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Ver.di publik und die Konsequenzen des konsequenten Ultra-Pluralismus

in (27.02.2003)

Was "Solidarität im neuen Format" bei der Gewerkschaft ver.di heutzutage heißt, konnte man in ihrer Mitgliederzeitschrift ver.di publik vom August 2002 gleich in mehreren Artikeln nachlesen. ...

... So verkündet uns ein Auszubildender, dessen Eltern aus Laos nach Deutschland aus(oder ein?)gewandert sind und der die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, dass man die Zuwanderung von Ausländern begrenzen müsse, bis "wir das Problem der Arbeitslosigkeit im eigenen Land gelöst haben" - und die Gewerkschaftsmitglieder bzw. imaginierte sonstige Leser, die in der Mehrheit vielleicht das Gleiche denken, können erleichtert durchatmen. Wenn schon die ehemaligen Ausländer so denken... Auf Seite drei erzählt Isolde Kunkel-Weber, die als Mitglied des ver.di-Bundesvorstands in der Hartz-Kommission saß, dass sie dort eine "gemeinsame Wertehaltung" entwickelt hätten - was wir gerade ihr gerne glauben wollen, zugleich aber doch ein etwas fataler Ausdruck des diesbezüglichen Zustandes der Gewerkschaften ist. Und dann gibt es da noch - Höhepunkt der Solidarität im neuen Format - auf Seite 12 die Reportage: "Die Jagd der Doris Kühn", in der man im Stil des TV-Sozialdokumentationsjournalismus "informiert" wird über die Arbeit der Leiterin des Prüfdienstes des Sozialamts Berlin-Reinickendorf. Gemeinsam mit Kühn darf der Leser verschiedene Sozialhilfeempfänger besuchen - wie Frau Werner, die "nicht doof" ist und bei der wir im Badezimmerschrank nach "Indizien" wie Rasierzeug, Männerparfüm etc. schnüffeln dürfen, wie Herrn Wörns, der verdächtigerweise tagsüber selten zu Hause ist, wie Herrn Meinhard, der "alles hat, was der moderne Mensch so braucht" (außer eben einem Job, dafür aber ein verschimmeltes Badezimmer) und dem wir auch nach mehrmaligem Probeliegen eine neue Matratze beim besten Willen nicht zugestehen wollen; all die "Schlitzohren", die "den Berliner Steuerzahler einige Millionen im Jahr" kosten. All das geschieht im Auftrag ihres mutigen CDU-Sozialstadtrats, für den sie penibel Statistiken führt, wieviel - absolut und in Prozent - in jedem Fall durch ihr Eingreifen eingespart wurde. Für die alleinerziehende Frau Gabriels mit dem völlig verwahrlosten Kinderzimmer hat sie nicht nur keine Hilfen, sie wirft ihr auch noch Verletzung der Aufsichtspflicht vor, weil die Kleinen die Tapete abgerissen hätten.

Auf den letztgenannten Artikel, aus dem diese Zitate stammen, reagierte am dritten Oktober Helga Spindler, Sozialrechtlerin und Professorin am Studiengang Soziale Arbeit an der Universität Essen, mit einem Leserbrief an ver.di publik. Zur Kommunikation im alten Format gehört bei ver.di publik, dass Helga Spindler weder eine Eingangsbestätigung noch eine weitere Reaktion bekommen hat. Da der Leserbrief auch nicht abgedruckt wurde, dokumentieren wir ihn hier:

Sehr geehrte Redaktion von ver.di publik,
über das Internet bin ich auf den oben genannten Bericht aufmerksam geworden. Ich habe nichts gegen realistische Reportagen aus der sozialen Wirklichkeit, aber wenn sich in den Ansichten und Praktiken eines Gewerkschaftsmitglieds wie Frau Kühn widerspiegeln sollte, wie man sich in der Gewerkschaft "Solidarität im neuen Format" vorstellt, dann wird mir Angst und Bange. Frau Kühn arbeitet zwar beim Sozialamt, aber von der Zielsetzung des Sozialgesetzbuchs, des Sozialhilferechts oder auch der Kinder- und Jugendhilfe scheint sie noch nie etwas gehört zu haben.

