Ein Überblick über die Geschichte der Frauenbewegung in der Türkei vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart

in (21.09.2009)

Die Geschichte der Frauenbewegung in der Türkei lässt sich ins 19. Jahrhundert zurückführen. Die Frauen innerhalb der Istanbuler Eliten fanden in der Suffragettenbewegung nach dem englischen Modell ein Vorbild, waren aber auch auf der Suche nach einer selbstbestimmten Identität, nach einem „eigenen Weg“. Die Suche nach „einem selbstbestimmten Weg“ setzte sich in den als „zweite und dritte Welle der Frauenbewegung“ bezeichneten Frauenbewegungen in der Türkei fort. Osmanische Frauen verstanden Frauenbewegung als Rechtebewegung und als Aktivismus für Gleichheitsfeminismus[1], aber auch für Differenzfeminismus[2]. Die Herausgabe unterschiedlicher Frauenzeitungen in mehreren Sprachen (osmanisch, französisch, griechisch), ihre Teilnahme an der „Jungtürkenbewegung“, an der konstitutionellen Bewegung, der Kampf um die Öffentlichkeit für Frauen, die Gründung unterschiedlicher Frauenorganisationen sowie die aktive Organisation einer Frauenbewegung waren wichtige Meilensteine für die Entwicklung der Frauenbewegung als moderne soziale Bewegung (z.B. Cakir 1996; Yaraman 2001).

Feministinnen wie Fatma Aliye Topuz, Nezihe Muhiddin und Halide Edip waren Teil der Eliten, die aus dem BildungsbürgerInnentum und aus den „hofnahen“ Schichten stammten. Aber diese Frauen bezeichneten sich als Feministinnen, was in einer patriarchal dominierten politischen Kultur einer Revolution gleichkam. Sie hatten einen universalistischen Anspruch, der die Mobilisierung von muslimischen Frauen, aber auch von Frauen aus religiösen und ethnischen Minderheiten umfasste.

Fatma Aliye Topuz (1862-1936) wird als die erste weibliche Schriftstellerin der türkischen Literatur bezeichnet. Sie veröffentlichte insgesamt fünf Romane. Fatma Aliye war eine konservative Verteidigerin der Frauenrechte, sie trat nicht für eine Modernisierung des Systems ein und war Gegnerin der Republik. Allerdings behauptete sie, dass in einer islamischen Gesellschaft die rechtliche Gleichstellung der Frauen möglich und an der Geschlechterungleichheit nicht der Glaube, sondern die patriarchale Unterdrückung durch die Männer schuld sei (Cakir 1996). Sie verfasste Artikel über Frauenprobleme und Gleichberechtigung in der „Hanimlara mahsus Gazete“ (dt. „Die Frauenzeitschrift“). Fatma Aliye publizierte neben Romanen noch andere Bücher wie Biographien von Philosophen oder berühmter Frauen im Islam und veröffentlichte auch Artikel in französischen Zeitschriften. Obwohl sie konservative Ansichten hatte, legte sie ihren Schleier ab und ließ sich fotografieren. Aus diesem Grund ist ihr Konservativismus zwar als eine Skepsis gegenüber der Verwestlichung der Kultur zu verstehen, nicht aber als Glaube an die Unveränderbarkeit der religiösen Sitten.

Nezihe Muhiddin (1889-1958) war eine Feministin, die den Begriff des Feminismus sowohl durch die Herausgabe einer Frauenzeitschrift als auch durch die Gründung eines Frauenvereins geprägt hat. Sie war für Gleichstellung und Gleichberechtigung der Frauen, war bereits während und seit Abdülhamit II.[3] in den Befreiungsbewegungen aktiv und war Aktivistin von „İttihad ve Terakki“ („Komitee für Einheit und Fortschritt“)[4]. Sie forderte bereits 1908 das Frauenwahlrecht sowie das Recht der Frauen auf politische Aktivität und ihre Beteiligung als politische Führungskräfte. 1923 gründete sie die Frauenpartei, die von der kemalistischen Regierung allerdings als zu radikal befunden wurde, weil sie das Frauenwahlrecht sowie das Recht der Frauen, als Nationalrätin zu kandidieren, zum Ziel hatte. Somit ist die türkische Frauenpartei als erster und einziger Versuch der Gründung einer Frauenpartei in der türkischen Republik zu bezeichnen. Danach gründete Nezihe Muhiddin den türkischen Frauenverein. Dieser Verein versuchte, bei den ersten Wahlen mit einem „feministischen Mann“[5] zu kandidieren, um überhaupt seine politischen Ziele einbringen zu können. Der Kandidat trat jedoch wegen Verhöhnung durch die Männer zurück. Unter den politischen Forderungen des TKB fand sich auch jene nach dem Eintritt der Frauen ins Militär sowie jene nach dem Recht der Frauen auf Reden in Moscheen. Wenn davon ausgegangen wird, dass Versammlungen in Moscheen und die dort gehaltenen Reden eine wichtige politische Funktion hatten, ist diese Forderung der Frauen als ein Weg, männerbündische Strukturen[6] zu durchbrechen, zu verstehen. Der TKB wurde von der CHP (Republikanische Volkspartei der Türkei) auf Grund der hohen Anzahl ihrer Mitgliederinnen, nämlich 1000 Frauen und Filialen in 4 Städten, sowie wegen Angst vor Radikalisierung und Unkontrollierbarkeit geschlossen.

Muhiddin sah daraufhin keine Möglichkeit zur politischen Aktivität in der Türkei mehr und zog sich zurück. Sie konzentrierte sich ab diesem Zeitpunkt auf die Literatur und veröffentlichte zehn Romane, rund 300 Geschichten und Theaterstücke (Zihnioglu 2003). Muhiddin war zweimal verheiratet, legte ihren Mädchennamen allerdings nie ab. Sie wird heute noch von den Feministinnen als wichtige Persönlichkeit in der Frauengeschichte und der politischen Geschichte der Türkei betrachtet, ihre Werke werden wieder aufgegriffen. Ein Versuch, ihr Leben und ihre Ideen wieder ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken, war die Herausgabe ihrer Biographie durch die Feministin und Autorin Yaprak Zihnioglu.

