Mehr Experimente!

Alle 20 Jahre markieren Septembermonate in der Bundesrepublik einen historischen Einschnitt. Am 15. September 1949 wählte der Bundestag mit exakt der benötigten Mehrheit Konrad Adenauer zum ersten Bundeskanzler der neuen Republik – die entscheidende Stimme stammte bekanntlich von Adenauer selbst. Die Bundestagswahl am 28. September 1969 bedeutete dann das Ende von 20 Jahren CDU-Kanzlerschaft (sowie der ersten großen Koalition) – und zugleich den Beginn der sozial-liberalen Ägide unter Willy Brandt und Helmut Schmidt. Und erneut 20 Jahre später, im September 1989, schickte sich Oskar Lafontaine als rot-grüner Spitzenkandidat an, die (noch) kurze Ära des bis dato glücklosen Helmut Kohl zu beenden. Auf dem Bremer CDU-Parteitag vom 11. bis 13. September 1989 versuchten Heiner Geißler und Lothar Späth gar, wenn auch erfolglos, Kohl zu stürzen. Doch dann fiel die Mauer – und der Rest ist Geschichte.

Gemessen an den historischen Zäsuren der Jahre ’49, ’69 und ’89 scheint der September des Jahres 2009 eher in vorhersehbaren Bahnen zu verlaufen. Wie auch immer die Bundestagswahl am 27. dieses Monats ausgehen wird – ob es am Ende tatsächlich für Schwarz-Gelb reichen sollte oder es doch noch (mangels anderer tauglicher Konstellationen) zu einer Wiederauflage der großen Koalition kommt – von echten Überraschungen wird man kaum sprechen können. Fest steht heute bereits: Die eigentlich erforderlichen grundlegenden Veränderungen der Sozial- und Wirtschaftspolitik werden ausbleiben. Der Ausgang der Wahl wird den Anforderungen der globalen Krise des Kapitalismus nicht gerecht werden – einer Krise, die Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz in ihrer Bedeutung bereits heute mit dem 9. November 1989 vergleicht.

Und hier beginnt das Dilemma: Stärker als zumeist in seiner Geschichte hätte das Land „Mehr Experimente“ und einen grundsätzlichen Einschnitt nötig, der der ökonomischen, sozialen und ökologischen Krisenhaftigkeit der Gegenwart gerecht wird. Doch eine solche Alternative steht auf Bundesebene infolge der historischen Schwäche der SPD und ihrer Ablehnung der einzigen dafür tauglichen, nämlich rot-rot-grünen, Koalition gar nicht erst zur Wahl.

Was wir stattdessen auf der schwarz-gelben Seite erleben, ist „the same procedure as every year“, nämlich die Wiederholung jener neoliberalen Steuersenkungsparolen, die die Krise erst mitverursacht haben. Wer geglaubt hat, dass sich das wirtschaftsliberale Denken der vergangenen Jahrzehnte durch die globale Wirtschaftskrise seit dem Zusammenbruch von Lehmann Brothers am 15. September 2008 verändert haben könnte, sieht sich nicht nur durch die bereits wieder eifrig sprudelnden Manager-Boni eines Schlechteren belehrt. Auch der aktuelle Wahlkampf, so man von einem solchen überhaupt sprechen kann, spiegelt den vorherrschenden Besitzegoismus.

Schaut man hinter die Oberfläche des grassierenden Politainments und der immergleichen Koalitionsspekulationen auf die konkreten Wahlprogramme von Union und FDP, entdeckt man exakt dieselben populistischen Steuersenkungsversprechen der vergangenen Jahrzehnte. Besonders in jener Partei, die sich früher zumindest versehentlich Partei der Besserverdienenden nannte: Dort wird noch immer eine Minimalbesteuerung in drei Stufen von 15, 25 und 35 Prozent gefordert – was nichts anderes als eine weitere Privilegierung der ohnehin Gutsituierten bedeutet. Damit outet sich die FDP erneut als reine Klientelpartei. Kein Wunder, dass ihr die Stimmen all jener zufliegen, die ihre egoistischen Privatinteressen bei der Union nicht mehr gut aufgehoben sehen – angesichts der stärker etatistischen Anwandlungen der Kanzlerin in der vergangenen Legislaturperiode.

