Critical Race Theory

Eine „andere“ Sichtweise im deutschen Recht

Durch das im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) enthaltene Benachteiligungsverbot „aufgrund der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft“ gewinnen „Rasse“ und Rassismus als zentrale Topoi der Critical Race Theory (CRT) an Aktualität. Dennoch bleiben die Kategorien „Rasse“ und „Rassismus“ im politischen, und besonders im juridischen Diskurs weiterhin unbeachtet.

Mit dem AGG wurde 2006 die europäische Antirassismusrichtlinie (RL 2000/43/EG) mit einer Verzögerung von drei Jahren letztlich in deutsches Recht umgesetzt. Die Frage, wie kritische Jurist/innen angemessen mit dem Verbot „rassistischer“ Diskriminierung umgehen sollen, führt zur CRT und zu deren grundlegenden Konzepten.

Rassismus als strukturelles Phänomen

Eine Grundannahme der CRT ist es, Rassismus als strukturelles Phänomen zu erfassen, das die Gesellschaft insgesamt durchzieht und nicht nur in Form von „Ausländer-“ oder „Fremdenfeindlichkeit“ in bestimmten Stadtteilen und Bundesländern auftritt. Rassistische Diskurse bauen demnach auf eine alte Tradition von Denkmustern und Praxen auf, die ein Dominanzverhältnis ausdrücken und damit materielle und symbolische Ausschlüsse produzieren und legitimieren. Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit umschreibt dagegen nur einen Teil von Rassismus und analysiert ihn nur bruchstückhaft, da sie sich auf individuelle Vorurteile und Handlungen einzelner Personen(-gruppen) bezieht. Im aktuellen Kontext wird Rassismus, wenn er auf Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit reduziert wird, zu einem bloßen Erklärungsmodell für rechte Gewalttaten. Dabei treten die subtilen Erscheinungen von Rassismus, die den Alltag von zahlreichen Betroffenen strukturieren, in den Hintergrund.

Der Alltagsrassismus äußert sich heute nicht nur in Zuschreibungsprozessen aufgrund körperlicher Merkmale wie etwa der Hautfarbe, sondern auch – und vor allem – in Kulturalisierungsprozessen. In diesem so genannten „Neorassismus“ oder „Rassismus ohne Rassen“ ersetzt Kultur praktisch den Begriff Rasse, und macht Rassismus damit salonfähig. Zentrales Moment dieses Herrschaftsverhältnisses ist ein Differenzdenken – ein Prozess der Rassifizierung, die das „Andere“ herstellt. In diesem Zuschreibungsmoment wird von zwei „natürlichen“, homogenen und unüberbrückbaren Identitäten und Kulturen (z.B. Westen/Islam) mit gegensätzlichen Eigenschaften ausgegangen.

Dieser Neorassismus wird im hiesigen Integrations- und Migrationsdiskurs sehr anschaulich, in dem etwa die „frauenunterdrückende und rückständige“ Kultur der „Ausländer/innen“ oder „Muslim/innen“ häufig als Argument ins Feld geführt. In der Debatte um eine deutsche „Leitkultur“[1], die sich im Kopftuchstreit verdichtet, findet eine Kulturalisierung und Kultivierung des Rassismus statt. Diese institutionalisierten Diskurse geben einen Rahmen vor, in dem Rassismus perpetuiert wird, aber genauso anti-rassistische Diskussionen als beispielsweise „falsche Toleranz“ delegitimiert werden können.

Kopftuchdiskurs – Postkolonialismus und Intersektionalität

Beispielhaft für einen solchen institutionalisierten und verrechtlichten Diskurs steht der Kopftuchstreit, in dem der Islam als Bedrohung für die westliche Werte behandelt wird. Postkoloniale Kritiker/innen zeigen dabei, dass das „orientalische“ Kopftuch den westlichen Blick nach wie vor fixiert und irritiert. Die so genannte untergeordnete Stellung der Kopftuchträgerin fungiert als eine vergeschlechtlichte Markierung zwischen der „demokratischen christlich-abendländischen“ und der „rückständigen islamischen“ Werteordnung. Jede Kopftuchträgerin wird als „Opfer“ des muslimischen Mannes konstruiert, das nicht für sich sprechen kann und das es durch die deutsche Werte- und Rechtsordnung mit faktischen Berufsverboten zu emanzipieren gilt.