Halide Edip Adivar (1884-1964) war eine Frauenrechtlerin, die im Befreiungskampf (Kurtulus Savasi) eine aktive Rolle gespielt hat. Sie schrieb in vielen Zeitungen und arbeitete während des Kriegs als Journalistin. Sie nahm an den Befreiungsbewegungen seit der II. Meşrutiyet, der zweiten konstitutionellen Bewegung[7], aktiv teil. Sie war auch eine der ersten Frauen, die in der Öffentlichkeit – bei einer politischen Versammlung – vor Männern eine politische Rede hielten. Adivar geriet nach der Gründung der Republik ebenfalls mit der Regierung in Konflikt und ging für 14 Jahre ins Exil. Während ihrer Auslandsaufenthalte schrieb sie mehrere politische Texte auf Englisch und nahm an politischen und wissenschaftlichen Konferenzen teil. Sie hat insgesamt 21 Romane, vier Erzählungen und zwei Theaterstücke geschrieben. Nach ihrer Rückkehr war sie Literaturprofessorin an der Universität Istanbul und Vorsitzende des Instituts für englische Literatur sowie im Jahre 1950 als Nationalratsabgeordnete tätig. (Durakbasa 2002).

Die osmanische Frauenbewegung stand unter dem Einfluss der nationalistischen Bewegungen. Der Befreiungskampf und die Gründung der Republik wurden auch unter dem Blickwinkel der Befreiung von den „Unterdrückern“ verstanden. Eine ethnische Nationalisierung trat allerdings erst mit der Gründung der türkischen Republik in den Vordergrund. Ab diesem Zeitpunkt ist auch von einer anderen Art der Frauenbewegung zu sprechen, die von der zweiten und dritten Welle der Frauenbewegung in der Türkei als „Staatsfeminismus“ und als „kemalistische Frauenbewegung“ bezeichnet wird (z.B. Kandiyoti 1997). Die Frauenpartei wurde bereits kurz nach ihrer Gründung 1923 verboten. Die Gründung der Frauenpartei und des Vereins der Vereinigung türkischer Frauen TKB waren die letzten Versuche der Frauen, die durch die osmanische Frauenbewegung mobilisiert wurden.

Stattdessen hatte sich der Staatsfeminismus als Form der kemalistischen Modernisierung etabliert, der die Frauenbewegung als Aktivismus lediglich im Sinne von Hilfsorganisationen betrachtete. Das Wahlrecht der Frauen wurde 1934 von der CHP unter der Führung von Mustafa Kemal Atatürk eingeführt. Dies wird als eine politische Emanzipierung der Frauen von „oben“ interpretiert. Dieser Interpretation müssen allerdings unbedingt die Forderungen der Frauenbewegung und der feministischen Bewegung entgegengestellt und betont werden, dass die feministische Bewegung zuvor schon jahrelang um die politischen Rechte der Frauen gekämpft hatte. Deshalb sind diese Rechte auch nicht als von „oben“ erteilte und erhaltene Freiheiten für Frauen zu betrachten. Durch den Staatsfeminismus und später auch durch die linken Bewegungen ist die Frauenbewegung für lange Jahre – bis zu den 1970er Jahren – in einen Stillstand geraten. Auch wenn in den 1960er Jahren von einer starken linken Bewegung und von starken Demokratiebewegungen zu sprechen ist, von einer Frauenbewegung ist in dieser Zeit nicht die Rede.

Fortsetzung der feministischen Bewegung oder eine neue Frauenbewegung nach einem langen Bruch

Der 8. März als internationaler Frauentag wurde zum ersten Mal 1920 von den kommunistischen Frauen im Untergrund gefeiert. Bis ins Jahr 1974 ist keine weitere Feier des 8. März bekannt. Es war „ilerici kadinlar birligi“, die „Emanzipierte Linke Frauenvereinigung“, die 1975 erstmalig wieder den 8. März in der Türkei feierte (Kilic 2007, 7). Der internationale Frauentag wie auch die Frauenbewegung bekamen allerdings erst nach 1980 wieder eine wichtige politische Funktion. 1980 ist das Jahr des Militärputsches und gleichzeitig auch großer Verhaftungswellen, der Unterdrückung der sozialen Bewegungen sowie der Flucht vieler AktivistInnen ins Exil. Die Militärregierung dauerte drei Jahre lang, 1983 wurde in den ersten allgemeinen Wahlen nach der Militärregierung mit einer Mehrheit der Stimmen die liberal rechtskonservative Partei Anavatan (ANAP, Mutterlandspartei) an die Regierung gebracht. Die Aktivistinnen der sozialen und linken Bewegungen waren in Haft, im Exil oder wegen starker Repression untätig. Die Frauen aus den urbanen und gebildeten Milieus, darunter meist Frauen mit einer linken Geschichte und/oder Akademikerinnen, hatten angefangen, sich während den 1980er Jahren in den Wohnungen zu treffen und gemeinsam feministische Literatur zu diskutieren, über ihre sozialistische und linke Geschichte zu reflektieren und auch die patriarchalen Verhältnisse in den linken Bewegungen selbst zu analysieren. Die Übersetzung der feministischen Literatur aus dem „Westen“ war eine wichtige Aktivität jener Frauen, die Fremdsprachenkenntnisse besaßen und gleichzeitig auch in türkischer Sprache die feministische Terminologie weiterentwickeln wollten.

