Die neue Unübersichtlichkeit

Kommentar

in (07.12.2006)

Castor ist drin, Transport vorbei. Es war bereits der zehnte Transport nach Gorleben.

Kaum zu glauben, wie schnell die Zeit vergangen ist.
Trotzdem, dass kein Castor-Transport wie der andere ist, könnte inzwischen eine Plattitüde sein, wäre dieser Umstand nicht so bemerkenswert: Vor ein paar Jahren noch wurde in der Anti-Atom-Bewegung über die ständige Wiederholung und die Protest-"Tradition" gestritten.

Wer bei diesem Castor Transport war, kann eigentlich nur feststellen, dass der Protest so frisch wirkte, als wäre dies nicht der zehnte, sondern der erste oder zweite.
Aber viel hat sich verändert: Vor allem ist bei vielen Menschen eine zunehmende Abneigung gegen Massenaktionen und die damit einhergehende Berechenbarkeit zu spüren, hin zu einer Quirligkeit und Spontaneität, die vor einiger Zeit kaum denkbar schien. Oder anders herum: Die eigentliche Massenaktion ist inzwischen das kollektive Chaos, das gemeinsame Erlebnis des angezettelten staatlichen Kontrollverlusts.
Im Anschluss an die sonst stets im gleichen Ablauf durchgezogene Auftaktdemonstration hatten viele das Gefühl ,noch etwas anderes zu wollen, trampelten ein paar Absperrgitter um und entzündeten Feuer auf der Strecke zum Zwischenlager. Es war nur ein kleines und etwas unbeholfenes Zeichen zum Auftakt, das aber vielen Mut und Motivation zu geben schien immer genau das zu tun was von "der anderen Seite nicht gewünscht" wurde. Den SchülerInnen aus Lüchow, die auf die eine untersagte gleich mit zwei Demos reagierten, oder den WendländerInnen, die auf die wohl aus Angst vor Ankettaktionen beschlagnahmten 35 Traktoren mit gleich 3 Betonblöcken reagierten.
Der Konsens hat im Wendland Schiffbruch erlitten. Und Polizei-Einsatzleiter Niehörster bemerkte dann auch genervt "mehr Aktionen", mehr "Aggressivität gegen die Polizei" und eine "höhere Schlagzahl" der DemonstrantInnen. Vielleicht auch weil sich viele Menschen inzwischen wieder erinnern, dass die Polizei nicht "dazwischen" steht, sondern Teil dessen ist, was früher mal als der "Atomstaat" bezeichnet wurde. Wer nicht mehr weiß, wie eng Repression, Sicherheitswahn und Polizeistaatsphantasien mit dem Betrieb von Atomanlagen verknüpft sind und notwendigerweise einhergehen, mag noch mal zu den Anti-Atom-Schriften der achtziger Jahre greifen.
Die Lehren aus über mehreren Jahrzehnten Gorleben-Widerstand scheinen Möglichkeiten, die diese faszinierende Unberechenbarkeit bringt: Sieben Jahre Konsens-Geschwafel durch die rot-grüne Regierung und der Versuch, den Protest in die Gesellschaft einzubetten und damit mundtot zu machen, sind gescheitert. Das mussten auch die auf Verbrüderung machenden Ex-Regierungs-Grünen einsehen, die jetzt wieder hier und da verzweifelt umherirrten oder dafür sorgten, dass gefälligst alle DemonstrantInnen ordentlich Abstand von den Ankett-AktivistInnen am Betonblock halten, damit die Polizei diese dann in aller Ruhe misshandeln konnte. Deutlicher konnte die Distanz nicht sein.
Der Widerstand dagegen hat sich nicht spalten lassen, sondern kooperiert in seiner Verschiedenheit eher besser als früher: statt den Konflikt zu lokalisieren, wie es Polizei und Regierung beabsichtigt hatten, hat er sich nachhaltig ausgeweitet. Das vor einigen Jahren als Experiment gestartete Camp in Metzingen, um Hunderte Menschen aus den Städten mit den AnwohnerInnen zusammenzubringen, ist aus dem Widerstand nicht mehr wegzudenken. Der Protest hat in diesem Jahr tatsächlich längerfristig die Frage aufgeworfen, wie lange jeder Transport noch von 17.000 PolizistInnen durchgeprügelt werden kann. Denn ein Ende der Gorleben-Proteste ist eben nicht abzusehen, mit diesem Widerstand ist glücklicherweise kein Staat und kein Konsens mehr zu machen.
Das Konfliktmanagement ist, im Kleinen (durch die Polizei) wie im Großen (durch die Regierung) gescheitert. Das mag jetzt alles zu euphorisch sein, aber in einem Land, in dem fast alles an Kritik integriert und von einem schleimigen Konsens überzogen werden soll, ist das etwas, das wir pflegen sollten.

Nächstes Jahr soll, auch wenn mensch sich darauf nicht verlassen sollte, kein Castor nach Gorleben fahren. "Stattdessen soll es um den G-8-Gipfel in Heiligendamm im Juni 2007 zu Blockadeaktionen von Globalisierungskritikern kommen. Etliche sind in Gorleben in die Lehre gegangen", konstatiert das Hamburger Abendblatt dazu.
Da ist was dran.
W

Artikel aus Graswurzelrevolution Nr. 314, 35. Jahrgang, Dezember 2006, www.graswurzel.net