Der Kopftuchdiskurs zeigt aber auch, dass Benachteiligungen komplex und mehrdimensional verlaufen. Denn nur in der Kombination von Frau, Muslimin und Lehrerin bzw. Akademikerin scheint das Kopftuch zu stören. Die Putzfrau mit Kopftuch dagegen irritiert die deutsche Öffentlichkeit nicht. Die mit dem Kopftuchverbot einhergehende Diskriminierung stellt demnach eine Benachteiligung aufgrund der Religion, des Geschlechts, und häufig der „Rasse“ dar, die eng mit der Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht zusammenhängt.

Eine solche intersektionelle Analyse entspricht dem Anspruch der CRT: Nicht nur „Rasse“ als ein Diskriminierungsmerkmal zu thematisieren, sondern den Zusammenhang mit anderen Kategorien wie etwa Geschlecht und Religion zu sehen und zu analysieren.[2] Denn jede Person hat in unterschiedlichen Situationen mehrere Identitäten, die mit Diskriminierungserfahrungen verbunden sein können. Vor allem die Kritik von Schwarzen Feministinnen warfen dem Feminismus vor, nur die Benachteiligungserfahrung der weißen Mittelschichtfrau zu thematisieren, zum Maßstab der feministischen Politik zu machen und so die Bedürfnisse anderer Frauen zu ignorieren.

„Rasse“ als Rechtsbegriff

Was ist nun „Rasse“ und wie ist mit dem Begriff „Rasse“ im Recht umzugehen? Eine mögliche Antwort darauf bietet die Fachliteratur in Grundgesetz-Kommentaren, nach denen „Rasse“ in Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz (GG) als Menschengruppen mit bestimmten wirklich oder vermeintlich vererbbaren Eigenschaften definiert wird.[3] Der Hinweis darauf, dass diese Eigenschaften nur mutmaßlich vererbbar sind, findet sich in einigen Kommentaren nicht.[4] Neben dieser Kurzdefinition findet sich gewöhnlich noch ein Hinweis auf den nationalsozialistischen Hintergrund, weitere Erläuterungen sind sehr kurz gehalten.

Die Gleichheitsvorschriften des Grundgesetzes entstanden u.a. als Reaktion auf die nationalsozialistische „Rassen“-Politik. In diesem Sinne wird das Diskriminierungsverbot im Art. 3 Abs. 3 GG auch verstanden: „es soll für die Zukunft Verbrechen wie im Nationalsozialismus verhindern.“[5] Dieses verkürzte Verständnis des Benachteiligungsverbots aufgrund der „Rasse“ verfehlt im aktuellen Kontext allerdings sein Ziel.

Auf die Frage, ob Menschen überhaupt in „Rassen“ einteilbar sind oder nicht, wird nicht eingegangen, da dies nicht relevant für die Vermeidung von Diskriminierung sei. Diese fehlende Positionierung und die Hinweise auf vermeintliche Merkmale führen aber dazu, dass in der Rechtswissenschaft weiterhin ein biologistischer Rassenbegriff aufrechterhalten wird. Dabei werden etwa kolonialistische Begriffe wie „Mischlinge“ oder „Farbige“ unreflektiert übernommen.[6]

Die Bekämpfung von Rassismus und die Analyse des derzeitigen politischen Geschehens setzen aber zunächst ein adäquates Verständnis von Rassismus und „Rasse“ als sozialer Konstruktion voraus. Auch wenn die Nichtexistenz von Rassen kaum ernsthaft bestritten wird, hat die Kategorie „Rasse“ an Wirkungsmächtigkeit nicht verloren. Nach wie vor werden Menschen durch Zuschreibungen anhand von bestimmten biologisch-physiologischen, kulturellen und anderen sozialen Eigenschaften be- und verurteilt. Mit der sozialen Konstruktion von „Rasse“ entsteht ein rechtliches Problem: wie kann auf Grund von „Rasse“ diskriminiert werden, wenn es keine Rassen gibt?