Diese Diskussionsrunden wurden durch die Frauen als „Bewusstseinserhöhungsgruppen“ bezeichnet. Mit diesem Begriff wurde die Notwendigkeit betont, dass Frauen untereinander ihre Erfahrungen austauschen, dass sie über ihre Geschichte und über die bisherigen sozialen Analysen reflektieren, dass die Frauen die Politisierung „des Privaten“[8] betreiben und so die traditionellen emanzipatorischen Bewegungen, die Familie, den Staat und alle Werte aus einem kritischen und feministischen Blickwinkel in Frage stellen. Diese „Bewusstseinserhöhungsgruppen“ verbreiteten sich schnell in vielen Großstädten und waren vorerst als Lesekreise und Diskussionsgruppen organisiert. Die Notwendigkeit, einen öffentlichen Diskurs über die feministischen Themen und feministische Politik zu führen, drückte sich sehr bald in der Gründung von feministischen Zeitschriften aus. Die Herausgabe einer feministischen Seite in der Zeitschrift „Somut“ war der erste öffentliche politische Ausdruck dieser Frauen. Frauenzeitschriften wie „Pazartesi“ oder „Kaktüs“ folgten kurz darauf als unabhängige feministische Publikationen.[9]

Die wichtigste politische Aktivität, die durch die Diskussionen der „Bewusstseinserhöhungsgruppen“ und die in den Zeitschriften geführten politischen Diskurse hervorgebracht wurde, war die Thematisierung der Gewalt. Gewalt war aus mehreren Gründen ein wichtiges Thema: Der erste Grund war der Militärputsch und die dadurch ausgeübte physische und politische Gewalt. Der zweite Grund für die Thematisierung der Gewalt reflektierte eine wichtige Dimension der Gewalt, die weder durch die linke Bewegung, noch durch den kemalistischen Staatsfeminismus bisher beachtet wurde, nämlich die Gewalt in der Privatsphäre. Gewalt in der Privatsphäre bedeutete die Auseinandersetzung mit Gewalt in der Familie, in der Arbeit oder auf der Straße. Die Frauenbewegung thematisierte zum ersten Mal das Thema sexuelle Belästigung. Unter der Thematisierung von sexueller Gewalt wurde die Kritik an den gesetzlichen Strafmilderungen (nach dem TCK 438, türkisches Strafrecht) im Falle der Vergewaltigung einer Sexarbeiterin ebenso verstanden wie die Kritik an den Strafmilderungen bei so genannten „Ehrenmorden“. Beides wurde Gegenstand des Kampfes gegen die Gewalt. Sexuelle Belästigung wurde auf jeder Ebene und in jeder sozialen Schicht der Gesellschaft angesprochen und als Unterdrückungsmechanismus sichtbar gemacht. Sexuelle Belästigung in der Arbeit, auf der Straße oder innerhalb der Familie waren heikle Themen, die Frauen nicht fremd waren, aber zum ersten Mal politische Sichtbarkeit erhielten. In dieser Sichtbarmachung spielte vor allem die Beziehung der unterschiedlichen Gewaltformen zum Patriarchat eine wichtige Rolle (Karakus: 2007, 9).

Die erste öffentliche Demonstration gegen Gewalt wurde 1987 von den Feministinnen in Yogurtcu Parki Istanbul organisiert. Die Kampagne gegen „die physische Gewalt des Mannes gegenüber der Frau, die sich in Form von Schlagen oder Prügeln meistens innerhalb der Familie“ zeigt, war Folge dieser Anti-Gewaltdemonstration. 1989 wurde von Feministinnen und Frauengruppen gegen sexuelle Belästigung mobilisiert (Sirman: 2007, 15). „Unser Körper gehört uns. Nein zur sexuellen Belästigung!“ hieß die Kampagne, die später den Namen „mor igne“ (dt. „Violette Nadel“) erhalten hat. Im Rahmen dieser Kampagne gegen sexuelle Belästigung wurden an die Frauen violette Nadeln verteilt. „Violette Nadel“ symbolisierte die Ablehnung jeglicher Form patriarchaler Gewalt, die sich gegen den Körper der Frauen richtet. 1990 wurde die Kampagne „bedenimiz bizimdir“ (dt. „Unser Körper gehört uns“) durchgeführt. Die Frauen forderten Selbstbestimmung über ihren Körper und die Ablehnung und Bekämpfung jeder Form des traditionellen, religiösen und patriarchalen Ehrenkodexes, der über den Körper der Frauen entscheidet. Die „Violette Nadel“ wird heute noch von der dritten Welle der Frauenbewegung als eine wichtige Protestbewegung, welche die Frauenbewegung und die feministische Kritik erneut in Gang gesetzt hat, bezeichnet. Die gemeinsame Herausgabe des Buches „bagir herkes duysun!“ (dt. „Schrei und lass deine Stimme von jedem/jeder hören!“) war ein wichtiger Ausdruck dieser Anti-Gewalt Kampagnen (Karakus: 2007, 8).

Im Zuge der Anti-Gewaltproteste und der Politik gegen Gewalt bekämpfte die feministische Bewegung auch Gesetze, welche die Arbeitserlaubnis der Frauen dem Ehemann oder dem Vater überließen oder die den Mann als „Oberhaupt der Familie“ bezeichneten (159. Paragraph der TCK / Türkisches Strafrecht). Das Thema der Sexualität, die jeder Frau selbst überlassen werden und nicht auf den ehelichen Rahmen reduziert werden soll, wurde von der feministischen Bewegung ebenfalls als politisches Diskursfeld eröffnet. Eine weitere Protestform waren Gruppenscheidungsprozesse, die im Jahre 1990 von einer Gruppe feministischer Frauen und profeministischer Männer durchgeführt wurden. Als Grund für die Scheidungen wurde die Ablehnung der patriarchalen Familiengesetze angegeben. Dies waren wichtige symbolische Akte, die durch die Mobilisierung der Feministinnen und der Frauenbewegung gesetzt wurden.

Weitere wichtige politische Akte der zweiten Welle der Frauenbewegung waren Aufmärsche der Frauen in den Nächten. Feministinnen in Istanbul machten mit der Parole, dass „die Nächte auch den Frauen gehören“, auf die Gefahren der durch die Männerdominanz segregierten Städte in der Nacht aufmerksam. Sie bezeichneten die Männerdominanz in der Nacht als Unterdrückungsmechanismus des Patriarchats und organisierten Frauenaufmärsche in den Nächten, um diese für die Frauen zurückzugewinnen. Eine weitere Form dieses politischen Kampfes von Frauen war das Besetzen von nur von Männern besuchten Kaffeehäusern und Nachtlokalen. Das Aufheben der Geschlechterstereotypen, Kritik an der „heiligen Familie“ sowie Kritik an der patriarchalen Trennung der Frauen in „heilige“, „ehrenhafte“ und „Huren“ wurden – neben den oben benannten politischen Aktionen – durch einen Bordellbesuch der Frauen am 8. März und durch die Zusammenarbeit mit Sexarbeiterinnen unterstützt.

