken, wie wir sie in unseren Videographien erhoben haben(vgl. Kolbe/Reh 2009b, Kolbe/Reh u.a. 2008, Rabenstein/Reh 2008) zeigt, welche Ambivalenzen in dieser Weise produziert werden. Die Professionellen agieren, als fühlten sie sich mit diffusen Rollen- und Aufgabenzuweisungen überfrachtet. Es entstehen Ansprüche an sie, einen Lebensweltbezug für die Schülerinnen undSchüler herstellen zu müssen, aber auch Ansprüche an die Schülerinnen, sich weitreichender in der Schule einzubringen, und es verschiebt sich der Anspruch, auf die Lernendenüber Rollenkonformität hinaus im Sinne umfassender Selbstpraktiken, einer„Selbstregulation" etwa, einzuwirken.

Aber nicht nur die symbolischen Konstruktionen stellen eine Entwicklungsbedingung im beschriebenen Sinne dar, auch die Auseinandersetzung mit vorhandenen Lernkulturen[5] und  Rahmungen prägen undlimitieren die Möglichkeiten. Die Qualität der pädagogischen Praktiken habenwir u.a. am Beispiel der mit „Förderung" und „offenen Lernangeboten" bezeichneten neuen Angebotselemente beschrieben. Diese stellen eineIndividualisierung im doppelten Sinne dar, einmal sind die Angebote stärker individuell, auf den Einzelnen zugeschnitten, zum anderen stellen sie die Individuenstärker als Subjekte fordernde Angebote dar. Mit ihnen einher geht vor allemder Anspruch, hochgradig adaptive und kognitiv anregende Angebote bereit zustellen. Analysierbar ist die Qualität der Angebote nun im Hinblick auf die Bearbeitung und Gestaltung der pädagogischen Differenz zwischen Aneignen und Vermitteln oder - in anderer Theoriesprache ausgedrückt - zwischen Lernen und Zeigen in zwei Dimensionen, nämlich im Hinblick auf die Gestaltung der Beziehung, der gegenseitigen Adressierung und im Hinblick auf den - zeigenden -Umgang mit der Sache. Die Beziehungsgestaltung bewegt sich zwischen einerseits einer situationsorientierten Adressierung der Schüler, und andererseits der Verwendung von generalisierten Zuschreibungen zur Person des Schülers durch die Lehrpersonen, die die spezifische Situation tendenziell unterschlagen. Adressierungen und Zuschreibungen, die sich nicht nur an einen generalisierten Schüler, sondern an eine besondere Person richten und dabei dennoch der Gefahr entgehen, „übergriffig" zu werden, die „ganze Person" schulischer Bezugnahme auszusetzen, die also situationsorientiert und damit flexibel-revidierbar bleiben, also z.B. keine generalisierten Defizitzuschreibungen in sogenannten individualisierenden Fördersituationen vornehmen - dies wird im größeren Teil der Praktiken noch nicht erkennbar. Auchder Umgang mit der Sache des Unterrichts, mit dem, was im pädagogischen Angebotgezeigt wird, bewegt sich zwischen den Polen einer situationsspezifischen Bezugnahme, einem situations- und schülerangemessenen, möglicherweise ausgehandelten Bedeutungsaufbau einerseits und der Fokussierung der Schüleraktivitätenzur Sache über eine Festlegung von Verfahrensschritten der Aufgabenbewältigung,in der der Bezug des Schülers oder der Schülerin zur Sache „gesteuert" über ein vorgegebenes Procedere entwickelt wird. Die Aufwertung einer situationsspezifischen Interaktion mit den Schülerinnen und Schülern über dieSache, in der auch einer instruktiven allgemeinen Sachdarstellung Rechnunggetragen wird, bleibt eher die Ausnahme.

Oft können die Praktikenin den untersuchten Angeboten deshalb den bildungspolitisch erhobenen Anspruch nicht einlösen. Auch im Fall der Einhaltung professioneller Orientierungen wirft die geschilderte Angebotsgestaltung die Frage auf, ob die Ausweitung und Intensivierung schulischer Disposition über die „ganze Person", durch dieexplizite Einübung entsprechender Selbstpraktiken in den pädagogischenAngeboten, z.B. zunehmende Praktiken der Selbstbeobachtung und der Selbstbeurteilung, verdeckt nicht sehr hohe und neue Exklusionen produzierende Anforderungen an dieLernenden stellt. Hinsichtlich der Gestaltung des Umgangs mit der Sache ist esin vergleichbarer Weise fragwürdig, Möglichkeiten wie beispielsweise starke individuelle Affiziertheit durch die Sache oder eine starke Annäherung vonSchule und ihren Sachinhalten an die übrige Lebenswelt einzufordern. Vielmehrwäre zu prüfen, ob nicht auch ganztagsschulische Angebote gerade dort, wo sieauf die besonderen Formen methodisierter Lernangebote und verallgemeinerte Lernweisen setzt, attraktiver werden. Zwei Umgangsweisen mit den neuenHerausforderungen könnten sich in Zukunft herauskristallisieren: Einerseits intensivere Lernumgebungenschuleigen verallgemeinernder Art mit Individualisierungsmomenten, andererseits hinsichtlich pädagogischerKommunikation ausgedünnte, von anderer Logik überlagerte Praktiken, die aberfür eine Verzahnung von schulischen und außerschulischen Lernerfahrungen sorgen könnten.

