Die Sozialistin Michelle Bachelet wird Präsidentin Chiles
Was wird sich in der Politik Chiles, Musterland der ökonomischen Öffnung gegenüber dem Welthandel, ändern, wenn die Kandidatin des Mitte-Links-Bündnisses Concertación im März die Regierung übe
Seit Salvador Allende Stunden vor seinem Tod den Tag beschwor, an dem las grandes alamedas wieder geöffnet sein würden für freie Menschen, mussten die "großen Alleen" bei zahlreichen Gelegenheiten als Symbol herhalten für den gelungenen Übergang Chiles zur Demokratie, für die endgültige Überwindung der Diktatur. Und was könnte ein deutlicheres Zeichen dafür sein als die Wahl der 54jährigen Michelle Bachelet, Sozialistin und selbst Verfolgte unter Pinochet, zur Präsidentin Chiles? "Sie feiern die Rache der Geschichte", schreibt die Zeitung La Nación über die Freude auf den Straßen der Hauptstadt Santiago nach der Bekanntgabe der Ergebnisse der Stichwahl am 15. Januar: Ihr, Michelle, haben sie die Schlüssel in die Hand gegeben, die die Öffnung der alamedas vollenden.
Doch handelt es sich tatsächlich um die Rückkehr zur politischen Normalität, um den Friedensschluss mit der Vergangenheit? Was wird sich in der Politik Chiles, Musterland der ökonomischen Öffnung gegenüber dem Welthandel, ändern, wenn die Kandidatin des Mitte-Links-Bündnisses Concertación am 11. März die Regierung übernimmt?
Sicherlich, allein aufgrund ihrer Person und ihrer Geschichte bedeutet ihre Wahl einen Triumph. Und diesen kann auch nicht schmälern, dass die Concertación seit Ende der Diktatur 1990 ununterbrochen regiert und sich dank der hohen Zustimmung der Bevölkerung "auch diese Kandidatin leisten konnte", wie die rechtsgerichtete Zeitung Mercurio spöttisch bemerkt. Sie ist nicht nur Südamerikas erste Frau im Präsidentenamt, sondern auch Tochter eines unter Pinochet zu Tode gefolterten Generals, die nach ihrer eigenen Verhaftung jahrelang im Exil lebte. Dass
ihr Erfolg vor allem für die chilenischen Frauen einen Grund zur Hoffnung bietet, zeigt die triumphierende Freude, die viele am Wahltag offen zeigten. "Der zweite Wahlgang gehört uns Frauen, jeder Mann weiß das", verkündete die Sängerin Tatiana Marino schon am Nachmittag siegessicher. Und anders als die deutsche Kanzlerin scheint Bachelet ihre Vorreiterrolle zu genießen: "Wer hätte das vor zwanzig, zehn oder fünf Jahren gedacht", jubelte sie, als sie vor die Kameras trat, "dass Chile eine Frau zur Präsidentin wählt!" Sie kündigte an, ihr Kabinett zu gleichen Teilen mit Frauen und Männern zu besetzen, mehr Betreuungsplätze für allein erziehende und arbeitende Mütter zu schaffen, einen "weiblicheren" Stil der Politik zu wagen. Doch viel mehr als alle Reformen ist es wohl ihre Person selbst, die von einem Wandel kündigt und zugleich mehr verspricht: Als allein erziehende Agnostikerin und Sozialistin vereine sie alle Todsünden Chiles, hatte sie im Wahlkampf gewitzelt. Nun wird sie für vier Jahre das Geschick des Landes bestimmen.