In Summe kann über die zweite Welle der Frauenbewegung in der Türkei gesagt werden, dass sie auf theoretischer wie auf praktischer Ebene eine tiefgreifende Patriarchatskritik in der Gesellschaft übte und einen neuen feministischen Diskurs eröffnete. Die Anzahl der Frauen, die die Antigewaltpolitik der Feministinnen und den Kampf auf Gesetzesebene unterstützten, ist nicht zu unterschätzen. Beteiligt waren nicht nur Frauen in den urbanen Teilen des Landes, die zum BildungbürgerInnentum gehörten, sowie Eliten, sondern auch Hausfrauen und Frauen aus sozial schwachen Milieus. Im Vergleich zur ersten Frauenbewegung kann festgestellt werden, dass die zweite Welle der Frauenbewegung eine breite Mittelschicht erreicht hatte und nicht mehr als Teil einer Modernisierungsbewegung agierte, sondern eine Patriarchatskritik sowohl am Staat als auch an gesellschaftlichen Institutionen und an den linken Bewegungen übte. Auch wenn die Bewegung von Feministinnen mit einer linken Geschichte und mit großteils immer noch linker Identität in Gang gesetzt wurde, hatte die Bewegung eine viel breitere und vielfältige Masse von Frauen erreicht (z.B. Tekeli 1995).

Die Frauenbewegung ab Mitte der 1990er Jahre, die auch als dritte Welle der Frauenbewegung bezeichnet wird, kann ohne den Weg, den die zweite Welle der Frauenbewegung eröffnete, nicht verstanden werden. Die erkämpften gesetzlichen Veränderungen waren teilweise auch die Folge des politischen Sichtbarmachens der zweiten Welle der Frauenbewegung: Die Strafmilderung im Falle der Vergewaltigung einer Sexarbeiterin wurde aufgehoben. Der Passus, wonach der Mann das Oberhaupt der Familie ist, wurde ebenfalls aus dem Familiengesetz gestrichen. Dass Frauen, wenn sie arbeiten wollen, ihren Mann oder ihren Vater um Erlaubnis fragen sollten, wurde ebenso als rechtswidrig erklärt. Die Frauenbewegung in den 1990er Jahren und seit 2000 sieht immer noch die Beobachtung der Gesetze aus einem feministischen Blickwinkel und den Kampf um Gleichberechtigung vor dem Gesetz als notwendige Kampfstrategie. Der Kampf um die Gleichberechtigung vor dem Gesetz wird als zwar nicht hinreichendes, aber notwendiges feministisches und emanzipatorisches Prinzip bezeichnet.

Die dritte Welle der Frauenbewegung von der Mitte der 1990er Jahre bis heute

Auch wenn die dritte Welle der Frauenbewegung sich auf der Grundlage der zweiten Welle konstituiert hat und Feministinnen der zweiten Welle in der dritten Welle immer noch aktiv sind, unterscheidet sie sich doch in einigen wichtigen politischen Merkmalen. So sind Diskussionen über Differenz und Identität innerhalb der Frauen, die auch Zielsetzungen und politische Forderungen der Frauen bestimmen, in den Vordergrund getreten. Gemeint sind hauptsächlich ethnische und religiöse Identitäten, die durch diesbezügliche Themen und Gruppierungen neue Diskurse innerhalb der Frauenbewegung und der feministischen Debatte eröffnet haben. Gruppen wie Radikalfeministinnen, Anarchafeministinnen, sozialistische Feministinnen, muslimische, kemalistische, kurdische oder armenische Feministinnen oder Frauenbewegungen beziehen sich auf unterschiedliche Identitäten und Differenzen, die aus den Polarisierungen um ethnische Fragestellungen sowie um religiöse und sozioökonomische Fragestellungen entstanden sind (Bora/Günal 2002). Es ist aber auch von den hybriden Identitäten innerhalb der Frauenbewegung zu sprechen, die sich zu unterschiedlichen Gruppen und Identitäten parallel zugehörig fühlen. Eine wichtige Polarisierung ist zwischen den kemalistischen Frauen, die sich der Frauenbewegung zugehörig fühlen, einerseits und den kurdischen und islamischen Frauenbewegungen andererseits zu beobachten.

Die kurdische Frauenbewegung ist im Laufe der 1990er Jahre entstanden. Die ethnische Fragestellung, der Krieg und die demokratischen Rechte der KurdInnen sind die zentralen Themen der kurdischen Feministinnen. Während sie teilweise als unabhängige kurdische Feministinnen organisiert sind, sind sie auch stark innerhalb der kurdischen DTP (Demokratik Toplum Partisi / Demokratische Gesellschaftspartei) aktiv.

Die Kopftuchfrage wiederum – d.h. die Aufhebung des Verbots des Tragens von Kopftüchern an Universitäten sowie die Zulassung von Frauen mit Kopftüchern zu Ämtern und auch ins Parlament – ist das wichtigste politische Thema der muslimischen Frauen. Die Debatte um die Freiheit des Kopftuchtragens der Frauen wird seit den 1990er Jahren heftig in der Öffentlichkeit geführt und hat sich in Form der Organisation von Studentinnen und islamischen Frauen sowie in Demonstrationen und Protestaktionen geäußert. Teilweise wurden diese Frauen von den kemalistischen Frauen und von den Kemalisten als Militante der islamistischen Bewegung beschuldigt, die den Laizismus in der Türkei bekämpfen wollen, andererseits wurden sie von einigen Feministinnen und auch von den Liberalen als neue Akteurinnen der Demokratiebewegung betrachtet. Für diese Teile der feministischen Bewegung waren diese Frauen nun in der Öffentlichkeit sichtbar und wollten ihren Platz in der Öffentlichkeit einnehmen.

