Unserer Altachtundsechzigerin

Die Kritische Justiz feiert ihren vierzigsten Geburtstag

Die Notstandsverfassung einer großen Koalition, das Attentat auf Rudi Dutschke, massive Straßenschlachten um die Boykottbemühungen gegen die Springer-Presse, politisch motivierte Brandanschläge auf Konsumtempel in der Frankfurter Innenstadt – 1968 war so manches im Gange. Man darf von einigem Glück reden, dass auch eine Reihe von Juristinnen und Juristen sich den Idealen der Studentenbewegungen und der sich herausbildenden außerparlamentarischen Opposition nicht verwehrten und einige mit einer ziemlich guten Idee aufwarteten: der Gründung einer rechtspolitischen Zeitschrift mit dem aussagekräftigen Namen „Kritische Justiz“.

Die Gründungsversammlung des Zeitschriftenprojekts, die Anfang des Jahres 1968 zusammentraf, wollte mit diesem Titel explizit an die Tradition kritischer Rechtswissenschaft anknüpfen, die in Deutschland 1933 ihr jähes und gewaltsames Ende fand. Vorbild waren die Veröffentlichungen von Karl Korsch, Otto Kirchheimer oder Franz Neumann und vor allem die von Ernst Fraenkel herausgegebene Zeitschrift „Die Justiz“, das zentrale Organ des Republikanischen Richterbundes. Die Namen der Beteiligten an den ersten Ausgaben der Kritischen Justiz lesen sich aus heutiger Sicht allerdings nicht minder prominent. Zu nennen sind nur Fritz Bauer, Wolfgang Abendroth, Heinrich Hannover, Oskar Negt, Joachim Perels, Helmut Ridder, Ulrich K. Preuß oder Jürgen Seifert.

Während das erste Heft auf ein programmatisches Editorial verzichtete und gleich mit Beiträgen zur Krise des Staates, Notstandsverfassung, politischem Mandat der Studentenschaft und Demonstrationsfreiheit in die Vollen ging, präsentierte die Europäische Verlagsanstalt (EVA) aus Frankfurt in der Ankündigung des neuen Hefts ein für den damaligen juristischen Betrieb offenbar aufrührerisches Selbstverständnis: „Die ‚Kritische Justiz‘ will Justiz und Recht nicht ‚politisieren‘, sondern die ohnehin vorhandenen politischen Elemente und Wirkungen deutlich machen. Sie soll Öffentlichkeit für eine kritische Rechtswissenschaft ermöglichen. Kritische Rechtswissenschaft meint dabei die Aufdeckung des Bezugs zwischen Recht und Gesellschaft, seiner politischen, sozialen und gesellschaftspolitischen Implikationen. Methodologische und rechtstheoretische Beiträge werden bestimmt sein, Rechtswissenschaft aus ihrer mehr oder weniger selbstgewählten Isolation zu lösen und die Erkenntnisse anderer Wissenschaften wie Politologie, Soziologie, Psychologie, Psychoanalyse, Wirtschaftswissenschaften für Rechtswissenschaft zu vermitteln und zu verarbeiten.“

 