Die Camouflage der Kanzlerin

Bei alledem herrscht in diesem Wahlkampf ein lethargischer, ja – speziell in den Reihen der SPD – fast resignativer Grundton. Dies korrespondiert mit dem Faktum, dass die nächste Bundeskanzlerin scheinbar bereits seit den Europawahlen feststeht. Weil die SPD der fast präsidialen Dominanz Angela Merkels nichts entgegensetzen kann, konzentriert sich die Union darauf, die Fehler von 2005 nicht zu wiederholen – insbesondere die Ankündigung von Zumutungen, etwa in Form der Erhöhung der Mehrwertsteuer. Damals rettete die SPD zwar kein höheres Wesen, aber ein entfesselt wahlkämpfender Gerhard Schröder – und eine Union, die speziell mit ihrem vermeintlichen Joker, dem „Professor aus Heidelberg“, leichtfertig den Sieg und damit das angekündigte „Durchregieren“ verspielte.

Ein derartiges Scheitern ist diesmal nicht in Sicht, im Gegenteil: Mit ihrer Vermeidung jeglicher Inhalte – etwa indem sie auf einen Wahlparteitag gleich gänzlich verzichtet – betreibt die Union eine erstaunliche Camouflage. „Keine Experimente“ lautet diesmal die Devise. Ganz im Stile Konrad Adenauers reist die Kanzlerin im nostalgischen Rheingold-Express durch die Lande. Ihr neues Credo: „Das ganze Leben ist Erwartungsmanagement“. Sprich: Wecke keine falschen Erwartungen, und Du kannst auch niemanden enttäuschen. Das ist Merkels Lehre aus dem Beinahe-Desaster von 2005.

Und das aus gutem Grund: Würde bekannt, welche Auswirkungen die angekündigte Steuersenkungspolitik von Union und FDP haben wird, würde Schwarz-Gelb die Wahl möglicherweise erneut verlieren. Denn was wäre die Konsequenz für die breite Masse und insbesondere für die im nächsten Jahr infolge der Krise zunehmende Zahl der Arbeitslosen und sozial Schwachen? Radikal gesenkte Steuersätze führen zu sinkenden Steuereinnahmen und damit zu einem noch stärker verschuldeten und zunehmend handlungsunfähigen Staat. Diesen können sich jedoch nur die ohnehin Starken leisten, die auf staatliche Leistungen gleich ganz verzichten können.

Aus diesem Grund werden die absehbaren Zumutungen nicht direkt ausgesprochen, sondern kommen als vage Ankündigung von Steuersenkungen daher. Doch da speziell die Union jede konkrete Festlegung tunlichst vermeidet, gelingt es den linken Parteien nicht, Schwarz-Gelb bei deren einkalkulierten Grausamkeiten zu stellen. Dabei spricht vieles dafür, dass die angestrebten Einkommensteuersenkungen nur durch eine erneute Erhöhung der Mehrwertsteuer zu erreichen sein werden, die Baden-Württembergs Ministerpräsident Oettinger denn auch vorsorglich bereits angekündigte – sichtlich zu Merkels Unmut. Diesen zog sich auch der Bundeswirtschaftsminister zu, nachdem ein deutlich wirtschaftsliberales „Gesamtkonzept“ aus seinem Hause in Umlauf geraten war – und umgehend zurückgezogen wurde, um jede inhaltliche Festlegung zu vermeiden.

Wahlkampf ohne Inhalte

Was in diesem Wahlkampf dringend geboten wäre, schon um den kommenden gesellschaftlichen Verwerfungen entgegenzuwirken, findet dagegen nicht statt: die längst erforderliche Debatte über den zukünftigen gesellschaftsverträglichen Reichtum im Lande. Jede Krise hat bekanntlich auch ihre Gewinner. Zu fragen wäre, wo die immensen Gewinne der letzten 20 Jahre geblieben sind. Was heute mehr denn je Not tut, wäre ein neuer Gesellschaftsvertrag über das richtige Verhältnis von wirtschaftlicher Freiheit und gesellschaftlicher Solidarität – und über die sozialen und ökologischen Grenzen des Reichtums.