 

3. ZurEinschätzung von Grenzverschiebungen und individualisierenden Angeboten

 

Wir können die dokumentierten symbolischen Konstruktionen und die Ausformungen der Angeboteund darin der stärker individualisierenden pädagogischen Praktiken als Ausdruck einer spezifischen Grenzverschiebung lesen. Der Anspruch, auf die Lernenden einzuwirken, verschiebt sich, er geht gewissermaßen weiter - und die Lernenden werden in den stärker individualisierenden Settings und in hier aufgeführten Praktiken in anderer Weise adressiert, müssen sich in vielen, nicht nur typischschulischen Aktivitäten zeigen und in Anteilen, die bisher schulischer Beobachtung und Bewertung zumindest nicht direkt zugänglich waren, z.B. müssen sie sich nicht nur kurzfristig interessiert zeigen, sondern längerfristig eine entsprechende Motivation aufbauen und interessiert sein. Diese Grenzverschiebungen werden nicht ohne strukturelle Widersprüche vollzogen. Befunde über abnehmendes Interesse an Förderangeboten, über Disziplinprobleme und eine hohe Wertschätzung der Schüler für von Lehrpersonen unabhängige Arbeit in AGs und Projekten können so in ihrer Entstehung erklärt werden. Andererseits zeichnen sich auch Momenteeiner stärkeren Verzahnung von Schule und nicht-schulischer Lebenswelt indurchmischten Praktiken schulischer und außerschulischer Art ab. Deshalb besteht schultheoretisch Erklärungsbedarf.

Wir konnten in der Sichtung schultheoretischer Literatur aufzeigen (vgl. Kolbe/Reh 2009a), dass die genannten Phänomene unter dem Begriff einer „Entgrenzung" oder Grenzverschiebung diskutiert werden. Helsper (1996) hat in einer modernisierungstheoretischen Relektüre der strukturfunktionalistischen Sichtweisen die Ausdehnung der mit Vermittlung befassten Institutionen als Steigerung von Organisiertheit und gleichzeitiger Informalisierung beurteilt, die zu ausgesprochen problematischen und prekären Beziehungsstrukturen und hohen Anforderungen an das Subjekt als einem ich-starken Handlungszentrumführe. Grenzverschiebung in diesem Sinne verstanden und konzeptioniert erzeugt Probleme durch die Überschreitung der für die Institution Schule spezifischenHandlungs- und Beziehungsstrukturen - in einem bestimmten, aber begrenzten Bereich müssen die Schüler und Schülerinnen von den Lehrpersonen zu bewertende (kognitive) Leistungen erbringen. Einer solchen Sichtweise gegenüber gelingt es der stärker systemtheoretisch argumentierenden Position Kades (1997), den Prozess der Systembildung des Pädagogischen als Ausdifferenzierung zu sehen, indem einer Ausweitung des Pädagogischen, pädagogischer Kommunikationen, eines Bezugs von Lehren auf Lernen über Schule hinaus eine immer stärkere Durchsetzung derEigenlogik von Aneignungsprozessen, eine „Autonomisierung" des Pädagogischen, zur Seite steht. In einer solchen Perspektive erscheint Grenzverschiebung nicht nur als problemerzeugend, sondern auch als Problemlösungsangebot, indem nämlich die Eigenlogik der „Aneignungsprozesse" zur Geltung gebracht wird. Vor dem Hintergrund anderer Theorieangebote, etwa einem poststrukturalistischenVerständnis von Subjektbildung als Subjektivation, können an dieser Stelle diesich ändernden Formen der schulischen Subjektbildung in den Blick genommen und empirisch rekonstruiert werden.