Der politische Kampf der sich als muslimische Frauen bezeichnenden Frauen wurde als Auseinandersetzung sowohl gegen das kemalistische Paradigma, das den „Frauen mit Kopftuch keine Existenzmöglichkeit außerhalb der Privatsphäre mehr lassen soll“, als auch gleichzeitig gegen die patriarchalen Islamisten, die die Frauen innerhalb der Privatsphäre halten möchten, geführt. Viele muslimische Frauen, die auch durch die Kopftuchfrage mobilisiert wurden, haben aktiv Wahlkampagnen für die AKP (Adalet ve Kalkinma Partisi / Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) durchgeführt und sind immer noch in der AKP oder im Vorfeld der AKP aktiv. Es wurden auch einige islamische Frauenorganisationen gegründet, die sich als gläubige Feministinnen innerhalb des islamischen Paradigmas bezeichnen.

Die kemalistische Frauenbewegung ist ab der Mitte der 1990er Jahre durch die ethnische Fragestellung gegen den so genannten „Separatismus“ (KurdInnen), aber auch durch die religiösen Identitätsfragen gegen „die schleichende Islamismusgefahr“ wieder aktiv geworden. Die kemalistische Frauenbewegung ist vom Staatsfeminismus insofern zu unterscheiden, als sie den Kemalismus als eine laizistische und Unabhängigkeitsbewegung für die Türkei versteht und keine Kritik am Staat scheut, wenn es um die gesetzliche Gleichberechtigung der Frauen geht. Sowohl gegen die unterschiedlichen Gewaltformen als auch für politische Partizipation und gesetzliche Gleichstellung solidarisiert sich die kemalistische Frauenbewegung mit der breiten Masse der Frauenbewegung trotz der ideologischen Differenzen.

Innerhalb der feministischen Bewegung gibt es auch eine andere Antwort auf die Kopftuchfrage, die sich von der kemalistischen Frauenbewegung und von einigen feministischen Gruppierungen unterscheidet. „Birbirimize sahip cikiyoruz“ (dt. „Wir solidarisieren uns untereinander“) wurde am 26. September 2008 als eine Initiative von Frauen gegründet – von Feministinnen, Journalistinnen, Wissenschaftlerinnen oder „nur“ Aktivistinnen, die in der Kopftuchfrage die Frauen selbst als Akteurinnen betrachten und der Meinung sind, dass es allein die Entscheidung der Frauen selbst sein soll, wie sie sich anzuziehen haben. Den wichtigsten Aspekt macht dabei die Einsicht in die Unfreiheit des Körpers der Frauen innerhalb der patriarchalen Gesellschaft aus. Die Frauen sollen, egal wie sie es wollen, über ihren Körper selbst bestimmen, und das soll auch nicht durch Gesetze geregelt werden. Dabei werden die konservativ-islamischen Körperpolitiken der Islamisten wohl kritisiert, aber auch Brücken der Solidarität mit den sich als muslimische Frauenrechtlerinnen bezeichnenden Frauen gebildet, um die patriarchale Kontrolle der Islamisten über die Frauen(körper) gemeinsam zu kritisieren.

Trotz der Differenzen eine gemeinsame Frauenbewegung

Die Thematisierung der Gewalt und die Benennung des Privaten als Politisches war zwar ein wichtiger politischer Diskurs, der von der zweiten Welle der Frauenbewegung eröffnet wurde, dessen Rahmen wurde aber von der dritten Welle der Frauenbewegung ausgeweitet. In den 1990er Jahren hatte der kriegerische Konflikt zwischen türkischer Armee und PKK im Osten der Türkei auch die Frauenbewegung hinsichtlich Gewalt und Krieg sensibilisiert. Die feministische Bewegung vertrat als Antwort auf diesen Krieg eine antimilitaristische Position. Militarismuskritik und die Unterstützung der Militärdienstverweigerer hat einen heute noch viel breiter gewordenen Block der Kriegs- und MilitarismusverweigerInnen geschaffen. Es gibt nicht nur Männer, die den Militärdienst verweigern und antimilitaristische Propaganda betreiben, deren Folge auch Freiheitsentzugsstrafen sind, sondern auch Frauen, die sich als Militärdienstverweigerinnen deklarieren und Protestaktionen organisieren.

Die politische Reichweite und die Organisation der Militärdienst- und KriegsverweigerInnen haben in den letzten Jahren zugenommen. Dabei spielen auch Kriege wie jene in Afghanistan, im Irak, im Libanon oder im Gazastreifen eine wichtige Rolle im verstärkten Aktivismus pazifistischer Organisationen.

Die Frauenbewegung spielt im Friedensdiskurs sowie in der Solidaritätsbewegung mit den durch Kriege Unterdrückten eine zentrale Rolle. Für die feministische Bewegung in der Türkei ist nicht nur die Solidarität mit den Frauen in den Grenzregionen, die von den Kriegen betroffen sind, ein wichtiges politisches Ziel, sondern auch jene mit allen Frauenbewegungen, die sich in den nahöstlichen Ländern befinden, auch mit der Frauenbewegung in Israel, die ebenfalls ein Teil der Friedensbewegung ist.

Über die Frauenbewegung seit Mitte der 1990er Jahre kann also gesagt werden, dass die Differenzen zwischen verschiedenen Gruppierungen der Frauenbewegung, die es davor gab, kein Hindernis dafür waren, dass die Frauen gemeinsam für die gesetzliche Gleichberechtigung und gegen Gewalt aktiv wurden. Eine weitere wichtige gemeinsame Forderung der Frauenbewegung ist die Gründung und staatliche Förderung von Frauenhäusern. Der Kampf um die feministischen Frauenhäuser wurde allerdings schon durch die zweite Welle der Frauenbewegung eröffnet: Mor Cati, das erste Frauenhaus, wurde 1990 im Zuge der Kampagnen und Protestakte der Frauenbewegung gegründet und ist ein wichtiges Beispiel für ein unabhängiges Frauenhaus mit feministischen Prinzipien, das von der feministischen Bewegung ins Leben gerufen und um dessen Existenz immer wieder gekämpft werden musste.