Im Antidiskriminierungsrecht kann dieser Widerspruch durch eine richtlinienkonforme Auslegung gelöst werden, die an die Beweggründe einer rassistischen Diskriminierung anknüpft, nicht an eine angebliche Rassenzugehörigkeit des/der Diskriminierten.[7] Dies sagt aber noch nichts zu der Widersprüchlichkeit, dass durch die Verwendung der Kategorie „Rasse“ überhaupt an einem überkommenen Modell festgehalten wird, um andererseits dem Rassismus durch rechtliche Normen etwas entgegenhalten zu können. Auf der einen Seite soll Recht eben nicht mehr „farbenblind“ sein, andererseits wird durch den Begriff „Rasse“ im Recht Rassismus sprachlich-performativ fortgesetzt.[8] Daher wäre es zu bevorzugen, im Gesetzestext von „rassistischer“ Benachteiligung, statt Benachteiligung „aufgrund der Rasse“ zu sprechen.

Weißsein - „White is transparent“

Eine berechtigte Kritik in den letzten Jahren ist, dass die antirassistische Politik den Blick auf die Betroffenen der rassistischen Diskriminierung gerichtet hat, ohne sich mit eigenen Privilegien auseinanderzusetzen. Wenn von „Rasse“ oder Rassismus gesprochen wird, sind „die Anderen“ gemeint, denen „man das auch ansieht“. Weißsein dagegen wird nicht als „Rasse“ wahrgenommen, sondern als Normalzustand, von dem Abweichungen möglich sind. Deshalb fordert die kritische Weißseinsforschung den Blick zu drehen und die Unsichtbarmachung des Weißseins als einer unbenannten, neutralen und normierenden Position mit strukturellen Vorteilen und Privilegien zu dekonstruieren.

Im rechtlichen Bereich hat sich diese Forderung der CRT noch lange nicht durchgesetzt: so gilt für einen Teil der Staatsrechtslehre die relative Homogenität des Volkes, worunter vor allem gemeinsame Grundsätze verstanden werden, als Voraussetzung für einen funktionierenden Verfassungsstaat.[9] Weitere Voraussetzungen sollen ein durch Herkunft und Tradition, Sprache, Kultur und Religion und gemeinsame Werte verbundenes Volk sein.[10] Damit wird eine homogene, weiße Mehrheitsgesellschaft nicht nur als Normalitätsmaßstab festgeschrieben, sondern auch als überlegen bewertet.

Auf Grund eigener Erfahrungen stellt Iyiola Solanke die Frage: Warum sind in Deutschland sämtliche juristische Berufe bis auf wenige Ausnahmen nur von Weißen besetzt?[11] Als Ursachen beschreibt sie, dass das Rechtssystem von Nicht-Weißen durch negative Erfahrungen als feindlich empfunden wird, und auch, dass der Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen selektiv verläuft.[12] Ein Ziel der CRT ist, den Normalitätsmaßstab „Weiß“ zu verschieben und die „Farbenblindheit“ des Rechts zu thematisieren. Im Gegensatz zu den USA ist dies in Deutschland noch kaum thematisiert worden.

Critical Race Theory in Deutschland?