Unserem Blick auf Praktikerkonstrukte, Praktiken und schultheoretische Positionenfolgend handelt es sich - so unsere schultheoretische These - bei den thematisierten Phänomenen um Grenzverschiebungen „nach außen" und zugleich „nach innen" - beides als Moment einer Ausdifferenzierung. Teil dieser Ausdifferenzierung ist eine stärkere „Individualisierung" im Sinne derProduktion neuer Formen von Selbständigkeit. Mit der Kritik der neuen Selbstverhältnisse könnte theoretisch weiterführend und die Subjektgenese als historische thematisierend gesagt werden: Hervorgebracht wird das Subjekt infortschreitend spannungsreichen Subjektivationsprozessen durch Aneignungkultureller Schemata, die zunehmend mehr innere Instanzen der Selbstgestaltung entstehen lassen. Praktiken sind mithin so in den Blick zu nehmen (vgl.Kolbe/Reh u.a. 2008), dass daran einerseits die mögliche Verschärfung spannungsreicher Subjektivationsprozesse rekonstruiert wird und andererseits die widersprüchlichen Anforderungen in der Umstellung auf offenere Formen „aneignungsbezogener Wissensvermittlung" und damit die Umstellung professionellen Handelns auf Organisation in den Blick kommen.

 

4.Ganztagsschule: zur aktuellen schulpolitischen und gesellschaftspolitischen Konstellation

 

Die in Deutschland lange Zeit und von unterschiedlichen Seiten bekämpfte Idee einer Ganztagsschule verzeichnet gegenwärtig einen Auftrieb. Vor dem Hintergrund des deutschen „Sonderwegs" einer Halbtagsschule lässt sich geradezu von einem „Siegeszug" der Ganztagsschule sprechen, auch wenn keinesfalls immer Schulen entstanden sind oder eingerichtet wurden, die auf eine neue, reformpädagogisch orientierte Art, Schule und Unterricht zu gestalten, setzen. Eine wesentliche Rolle für diesen Erfolgspielt das Zusammentreffen unterschiedlicher Notwendigkeiten, die Schaffung vonBedingungen, um die Bevölkerung zu einem anderen Reproduktionsverhalten zu bewegen, d.h. die Geburtenrate zu erhöhen, eine „Modernisierung" von Familien-und Schulpolitik (vgl. Bertram 2006), neue „time policies" im Hinblick auf Kinderpflege und Erziehung durchzusetzen und gleichzeitig Bildungsbenachteiligungen auszugleichen, die angesichts „postmoderner" Anforderungen an eine hochqualifizierteund flexible, d.h. lebenslang lernende Bevölkerung mehr und mehr bedrohlich erscheinen. In dieser - gewissermaßen biopolitischen Konstellation (vgl. Coelen 2006, Reh2006), in der politisches Objekt die Bevölkerung und die Nutzung ihrer Ressourcen und deren Gegenstand das Leben ist (vgl. Foucault 1983, S. 161-173, Foucault 2004) -, gewann die Konstruktion der Ganztagsschule als Schule der Reformpädagogik im bildungspolitischen und schulpädagogischen Diskurs eine enorme Bedeutung.

Diese Konstruktion der Ganztagsschule als Schuleder Reformpädagogik war sowohl lange Zeit Hypothek wie sie heute eine Chancefür deren Institutionalisierung ist. Hypothek für den weiteren Ausbau einerganztägigen Beschulung ist sie, weil diese Konstruktion eine positive Bezugnahme auf Schule als organisiertes und systematisiertes Lernen erschwert. Heute ist die Ganztagsschule und die Nähe ihrer Idee zum Gedanken kompensatorischer Erziehung und Bildung ebenso günstiger Anknüpfungspunkt für die konstruktivistisch informierten Bestrebungen, Unterricht zu verbessern, um bessere Lernergebnisse zu erzielen, wie sie sich als Form einer Verbindung von reformpädagogischen Denkansätzen und neoliberalen Führungs-Strategien und Regierungspraktiken, die sich allemal in der Bildungspolitik beobachten lassen(vgl. Bellmann/Waldow 2007), anbietet. So ist die Ganztagsschule ihren Vertretern eine Möglichkeit, die reformpädagogischen Ideen des motiviert und selbsttätig lernenden Kindes umzusetzen, anregende Lernumgebungen zu schaffen und Vorstellungvom sich selbst flexibel managenden, lernwilligen und lernfähigen Subjekt zu verwirklichen.