Frankfurter Schule

Die jungen Macher der Kritischen Justiz – tatsächlich war es lange Zeit eine reine Herrenriege – hatten sich wohl 1966 in einem Frankfurter Seminar des SDS zur Rechtstheorie inspirieren lassen und orientierten sich mit diesem Ansatz an dem Duktus und den Zielen der Kritischen Theorie von Max Horkheimer und Theodor Adorno. In seinen Anfängen räumte das Heft fundamentalkritischen Beiträgen zur materialistischen Rechtstheorie und Rechtsgeschichte ebenso viel Platz ein wie praxisbezogenen Themen, die die seinerzeit aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der außerparlamentarischen Opposition bestimmten. Noch heute greift man in gespannter Erwartung zu den ersten Ausgaben der Kritischen Justiz, die fundierte Beiträge zur marxistischen Rechtstheorie, Kritik der Privatautonomie und bürgerlichen Rechtsgeschichte oder zum fragwürdigen Charakter des Strafrechts enthalten. zugleich findet man in den Heften kämpferische Artikel zu Berufsverboten und Arbeitskampf, zu Solidarität und juristischer Strategie in politischen Prozessen, zu Versammlungsfreiheit und Polizeigesetzen sowie engagiert kommentierte Entscheidungen der Justiz. Vor allem das Recht im Nationalsozialimus sowie dessen Behandlung durch die bundesdeutsche Justiz bildete häufig einen Schwerpunkt. Die in mehreren Sammelbänden veröffentlichen Arbeiten trugen maßgeblich und in der nötigen Schonungslosigkeit zur wissenschaftlichen Aufarbeitung des nationalsozialistischen Unrechts bei. Feministische Themen wurden indes lange Zeit fast vollständig ignoriert. Während man in den achtziger Jahren auch fast alle großen Themen der neuen sozialen Bewegungen – seien es Gorleben und Brokdorf, Nato-Doppelbeschluss, Startbahn West oder Hausbesetzungen – aufgriff, stießen feministische Positionen erst in den neunziger Jahren auf ein gesteigertes Interesse. Ähnlich verhält es sich mit der Mitarbeit von Frauen an der Zeitschrift, bis heute sind sie auffallend unterrepräsentiert.

 

Salonfähige Vierteljahresschrift

Treu blieb sich die Kritische Justiz nicht. Bereits aus dem (grafisch allerdings kaum veränderten) äußeren Erscheinungsbild kann man Rückschlüsse auf ihre Wandlung ziehen: Die Kritische Justiz erscheint nunmehr in dem in Justizkreisen renommierten Nomos-Verlag, einer Tochter des allmächtigen Beck-Verlages. Die Redaktion, die zugleich die Herausgeberschaft stellt, setzt sich nicht mehr aus jungen Wissenschaftlern, Rechtsanwälten oder Referendaren zusammen, sondern aus ehrwürdigen HochschullehrerInnen, die – ebenso wie ihr stattlicher „wissenschaftlicher Beirat“ – mittlerweile wohl nicht mehr auf den Professorentitel und eine prominente Nennung auf Seite 2 des Heftes verzichten wollen. Mit einigem Stolz erklärte man schon zum dreißigjährigen Jubiläum, dass die AutorInnen der Kritischen Justiz (KJ) durch das Bundesverfassungsgericht, den Bundesgerichtshof und andere Gerichte immer wieder zustimmend zitiert werden, dass zu den GratulantInnen der KJ wichtige Rechtsinstitutionen der Bundesrepublik zählen und die KJ mithin salonfähig geworden sei. In fast schon vornehmer Distanz zur ihrer Entstehungsgeschichte wählte sich die Kritische Justiz zuletzt 2004 den Untertitel "Vierteljahresschrift für Recht und Politik“.

An ein entsprechend akademisch geprägtes Publikum richtet sich die aktuelle Auswahl an Beiträgen in der KJ. Diese sind thematisch weitaus differenter und stellen in der Regel umfangreiche Abhandlungen mit beachtlichem Fußnotenapparat dar, die in ihrer rechtswissenschaftlichen Qualität sicher den Pendants im Archiv der civilistischen Praxis oder dem Archiv des Völkerrechts in nichts nachstehen dürften. Der kritische und weitgehend politisch progressive Bezug zum gesellschaftlichen Hintergrund der behandelten Rechtsfragen bleibt den Analysen allerdings stets erhalten und bildet für spezielle rechtspolitische Auseinandersetzungen oder Gutachten in Studium und Praxis gewinnbringende Argumente. Jedoch die Artikel, die die an rechtspolitisch brisanten Fragestellungen interessierten LeserInnen schnell und prägnant ins Bild setzen können, finden sich in der KJ nur noch selten. Möglicherweise hat sich diese Ausrichtung auch in der Auflagenstärke des Blattes niedergeschlagen: Während die KJ 1988 noch etwa 4.000 AbonentInnen zählte, lag die Gesamtauflage in diesem Jubiläumsjahr nur noch bei 2.200 Exemplaren.