Wo ist der Anknüpfungspunkt für die CRT, solange „Rasse“ im deutschen rechtlichen Diskurs weiterhin tabuisiert wird? Ist möglicherweise eine „Critical Identy Theory“ oder „Critical Culture Theory“ notwendig? Eine Lehre aus den bisherigen Bewegungen der kritischen Rechtswissenschaft ist, dass es nicht auf das Label ankommt. Denn auch die CRT selbst ließe sich in viele andere Gruppen mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten unterteilen, z.B. LatCrits, die sich vor allem auf Migration beziehen, Black Feminists, kritische Weißseinsforschung. Die dargestellten Annahmen der CRT lassen sich auch für das deutsche Recht als kritische Analysekategorien verwenden: „Rasse“ ist, wie auch Geschlecht, eine soziale Konstruktion, die interdependent zu anderen Merkmalen steht. Des weiteren hilft die CRT, Themen wie Leitkultur, Integration und Fremdenfeindlichkeit als rassistische Ersatzdiskurse zu identifizieren, da Rassismus als strukturelles Phänomen erkannt wird. Wie auch in der feministischen Rechtstheorie können Macht- und Herrschaftsstrukturen im rechtlichen System kritisiert werden, indem der „weiße, männliche“ Normalitätsmaßstab herausgestellt wird.

Nur mit einer solchen analytischen Perspektive, welche die CRT bietet, kann Rassismus mit den Mitteln des Rechts angemessen bekämpft werden.

Weiterführende Literatur

  • Barskanmaz, Cengiz, Rassismus und Recht: Postkolonialismus, „Rasse“ und Weißsein. Notwendigkeit einer deutschen Critical Race Theory, in: KJ 3/2008 (i.E.)
  • Barskanmaz, Cengiz, Das Kopftuch als das Andere. Eine notwendige postkoloniale Kritik des deutschen Rechtsdiskurses, in: Sabine Berghahn/Petra Rostock (Hrg.), Der Kopftuchstreit in Deutschland, Österreich und in der Schweiz, 2009 (i.E.)Eggers, Maureen Maisha et al. (Hg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, 2005.
  • Räthzel, Nora (Hg.), Theorien über Rassismus, 2000.

  • Terkessidis, Mark, Die Banalität des Rassismus, 2004.
  • Castro Varela, María do/Dhawan, Nikita, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, 2005.
  • Delgado, Richard / Stefancic, Jean, Critical Race Theory, An Introduction, 2001
  • Michaelsen, Anja, „Sinnliche Evidenzen“, Sprachkritische Überlegungen zur Verwendung des Begriffs „Rasse“ im Entwurf des Antidiskrimierungssgesetzes, in: Forum Recht (FoR) 2005, 125-127
  • Solanke, Iyiola, Where are the Black Lawyers in Germany?, in: Eggers, Maureen Maisha / Kilomba, Grada / Piesche, Peggy / Arndt, Susan (Hg.) Mythen, Masken und Subjekte, 2006, 179-188
  • Minda, Gary, Postmodern Legal Movements, 1995, S. 167-185

  • Crenshaw, Kimberlé W., Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence Against Women of Color, in: Fineman / Mykitiuk (Hg.), The Public Nature, 1994, 93-118

Johanna Künne studiert Jura in Berlin.



[1]z.B. in der Publikation der bpb: Lammert, Norbert (Hg.), Verfassung-Patriotismus-Leitkultur, 2006.

[2] Crenshaw, Kimberlé W., Demarginalizing the Intersection of Race and Sex. A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, in: Bartlett, Katherine T. / Kennedy, Rosanne (Hg.), Feminist Legal Theory. Readings, in: Law and Gender, 1991, 57-80.

[3] Osterloh, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 4. Aufl. 2007, Art. 3, Rn. 294; W. Heun, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 3, Rn. 128.

[4] Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 3, Rn. 87.

[5] W. Heun, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 3, Rn. 128.

[6]Ebd. Der Begriff „Zigeuner“ steht dagegen in Anführungszeichen.

[7] Schiek, in: Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, 2007, §1, Rn. 10.

[8]dazu Michaelsen, FoR 2005, 125-127.

[9]Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Staat, Verfasung, Demokratie, 1991, 344-364 (348).

[10] Kirchhof, Paul, Die Einheit des Staates in seinen Verfassungsvoraussetzungen, FS-Isensee, 1998, 51-69 (54).

[11] Solanke, Black Lawyers in Germany, 2006, 179 (180).

[12] Solanke, Black Lawyers in Germany, 2006, 179 (183 ff.).