Tatsächlich ist die Verwendung dieserKonstruktionen und entsprechender pädagogischer Praktiken in den Ganztagsschulen dabei eingebettet in einen Ausdifferenzierungsvorgang der Institution Schule, der Bereiche jugendlichen Aufwachsens und verbrachter Zeit ins System institutionalisierter Erziehung einbezieht. Gleichzeitig werden so ehedem außerschulische Aufwachsensprozesse spezifischer vorstrukturiert undeine Inklusion ebenso wie Subjektbildungsvorgänge in schwächer pädagogischgestalteten Zonen etabliert. In diesem Sinne könnten Ganztagsschulen - jenseits irgendwelcher politischen Indienstnahmen - aber auch als eine Chance im Sinne der Bereitstellung erweiterter und daher auch mannigfaltig und unterschiedlich nutzbarer kommunikativer Räume für den einzelnen Schüler oder die einzelne Schülerin gesehen werden.

 

 

Literaturverzeichnis

 

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[1] Die Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse führte -wie Kuhlmann/Tillmann zeigen - teilweise dazu, dass in den Schubladen derKultusverwaltungen liegende Konzepte zur Ganztagsschule als Maßnahme zur Verbesserung des schulischen „Outcomes" reüssierten (vgl. Kuhlmann/Tillmann2009).

[2] Auch wenn es - worauf Tenorth (1994) ausdrücklichhinweist - schwierig scheint festzustellen, was die Reformpädagogik ist, weilnicht hinreichend zwischen der retrospektiven und interessierten Einheitsunterstellungder Disziplin und einer sozialhistorisch rekonstruierbaren Schulreformbewegung unterschieden werden kann, lassen sich doch mit Rücksicht auf jüngere Zusammenfassungen und Darstellungen (Benner/Kemper 2003, Oelkers 1996, 2004) einige Prinzipien der selbst schon auf Traditionen zurückgreifenden Schulkritikum die vorletzte Jahrhundertwende (vgl. Oelkers 1994, Benner/Kemper 2003, S.35-56) und Versuche der Schulreform, wie sie in der Weimarer Republik zubeobachten waren, formulieren.

[3] Von Subjektivation wird hier gesprochen, umdeutlich zu machen, dass das Subjekt dem Prozess der Subjektbildung nicht vorgängig ist; Subjektivation schafft und ermächtigt das Subjekt im gleichenZuge, wie er es unterwirft, etwa und vor allem den gesellschaftlichen Normen (vgl.zu dieser sich vor allem auf Foucault und Butler beziehenden Position in soziologischer Perspektive Bröckling 2007, in erziehungswissenschaftlicher Ricken 2004, 2007).

[4] Seit Oktober 2005 fördert das BMBF einForschungsprojekt „Lernkultur- und Unterrichtsentwicklung in GanztagsSchulen"(LUGS), in dem die Entwicklung der Lernkultur im Unterricht und den erweiterten Angeboten in zwölf, sich zu Ganztagsschulen entwickelnden Schulenunterschiedlicher Schulform in den Bundesländern Rheinland-Pfalz, Berlin und Brandenburg über einen Zeitraum von knapp drei Jahren untersucht wird. Geleitetwird das Projekt von Fritz-Ulrich Kolbe, Mainz und Sabine Reh, Berlin, vgl. http://www.lernkultur-ganztagsschule.de. Diesen Legitimationsdiskurs und die in ihm gebrauchten Metaphern und Bilder haben wir als Vorbereitung zur Untersuchung der Lernkulturentwicklung anhand vonInterviews, Gruppendiskussionen und von Protokollen „natürlicher" Gespräche inden Schulen, z.B. von Sitzungen verschiedener Gremien, empirisch rekonstruiert.

 

[5] Zu unserem Begriff von Lernkultur (vgl. Kolbe/Rehu.a. 2008); mit dem Begriff der Praktiken schließen wir an praxistheoretischeKonzeptionen an (vgl. insbesondere Schatzki 1996). 

 

Abstract:

Auf der Grundlage empirischer Rekonstruktionen der pädagogischenDiskurse über die Ganztagsschule und der pädagogischen Praktiken in denAngeboten der Ganztagsschulen wird die gegenwärtige schulpolitische Entwicklungeingeschätzt. Historisch betrachtet ist die Ganztagsschule in Deutschland eine Schule, die reformpädagogische Vorstellungen von einem anderen, einem „kindgerechten" und „lebensnahen" Lernen in Selbsttätigkeit und Selbständigkeitauf Seiten der schulischen Akteure mobilisiert und die tatsächlich auch Raumund Zeit gibt für Praktiken einer gleichzeitigen Individualisierung undInformalisierung von pädagogischen Angeboten. Schultheoretisch ambivalent kannman diese Veränderungen als „Grenzverschiebung" des Schulischen und sozialisationstheoretisch ambivalent als historischen Schritt in der Entwicklung und Differenzierung der Formen, in denen Subjekte als selbständige,sich „selbst regulierende" und „sich selbst managende" gebildet werden, interpretieren.