Sie fahndet nach Sozialbetrügern - auch das muss sein. Aber es ist doch ein Unterschied, ob ich jemanden bei der unangemeldeten Schwarzarbeit überführe oder ob ich selbst unangemeldet in Wohnungen und Privatsphären eindringe und manisch nach "Zweit"kissen, "Zweit"zahnbürsten und Herren-T-Shirts auf der Wäscheleine suche, obwohl es offenbar kaum stichhaltige Anhaltspunkte für eine eheähnliche Gemeinschaft gibt, ob ich Menschen in verschimmelten Wohnungen als "Schlitzohren" bezeichne und einer überforderten alleinerziehenden Mutter "Verletzung der Aufsichtspflicht" vorwerfe. Und diese Menschen sind beim überfallartigen Eindringen in ihre Wohnungen auch noch zottelig, verlottert, tragen schlabbernde Kleidung, haben nicht aufgeräumt und sind gefährlich, weil sie nichts mehr zu verlieren haben - da schimmert das Zerrbild des Untermenschen durch.

Frau Kühn ärgert sich über das Anspruchsdenken dieser Menschen und ist selbst voller Tatendrang. Vielleicht könnte man eine Lösung finden, die allen gerecht wird. Angesichts der Tatsache, dass Berlin zwar viele Sozialhilfeempfänger hat, aber noch mehr überzählige Angestellte im öffentlichen Dienst beschäftigt, und dass auch die Gewerkschaft neue Mitglieder braucht, schlage ich daher folgende Gesamtlösung vor:

Frau Kühn wird entlassen und von der Personal-Service Agentur für eine Entlohnung in Höhe ihres Arbeitslosengeldes als Haushälterin bei ihrem verehrten Sozialstadtrat angestellt, mit dem sie dann noch enger und eigenverantwortlich zusammenarbeiten kann. Sie bezieht die Wohnung von Herrn Meinhard, übernimmt die Matratze und repariert das schimmelige Badezimmer auf eigene Kosten mit Acryllack. Ehrenamtlich betätigt sie sich in der Schwangerenkonfliktberatung und erläutert schwangeren bedürftigen Frauen anhand ihres reichen Erfahrungsschatzes, wie lange diese mit der evtl. Aufzucht der Kinder ihrem ehemaligen Arbeitgeber auf der Tasche liegen würden und führt eine Statistik, wie viel - absolut und in Prozent - das ungeborene Kind den Bezirk gekostet hätte, wenn ...

Von den eingesparten Geldern könnte man überlegen, Frau Gabriels anzubieten, dass Frau Werner (die ja "sauber" ist) sie als regulär bezahlte Teilzeitarbeitskraft einige Monate als Familienhelferin unterstützt. Es reicht auch noch, um einmalig der ältesten Tochter von Frau Gabriels ein anständiges Jugendbett und den notwendigen Kleiderschrank zu verschaffen und den Umzug von Herrn Meinhards Familie in eine passende Wohnung mit trockenem Badezimmer und neuem Kinderbett zu übernehmen. In den Folgemonaten könnte man aus dem eingesparten Geld Herrn Meinhard entsprechend seiner Qualifikation zusätzlich und befristet im öffentlichen Dienst beschäftigen. Er und Frau Werner wären darüber so erfreut, dass sie bei ver.di eintreten, und bei einem Treffen für Neumitglieder würde Herr Meinhard seine wunderschöne CD-Sammlung aus besseren Tagen zur Verfügung stellen. Und wenn sie nicht gestorben sind ...

Ich verbleibe mit freundlichen Grüßen
Helga Spindler

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 1/03