„Kadin Anayasayi izleme kurulu“ (dt. „Frauenverfassungs-Beobachtungsgruppe“) wurde 2004 mit dem Ziel von gesetzlichen Veränderungen, wie zum Beispiel der Durchsetzung der Frauenkommission im Parlament, gegründet. Die gesetzlichen Veränderungen bezüglich der „Ehrenmorde“, d.h. die Abschaffung von Verletzung der „Ehre“ als Strafmilderungsgrund nach dem Strafrecht, wurden durch den Druck der Frauenbewegung, der auch durch die Frauenverfassungsbeobachtungsgruppe ausgeübt wurde, durchgesetzt. Forderungen wie jene nach mehr Frauenhäusern und nach einer Frauenkommission im Parlament wurden teilweise durchgesetzt. Erst nach jahrelangem Kampf wurde am 29. Jänner 2009 die parlamentarische „Kadin erkek esitlik komisyonu“ (dt. „Geschlechtergleichberechtigungskommission“) gegründet.

Politische Partizipation sowohl im parlamentarischen System als auch als Akteurinnen der Demokratiebewegung ist für die Frauenbewegung schon immer sehr wichtig gewesen. KADER (Verein zur Unterstützung der Frauen in der Politik) ist 1997 mit der Zielsetzung gegründet worden, unabhängig von den ideologischen Orientierungen der Frauen Kandidaturen von Frauen sowohl innerhalb der politischen Parteien als auch bei allgemeinen und lokalen Wahlen – als unabhängige Frauen oder Kandidatinnen politischer Parteien – zu unterstützen. Über die Forderung für eine 40%-Frauenquote in den politischen Parteien betreibt KADER wichtige Lobbyarbeit, aber auch die kontinuierliche Thematisierung durch die Frauenbewegung übt wichtigen Druck auf die politischen Parteien in der Türkei aus. Bisher sind ÖDP (Özgürlükler ve Demokrasi Partisi / Partei der Freiheit und Demokratie) und DTP (Demokratik Toplum Partisi / Demokratische Gesellschaftspartei) die beiden einzigen Parteien innerhalb des parlamentarischen Spektrums, die den Forderungen nach der 40%-Frauenquote nachgekommen sind. Sowohl durch die Frauen in den politischen Organisationen als auch durch die unabhängige Frauenbewegung wurde die Gründung von eigenen Frauenflügeln in den politischen Organisationen und viel mehr weibliche Partizipation und politischer Kampf um die Partizipation auf den Führungsebenen auch innerhalb der politischen Parteien vom rechten bis zum linken Spektrum möglich gemacht.

Gewalt ist immer noch ein wichtiger Punkt, der in der Regel die Frauenbewegung trotz ihrer Differenzen vereinigt. Die Frauengruppen äußern sich als politische Verteidigerinnen in den „Frauenmorden“, die im Namen „Ehre“ geschehen. Obwohl sie rechtlich gesehen nicht als Verteidigerinnen der ermordeten Frauen akzeptiert werden, verfolgen die Frauengruppen die Prozesse, die in diesen Fällen geführt werden, und positionieren sich als kollektive Verteidigerin der ermordeten Frauen. Dieser symbolische Akt ist durch die Frauenbewegung der dritten Welle zu einer Tradition gemacht worden. Einen weiteren wichtigen Protest und eine klare Positionierung in den Mordfällen zeigen die Frauen durch die Teilnahme an den Beerdigungen der ermordeten Frauen. In vielen Fällen wird die Beerdigung dieser „unehrenhaften“ Frauen von ihren Familien nicht einmal durchgeführt. Die Frauengruppen übernehmen in diesen Fällen die Beerdigung. „Ehrenmorde“ wurden durch das Gesetz als „Töre cinayetleri“ (dt. „Sittenmorde“) bezeichnet. Diese Beschreibung wird von der Frauenbewegung kritisiert, weil nach dieser Auffassung die Ehrenmorde als ethnisches Problem dargestellt werden. Durch die Zuschreibung von kurdischen Traditionen als Grund für diese Frauenmorde wird die Unterdrückung von Frauen und der Mord an Frauen im Namen der „Ehre“ innerhalb der türkischen Gesellschaft subtil geleugnet. KAMER ist eine der wichtigen feministischen Frauenorganisationen, die in Diyarbakir die Gewalt in der Privatsphäre und die Ehrenmorde bekämpft und die sich mit der Frauenbewegung im Westen solidarisiert.

Eine weitere Form der Frauenbewegung, die vor allem seit 2000 stärker zu beobachten ist, kann als „Projektfeminismus“ bezeichnet werden. Der Aufschwung des so genannten Projektfeminismus beginnt 1999, als in Folge des großen Marmara-Erdbebens unterschiedliche Projektgruppen entstanden sind. Auch mit der EU-Beitrittsdiskussion sind mehrere zivilgesellschaftliche Projekttöpfe entstanden, die die Entstehung unterschiedlicher Projektgruppen möglich machten. Projektfeminismus erfüllt teilweise die Sozialstaatsfunktion und ist für die Förderung sozial schwacher Frauen in unterschiedlichen Problemfeldern wie Gewalt in der Familie, Alphabetisierungskurse, Nachhilfeunterricht für Mädchen, Berufsausbildungskurse, Bekämpfung der Frauenarbeitslosigkeit oder Verbesserung der Wohnqualität der Frauen aktiv. Die AktivistInnen des so genannten Projektfeminismus sind in der Regel gebildete Frauen aus der Mittel- oder Oberschicht.