Woran es bei dieser Wahl jedoch offensichtlich fehlt, sind grundsätzlich vorgetragene, gegensätzliche Entwürfe der beiden nach wie vor existierenden Lager. Dass zwar Ansätze dafür insbesondere in den kleinen Parteien, bei Grünen (Grüner New Deal) und in der Linkspartei (Gesetzlicher Mindestlohn), vorhanden sind, ändert nichts daran, dass derzeit ein Gesamtkonzept fehlt, das den Namen eines partei-übergreifenden Projekts verdiente. Offensichtlich ist die SPD als traditionelle Konzeptpartei zu einer derartigen inhaltlich-strategischen Leistung gegenwärtig nicht in der Lage.

Zu keinem Zeitpunkt gelang es Frank-Walter Steinmeier, der immerhin einen „Deutschland-Plan“ zur Schaffung von vier Millionen Arbeitsplätzen vorlegte, in diesem Wahlkampf die politische Diskurshoheit zu erobern.Machten sich 2005 große Teile der Medien zu willigen Befürwortern der Merkelschen Zumutungspolitik, glänzen sie diesmal mit Desinteresse an den Inhalten der Parteien. Statt sich mit diesen kritisch auseinanderzusetzen, stürzten sie sich lieber auf die gierig ausgeschlachtete Dienstwagenaffäre Ulla Schmidts.

Das eigentliche Problem der Sozialdemokratie sind jedoch nicht die mediale Oberflächlichkeit oder die Blässe des eigenen Spitzenkandidaten. Nach jetzt zwölf Jahren an der Regierung hat die SPD offenbar keine konsistente Idee von der eigenen Aufgabe mehr, während der Union eine populäre Kanzlerin und – wie stets in der bundesdeutschen Geschichte – das Ziel des Machtgewinns und seiner -verteidigung reicht, um Partei und Wähler zu mobilisieren. Hier wiederholt sich erneut die Vergangenheit: Auch 1982 war die Sozialdemokratie nach 13 Jahren an der Macht politisch ausgelaugt. Diesmal, schlimmer noch, wurden die Nachrufe auf die SPD als Regierungspartei schon vor dem Wahltermin geschrieben.

Ihre heutige Konzeptionslosigkeit ist die Folge nicht nur von vier, sondern von faktisch zehn Jahren großer Koalition. Nicht erst seit 2005, sondern seit die SPD, nicht zuletzt auf Drängen von Arbeitgeberverbänden, FDP und Union, unter Gerhard Schröder ihren Agenda-2010-Kurs aufnahm, verfügt die Partei weder über eine klare gesellschaftspolitische Idee noch über eine echte strategische Machtalternative. Heute rächt sich dieses doppelte Vakuum, wie auch die Tatsache, dass sich die Partei in vier Jahren großer Koalition nie um eine neue Regierungsoption bemüht hat – wenn man von der fast ans Peinliche grenzenden Umwerbung Guido Westerwelles für eine Ampel-Koalition einmal absieht.

Die Bürger vor der Wahl – zwischen Pest und Cholera

Die Ironie des wahrscheinlichen Wahlausgangs: Die Bürger wünschen den Umfragen zufolge weder eine Fortsetzung der großen Koalition noch Schwarz-Gelb. Da sie jedoch eines von beidem wohl unweigerlich bekommen werden, dürfte die weitere Abwendung vom Politischen die zwangsläufige Folge sein. Diese Wahl und dieser Wahlkampf stehen somit vor allem für eine politische Leerstelle. Die Folge dieser konzeptionellen Entleerung sind erstaunliche Phänomene wie der Erfolg der Piratenpartei, einer neuartigen Ein-Punkt-Bewegung, die gerade in ehemals links-alternativen Studentenmilieus reüssiert.

Doch ungeachtet der anhaltenden Entpolitisierung mache man sich nichts vor: Die Folgen der Bundestagswahl werden beträchtlich sein. In den nächsten Jahren muss sich entscheiden, ob es diesem Land gelingt, eine grundlegende Veränderung einzuleiten oder ob wir es mit der gleichen Medizin zu tun bekommen, die die Republik in die größte wirtschaftliche Krise ihrer Geschichte geführt hat.