Doch dass allein ihre Persönlichkeit auch einen politischen Wandel bedeutet, lässt sich bezweifeln. "Kontinuität und Wandel", kündigt Bachelet an, doch vieles deutet auf ein Festhalten an der Politik ihres Vorgängers Ricardo Lagos hin: Zwar hat sie mehr soziale Gerechtigkeit versprochen, doch die von der Concertación verfolgte liberale Richtung in der Wirtschaftspolitik steht nicht zur Diskussion. Chile wird die engen Beziehungen zu den USA und der EU, mit denen sie Freihandelsabkommen abgeschlossen hat, fortsetzen. Bachelet hat angekündigt, sich weiter für die gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA einzusetzen, die ein großer Teil der Bevölkerung ablehnt. Chile hat (wieder) eine linke Regierung - aber mit jenen linken Bewegungen, aus denen die Präsidenten Hugo Chávez in Venezuela und Evo Morales in Bolivien hervorgegangen sind, möchte Bachelet nicht in Verbindung gebracht werden. Sie halte nichts von Stereotypen, weicht sie Fragen nach ihrer Beziehung zu Bolivien und Venezuela aus. Links und rechts, gut und böse, das sei Rhetorik des Kalten Krieges, in die man nicht zurückfallen dürfe. "Ich bin eine sehr pluralistische Frau", betont sie. Diesen Anspruch hat sie bereits unterstrichen, als sie nach der Wahl versprach, sie werde die "Präsidentin aller Chilenen" sein.
Das ist mehr als eine rhetorische Floskel: Salvador Allende hatte nach seiner Wahl genau dies bestritten und sich ausdrücklich als Präsident der unterdrückten Klassen verstanden. In dieser bewussten Abgrenzung spiegelt sich eine in der chilenischen Gesellschaft nach Pinochet tief verwurzelte Angst wider - die Angst, die in der chilenischen Politik noch immer vor jeder Art von eindeutiger Positionierung jenseits eines scheinbar neutralen (neoliberalen) Pragmatismus herrscht, den die Concertación seit 16 Jahren praktiziert. Mit den Parlamentswahlen im Dezember haben die Wähler ihrer Präsidentin hervorragende Startbedingungen geschaffen. Zum ersten Mal besitzt das Bündnis in Parlament und Senat die Mehrheit. Doch dies ist weniger einer breiten Zufriedenheit mit der Regierungspolitik zu verdanken. Hinter den rekordverdächtigen Wirtschaftszahlen wächst die Kluft zwischen Arm und Reich. Die Offenheit und das selbstbewusste Auftreten nach Außen täuschen über die wachsende Zahl der Ausgeschlossenen, Enttäuschten, Resignierten hinweg. Aber anders als in Bolivien oder Ekuador schlägt sich dies nicht in Wut und Forderungen nach einer radikalen Änderung der Politik nieder. 17 Jahre Diktatur und über drei Jahrzehnte neoliberale Umstrukturierung haben zu einer Vereinzelung und einem Rückzug ins Private geführt, die auch nach der Rückkehr zur formellen Demokratie die chilenische Gesellschaft prägen (siehe auch S.40 in diesem Heft). Soziale Bewegungen, wie sie über die letzten Jahre in fast allen lateinamerikanischen Ländern an Bedeutung gewonnen haben, finden in Chile kaum Anknüpfungspunkte. Das linke Bündnis Juntos podemos más erhielt im Dezember wenig mehr als fünf Prozent der Stimmen.
Das Trauma ist noch längst nicht überwunden: Die scheinbare Alternativlosigkeit einer Politik der kleinen Schritte, der Pragmatik und der Versöhnung, wie sie das neoliberale Modell längst nicht mehr nur in Chile postuliert, wird gerade dort durch die Vergangenheit verstärkt. Zu tief sitzt die Angst, das noch immer fragil scheinende Gleichgewicht zu gefährden, das seit dem Übergang zur Demokratie besteht. Das in der Diktatur eingeführte Wahlsystem wird Bachelet wohl endgültig abschaffen. Doch das wirkliche Erbe Pinochets ist tief in die wirtschaftliche und gesellschaftliche Struktur Chiles eingeschrieben. Las grandes alemedas sind noch lange nicht offen.
Juliane Schumacher ist Mitarbeiterin der Lateinamerika-Nachrichten in Berlin.