Der Projektfeminismus wird von der feministischen Frauenbewegung aus unterschiedlichen Gründen kritisiert: Erstens wird ihm die Kurzsichtigkeit vorgeworfen, die Frauenfrage vom jeweiligen Ablaufdatum des Projektes abhängig zu machen und somit auch die Frauenfrage zu entradikalisieren. Die Rolle des Staats und des Patriarchats in der Frauenfrage werden so durch den Projektfeminismus für sekundäre Probleme gehalten. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass der Projektfeminismus wegen seiner finanziellen Abhängigkeit weder am Staat, noch an den Institutionen, durch die die Projekte gefördert werden, Kritik übt. Aber auch die positiven Aspekte dieser Projekte werden betont, wie zum Beispiel die geleisteten konkreten Hilfestellungen für Frauen oder auch die damit einhergehenden Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen. Die Kritik am Projektfeminismus wird vor allem als Warnung vor den Gefahren der politischen Konsequenzen verstanden.[10]

Die Kategorien Gender und Sex werden auch durch andere politische Formen hinterfragt

Die 1990er Jahre waren parallel zur Vervielfältigung der Frauenbewegung auch für die Geburt der Homosexuellen- und Bisexuellen-Bewegung, aber auch der Transgender-Bewegung wichtig. Die ersten Bewegungen wie Lambda Istanbul oder die Gay-Lesben-Bewegung in Ankara sind in diesen Jahren entstanden. Von der Geburt dieser Bewegungen an gab es immer starke Berührungspunkte mit feministischer Theorie und Praxis. Lambda Istanbul wurde von der religiös konservativen AKP-Regierung mit der Beschuldigung, die „Moral“ zu gefährden, mit der Schließung des Vereins bedroht und verklagt. Gegen den Beschluss über das Verbot von Lambda Istanbul wurde Berufung eingelegt, der Prozess ist derzeit noch am Laufen[11]. Heute gibt es trotz mehrerer Versuche der Verhinderung der Homosexuellenbewegung eine gewichtige Anzahl trans-, homo- und bisexueller AktivistInnen, die sich in Gruppen oder Vereinen politisch organisieren. Polizeigewalt, Versuche gesetzlicher Unterdrückung und patriarchale Gewalt erschweren zwar die politische Organisation und die gesellschaftliche Sichtbarkeit, die Solidarität zwischen diesen Gruppen und der feministischen Bewegung ist allerdings sehr stark und es wird in vielen politischen Fragestellungen eine gemeinsame Linie vertreten.

Eine neue Bewegungsform ist als Männerbewegung, die sich gegen patriarchale Gewalt und als profeministisch äußert, ebenfalls im Zuge der Gender- und Geschlechterdiskurse in der Türkei entstanden. Diese Gruppe bezeichnet sich als „Wir sind keine Männer“ im Sinne des „herrschenden“ Verständnisses: Das türkische Wort „erk“, das Macht oder „Herrschaft“ bezeichnet, ist Teil des türkischen Wortes für Mann „erkek“. Diese Gruppe agiert als Männergruppe, die sich als antisexistisch, antipatriarchal, antimilitaristisch und antihomophob bezeichnet. Im Rahmen einer Demonstration am 19. April 2008 in Istanbul ist diese Gruppe erstmals an die Öffentlichkeit getreten.

Abschließende Bemerkungen

Die Frauenbewegung in den 1990er Jahren und seit 2000 hat sowohl die politischen Parteien als auch die linke Bewegung, die sozialistische Bewegung und die Bewegung der KurdInnen stark beeinflusst. Die politische Kategorie, dass „das Private politisch ist“, war für die sozialen Bewegungen etwas Neues. Sie hat durch den jahrelangen Kampf der Frauenbewegung eine reale politische Dimension auch für die Wahrnehmung der linken Bewegungen selbst bekommen. Die abstrakten Ziele der Geschlechtergleichberechtigung wurden als konkrete Zielsetzungen in der Politik formuliert, mit denen sich die emanzipatorischen Bewegungen ebenfalls auseinandersetzen mussten. Nicht nur die politische Parole „Das Private ist politisch“, sondern auch die weiteren politischen Analysen und Positionierungen der Frauenbewegung haben wichtige Kategorien in der Gesellschaftsanalyse eröffnet. Mehrere Frauenzeitschriften und feministische Zeitschriften haben auf verschiedenen Ebenen Tradition in der Theoriedebatte möglich gemacht.

Die Feministinnen der zweiten Welle der feministischen Bewegung haben auf unterschiedliche Arten und Weisen die Feminismusdebatte und ihre Erfahrungen in die dritte Welle der feministischen Bewegung hineingetragen. Sowohl die Frauenbewegung als auch die feministische Bewegung haben eine viel breitere Masse von Frauen erreicht. Die dritte Welle der Frauenbewegung hat aber auch das Erbe der ersten Frauenbewegung durch die akademische Sichtbarmachung ihrer Werke und politischer Taten wieder ins Gedächtnis gerufen. Es gibt seit den 1980er Jahren eine wichtige Tradition des akademischen Diskurses, die sich in Form der Frauenforschungsinstitute an den Universitäten, aber auch außerhalb der universitären Wissenschaftsproduktion durch die Frauenzeitschriften äußert. Generationen feministischer Schriftstellerinnen, Journalistinnen oder Kolumnistinnen sowie Künstlerinnen sind durch die Mobilisierung der Frauenbewegung entstanden. Gerade die feministischen Frauen in diesen Berufsgruppen haben viel zur Auseinandersetzung mit und zur Dekonstruktion von gesellschaftlichen Tabus beigetragen.

Heute gibt es in der Türkei nach Angaben aus 2005 über 226[12] Frauengruppen, in Form von Frauenorganisationen, -vereinen, Lobbygruppen, feministischen Gruppierungen, Frauenzeitschriften und feministischen Zeitschriften, Frauenbibliotheken, Yahoogruppen, Blogs und Internetzeitungen oder Organisation feministischer Filmemacherinnen. Die massenhafte Teilnahme an den Feiern des Internationalen Frauentages am 8. März ist ein sichtbares Zeichen dafür, welchen Umfang die Frauenbewegung in der Türkei erreicht hat.

Darüber, wie der 8. März gefeiert werden soll, gibt es allerdings immer noch Uneinigkeiten innerhalb der Frauenbewegung. Die feministische Bewegung verteidigt eine Position, die behauptet, dass der Internationale Frauentag eine reine Frauendemonstration sein soll, während einige Frauen von den gemischten linken Organisationen den 8. März gemeinsam mit Männern feiern wollen. In den Diskussionen setzt sich meistens die Linie der feministischen Frauenbewegung durch, obwohl es auch separate Aufmärsche linker Gruppierungen gibt.