Nach seinem Wahlsieg 1949 lautete die erfolgreiche Parole Konrad Adenauers ganz im Sinne einer gleichermaßen geschlagen-konsternierten wie autoritätsfixierten Bevölkerung: „Keine Experimente“. Erst 20 Jahre später war das Land weit genug, um mit Willy Brandt „Mehr Experimente“, nämlich mehr Bürger-Demokratie und eine neue Ostpolitik, zu wagen. 1989 reagierte die nun gesamtdeutsche Bevölkerung auf den Niedergang des realexistierenden Sozialismus erneut mit „Keine Experimente“. Was folgte, war der Beitritt der DDR zu einer CDU-geführten Bundesrepublik. Damit wurde die große Chance einer sozial-ökologischen Inventur der Republik unter Einbeziehung der Errungenschaften der ostdeutschen Demokratiebewegung vertan.

Seitdem hat sich der westliche Kapitalismus als der vermeintliche „Sieger der Geschichte“ in eine dramatische Krise und den Planeten an den Rand des ökologischen Kollapses manövriert. Jetzt wäre die Zeit reif für ein großes Umdenken und für die längst erforderliche „Wende zum Weniger“. „Mehr Experimente“ lautet deshalb heute das Gebot der Stunde – im Sinne einer reflexiv-fortschrittlichen Politik, die der globalen Krise mit der erforderlichen Grundsätzlichkeit begegnet.

„Dass die Auswirkungen der Krise bislang erstaunlich gut abgefedert wurden, ja, dass der Wahlkampf noch immer in sommerlich entspannter Atmosphäre stattfinden kann, daran haben die SPD-Minister Steinmeier, Steinbrück und Scholz ihren unbestreitbaren Anteil“, bilanziert „Die Zeit“ den vergangenen Wahlkampf. In der Tat, aber genau darin liegt auch das Problem des Landes und speziell seiner Sozialdemokratie: Ihr ist es gelungen, mit Hilfe teilweise höchst zweifelhafter Maßnahmen wie der Abwrackprämie die Folgen der Krise derartig abzufedern, genauer: in die Zukunft zu verschieben, dass die großen Fragen vor dieser Wahl gar nicht zur Sprache kommen.

Die Zeit für „Klare Kante“

Wie soll der neue Gesellschaftsvertrag beschaffen sein, den dieses Land so dringend benötigt? Wie soll der sozial-ökologische Ausgleich zwischen Reich und Arm aussehen – schon um derartige Exzesse wie die der letzten 20 Jahre zukünftig zu verhindern? Gibt die Politik auf diese Fragen erneut keine taugliche Antwort, werden wir es schon in Bälde mit der nächsten Krise zu tun bekommen.

Wie deshalb auch immer die Wahlen am 27. September ausgehen werden: Es wird die Aufgabe der Zukunft sein, grundlegende Vorschläge zu formulieren und zu klaren politischen Alternativen zu kommen. Insbesondere die SPD wird sich entscheiden müssen, was sie in Zukunft will. Ob tatsächlich „Klare Kante“ oder wieder nur „Opposition ist Mist“. Beides zusammen, wie es ihr Vorsitzender seit Jahren postuliert, geht offensichtlich nicht. Das jedenfalls haben (spätestens) die vergangenen vier Jahre bewiesen – und dieser „Wahlkampf“, der keiner war.

1 Vgl. Peter Dausend, Am Tag danach, in „Die Zeit“, 30.7.2009; Stephan Hebel, Der Schiffbruch von Kiel, in: „Frankfurter Rundschau“, 17.7.2009.
2 Offizieller Wahlkampfslogan wurde „Keine Experimente“ bei der Bundestagswahl 1957, die der CDU mit 50,2 Prozent die einzige absolute Mehrheit der Republikgeschichte einbrachte.
3 Vgl. Matthias Geis, Gerechtigkeit für die SPD, in: „Die Zeit“, 11.7.2009.
Kommentare und Berichte - Ausgabe 09/2009 - Seite 5 bis 8