 

Kritischer Punkt

Die Entwicklung der KJ ist jedenfalls nicht ohne Kritik geblieben. Enttäuscht bemerkte etwa eine Gruppe junger AutorInnen auf der Veranstaltung „30 Jahre Kritische Justiz“, dass die Lektüre des Heftes angesichts der braven juristischen Abhandlungen oft nur ein bedenkliches Schulterzucken hervorrufe, weil kaum mehr die eigentlichen Konflikte hinter den juristischen Fragestellungen thematisiert würden. Bemängelt wird nicht zu Unrecht, dass die Kritische Justiz ihrem Namen kaum mehr Ehre macht, wenn sie sich überwiegend der Rechtspolitik und der Begleitung legislativer Vorhaben widmet, aber die justizielle Praxis zunehmend außen vor lässt. Das ist gerade mit dem seinerzeit gesteckten und bis heute propagierten Ziel, das Recht von seiner Isolation zu lösen und an sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zu binden, schlecht zu vereinbaren. Denn die Notwendigkeit interdisziplinären Vorgehens wird in der Rechtswissenschaft heute kaum mehr in Frage gestellt; politisch relevant ist vielmehr, ob und vor allem welchen Erkenntnissen der Sozialwissenschaften und welcher Interpretation des sozialen, ökonomischen und politischen Kontextes in der Rechtsprechung Geltung verschafft wird. Kritische Rechtswissenschaft, so wurde bereits vor zehn Jahren mit allem Recht gefordert, darf sich nicht nur auf akademische Auseinandersetzungen beziehen, sondern muss sich in gesellschaftliche Kämpfe einmischen und das Bündnis mit außerparlamentarischen und parteifernen Aktiven suchen, die sich für eine humane, soziale, ökologische und antifaschistische Gesellschaft engagieren. Sie muss die offen politisch agierende Justiz ebenso angehen wie sie juristische Codes enttarnen und angeblich unvermeidliche gesetzliche Rechtsfolgen bestreiten muss; und sie muss ihren nicht-juristischen GenossInnen die rechtlichen Instrumente für politische Interventionen vorstellen und anbieten.

Es ist Ausdruck ihrer Offenheit und Verbundenheit mit ihren jungen LeserInnen, dass diese kritischen Stimmen Platz in den Jubiläumsausgaben der Kritischen Justiz gefunden haben. Aber inwiefern die Kritische Justiz in der Lage und überhaupt gewillt ist, diesen Anforderungen Beachtung zu schenken und nachzukommen, ist nicht zuletzt von dem Zustand der kritischen Rechtswissenschaft und dem gesellschaftspoltischen Wirken kritischer JuristInnen insgesamt abhängig. Als deren Teil versteht sich auch Forum Recht und so ist es uns ein starkes Anliegen, der Kritischen Justiz zu ihrem Geburtstag zu gratulieren und ihr allen Mut und Antrieb für weitere Jahre anspruchsvoller Publikation zu wünschen. Wir wollen unseren LeserInnen jede Ausgabe der Kritischen Justiz von 1968 bis heute ans Herz legen. Sie ist es alle Mal wert, gelesen und kritisch begleitet zu werden.

Stephen Rehmke war bis 2007 Redakteur von Forum Recht.

Weiterführende Literatur:

  • Mückenberger, Ulrich, 20 Jahre Kritische Justiz, in: Kritische Justiz (KJ) 1989, 109-116.
  • Erd, Rainer, Zur Gründungsgeschichte der KJ, in: KJ 1999, 105-107.
  • Hähnchen, Susanne, Zehn kritische Anmerkungen, in: KJ 1999, 107-110.
  • Laudenlos, Frank, Kritische Justiz und aufgeklärte Rechtspraxis, in: KJ1999, 110-113.
  • Bast, Jürgen u.a., Kritische Rechtswissenschaft und Kritische Justiz, in: KJ 1999, 313-323.
  • Perels, Joachim, Kritische Justiz und Frankfurter Schule, in: Claussen, Detlev / Negt, Oskar / Werz, Michael (Hrsg.), Philosophie und Empirie, Hannoversche Schriften 4, 2001, 146-166.
  • Buckel, Sonja / Fischer-Lescano, Andreas / Hanschmann, Felix, Die Geburt der Kritischen Justiz aus der Praxis des Widerständigen, in: KJ 2008, 235-242.