Abschließend ist noch zu sagen, dass heute die Zeitschrift Amargi eine wichtige Funktion in der Theoriebildung, der Debatte über Aktivismus und feministischer Gesellschaftskritik erfüllt. Amargi ist eine dreimonatlich erscheinende feministische Zeitschrift und wird seit 2005 von Forscherinnen, Akademikerinnen und Aktivistinnen aus der zweiten und dritten Welle der Frauenbewegung herausgegeben. Das Sozialist Feminist Kollektiv ist ebenfalls eine Gruppe und Zeitschrift, die seit Februar 2009 existiert und eine unabhängige feministische und sozialistische Theoriebildung und Gesellschaftsanalyse anstrebt.

Güneş Koç ist Dissertantin am Institut für Politikwissenschaften der Universität Wien und arbeitet zum Thema Frauenbewegung in der Türkei. Ihre wissenschaftlichen Forschungsinteressen sind Frauenbewegung in der Türkei, Staat und Reformbewegungen im Iran, Migration in und nach Europa. Sie ist freiberufliche Journalistin.

 

Literaturangaben:

Aytac, Sule (2008): Bewusstseinserhöhung (Bilinc Yükseltme), in: amargi 3 aylik feminist dergi (Amargi – dreimonatige feministische Zeitschrift), Winter, 11, S. 41-44.

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Bora, Aksu/Günal, Asena (2002): Feminismus in den 90er Jahren in der Türkei (90’larda Türkiye’de feminizm), Istanbul.

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Kreisky, Eva (1992), Der Staat als „Männerbund“. Der Versuch einer feministischen Staatssicht, in: Elke Biester et al. (Hg.), Staat aus feministischer Sicht, Berlin, S. 53-62.

Sirman, Nükhet (2007): Die Beziehung der Frauen in der Türkei zur Gewalt (Türkiye’de feministlerin siddetle iliskisi), in: amargi 3 aylik feminist dergi (Amargi – dreimonatige feministische Zeitschrift), Frühling, 4, S. 15-18.

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Yaraman (2001): Von der formellen Geschichte zur Frauengeschichte… (Resmi Tarihten Kadin Tarihine Elinin Hamuruyla Özgürlük).

Zihnioglu, Yaprak (2003): Nezihe Muhiddin, die frauenlose Revolution, die Frauenvolkspartei, die Frauenvereinigung (Nezihe Muhiddin, Kadinsiz Inkilap, Kadinlar Halk Firkasi, Kadin Birligi), Istanbul.

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Zeitschriften:

Amargi – dreimonatige feministische Zeitschrift (2006): Hast du ein Projekt? (Projen var mi?), Winter, 3.

Internetadressen:

http://www.ucansupurge.org/index.php?option=com_content&task=view&id=2325&Itemid=77


[1] Wird auch synonym als Radikalfeminismus verwendet, beruft sich auf Geschlechtergleichheit. Behauptet, dass die Geschlechterungleichheit aufgrund der gesellschaftlichen und kulturellen Ungleichheit entstanden ist.

[2] Behauptet, dass die Geschlechterdifferenz naturgegeben oder genetisch vorgegeben ist und dass es für die feministische Bewegung nicht um die Einebnung der Differenz, aber um die Gleichstellung beider Geschlechter gehen soll.

[3] Abdülhamit II. war von 1876 bis 1909 Sultan des Osmanischen Reiches.

[4] Jungtürkische Partei

[5] Dieser Ausdruck gehört dem TKB (Zihnioglu 2003).

[6] Kreisky, Eva (1992), Der Staat als „Männerbund“. Der Versuch einer feministischen Staatssicht, in: Elke Biester et al. (Hg.), Staat aus feministischer Sicht, Berlin, S. 53-62.

[7] Abdülhamid II. verkündet am 23. Dezember 1876 eine Verfassung (türk. Meşrutiyet), die ein parlamentarisches System eingeführt hätte, die er jedoch 1878 wieder außer Kraft setzt. Ab 1907 gibt es eine Bewegung für die Wiedereinsetzung dieser Verfassung. 1908 erzwingen die Jungtürken die Wiederinkraftsetzung der seit 1878 suspendierten Verfassung von 1876 (II. Meşrutiyet) und setzen den nur widerwillig kooperierenden Sultan 1909 schließlich ab.

[8] „Die Politik des Privaten“ bedeutet gleichzeitig zu zeigen, dass „das Private politisch ist“. Dieses Motto war für die zweite Frauenbewegung in der Türkei eine wichtige politische Kategorie, die durch die feministische Bewegung eröffnet wurde. Die Wahrnehmung der Politik, die Definition des Politischen und des Subjekts der gesellschaftlichen Emanzipation wurden durch die feministische Bewegung und die Frauenbewegung in Frage gestellt.

[9] Zu den „Bewusstseinserhöhungsgruppen“ in den 1980er Jahren bietet der Artikel von Sule Aytac einen guten Überblick (Aytac: 2008, 41-44).

[10] Siehe dazu das Amargi-Heft über den Projektfeminismusdiskurs innerhalb der Frauenbewegung: Amargi – dreimonatige feministische Zeitschrift (2006): Hast du ein Projekt? (Projen var mi?), Winter, 3.

[11] Der zweijährige Prozess scheint jetzt zu Ende gegangen zu sein. Das regionale Gericht in Ankara hat das Urteil des Berufungsgerichts übernommen, wonach die Satzung von Lambda nicht gegen bestehende Gesetze verstößt – und zwar im Augenblick. Für den Fall, dass Lambda in Zukunft homosexuelles Verhalten oder Transidentität propagieren sollte, könnte ein neues Verbotsverfahren eingeleitet werden. Die Provinzregierung in Istanbul kann gegen das Urteil in Berufung gehen. Ob sie das tut, ist noch nicht absehbar, weil das Urteil noch nicht rechtskräftig ist. Insofern könnte das jetzt auch nur eine Verschnaufpause für Lambda Istanbul sein. Quelle: Transgenderradio vom 15.5.2009; http://www.transgenderradio.de/news/sendung0509.html

[12] Diese Anzahl entstammt dem Bericht der Frauenorganisation „ucan süpürge / fliegender Besen“: http://www.ucansupurge.org/index.php?option=com_content&task=view&id=2325&Itemid=77.