Demographie des Terrors. Die Bevölkerungspolitik im Nahostkonflikt - eine Zeitungslektüre

Die folgende Problemanalyse des gegenwärtigen Nahostkonflikts nimmt dessen demographische Seite in den Blick, ohne deren Beachtung, so eine der Thesen, diese Auseinandersetzung und ...

ihre langwierige Geschichte nicht verstanden werden können. Es soll gezeigt werden, daß die Kontrahenten diesen Konfliktaspekt auf jeweils verschiedene Weise erfahren wie auch gestalten: Für die Palästinenser ist die Populationsdynamik ihres Volkes Teil ihres Problems; d.h. ihrer Armut und ihrer lebenspraktischen Ausweglosigkeit - was sie dem Zionismus anlasten. Sie wird aber auch als Waffe im Kampf gegen den Zionismus verstanden, insofern die Palästinenser eine Verschiebung des Bevölkerungsanteils zu ihren Gunsten als Schwächung zionistischer Legitimationsansprüche interpretieren. Israel sieht dies mit Besorgnis und nutzt seinerseits seit Inkraftsetzung im Jahre 1950 das Rückkehrgesetz, um das zionistische Selbstverständnis Israels als des Staates der Juden durch eine verläßliche Bevölkerungsmehrheit legitimationspraktisch zu stützen. Zeit seiner bisherigen Geschichte hat Israel den Verdacht, David gegen einen bevölkerungsmächtigen Goliath zu sein, gehegt und wohl auch gepflegt. Diese, nicht unbegründete, aber auch von obsessiven Zügen nicht freie Vorstellung hat das Recht des Stärkeren als Prinzip des politischen Verkehrs inthronisiert - wer auch immer aus welcher Perspektive und in welcher Hinsicht als der Stärkere erscheinen mag. Das demographische Problem scheint intraktabel, trotz aller zwischenzeitlichen Hoffnungen. So ist der Oslo-Prozeß nicht zuletzt an der Unlösbarkeit dieser Angelegenheit gescheitert, was sich an der ungeklärt gebliebenen Frage des Rückkehrrechts der palästinensischen Flüchtlinge zeigt. Der seit über einem halben Jahr andauernden Gewalt im Nahen Osten liegt eine Gemengelage von Problemen zugrunde, die zum Teil bis ins Gründungsjahr Israels und dessen Vorgeschichte zurückreichen. Nicht genug, daß sie schwer handhabbar sind. Hinzu kommt die selektive öffentliche Aufmerksamkeit ihnen gegenüber. Es gibt, anders gesagt, Probleme, über die man nicht so gern spricht. Ob dies nun dem Unwillen oder der Unfähigkeit geschuldet ist, kann insofern dahingestellt bleiben, als in jedem Falle die mangelnde Aufmerksamkeit der Situation kaum zuträglich sein dürfte. Eines dieser selektiv ausgeblendeten, wiewohl "harten" Probleme ist demographischer Natur. Es betrifft die Verteilung des Landes und seiner natürlichen und sozialen Ressourcen unter der dort lebenden Bevölkerung, aber auch derjenigen, die diesbezügliche Ansprüche erhebt, ohne dort zu leben oder dort leben zu können. Zum Thema gehört wesentlich, daß Populationen dynamisch sind, somit auch die Prognose zukünftiger Bevölkerungsentwicklung. Darüber hinaus erfordert die Feststellung des demographischen als eines politischen Problems nicht nur, die Tendenz der Bevölkerungsentwicklung zu erfassen, sondern auch die Versuche, diese politisch zu lenken. Obwohl es öffentlich nach wie vor weitgehend ausgeblendet ist, bestimmte das demographische Problem die Oslo-Agenda über den Finalstatus (permanent settlement) - direkt zumindest in der Frage nach dem Schicksal der palästinensischen Flüchtlinge. Die Hartnäckigkeit des Problems zeigte sich an der Widerspenstigkeit, welche die Kontrahenten in diesem Punkt an den Tag gelegt hatten. Was wiederum darauf verweist, daß die Demographie an dieser Stelle nahezu entscheidend ist: Die Gewährung eines Rückkehrrechts für die im Zuge des Unabhängigkeitskriegs 1948 und des Sechs-Tage-Kriegs 1967 geflohenen Palästinenser würde die demographische Situation Israels dramatisch ändern, weil es das zionistische Vergesellschaftungsprojekt hinfällig machte. Ob die Frage nach der Zukunft der jüdischen Siedlungen, ebenfalls Teil der Verhandlungen über den Finalstatus, demographischer Natur ist, scheint davon abzuhängen, wen man dabei im Blick hat. Für die nationalreligiösen Siedleraktivisten sicherlich, weil sie mit dem im Nachgang des Sechs-Tage-Krieges einsetzenden Siedlungsbau Territorialansprüche insbesondere auf die West Bank und damit einen demographischen "Gestaltungswillen" verbinden. Aber auch jene, die den Siedlungsbau vornehmlich unter dem Sicherheitsinteresse Israels betrachten (und betreiben) - wie nach eigener Auskunft Sharon1 - nehmen Einfluß auf die Populationsdynamik. Die Erhaltung der Siedlungen aus strategischem Interesse verbindet sich mit einem Ausgriff auf natürliche Ressourcen (insbesondere Wasser) und dem dezidiert eigennützigen Ausbau der Infrastruktur (insbesondere Straßen), die die Populationsdynamik der dort lebenden Palästinenser unterdrücken (sollen). Also auch die Frage der jüdischen Siedlungen hat eine demographische Seite.

Chok haÂ’Schwut - das Rückkehrgesetz

1950 hat die Knesseth auf Initiative David Ben Gurions das Rückkehrgesetz für alle Juden der Welt (Chok haÂ’Schwut) verabschiedet. Bereits die Unabhängigkeitserklärung von 1948 hatte erklärt, daß der Staat Israel allen Juden offenstehen werde, womit letztlich der Plan des ersten Zionistischen Weltkongresses (1897 in Basel) seine quasi-konstitutionelle Gestalt erhält: "Der Zionismus erstrebt die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte für diejenigen Juden, die sich nicht anderswo assimilieren können oder wollen." Analog sagt das Rückkehrgesetz von 1950 in seinem ersten Paragraphen, daß ein jeder Jude das Recht habe, in dieses Land (Israel) als Oleh (d.i. ein jüdischer Immigrant) zu kommen. Die Frage, wer als Jude zählt, also dieses Gesetzesrecht für sich in Anspruch zu nehmen vermag, blieb unbeantwortet und provozierte die Gesetzesnovelle von 1970. Diese von Golda Meir und Staatspräsident Shneur Zalman Shazar unterzeichnete Ergänzung definiert "Jude" als eine Person, die entweder Kind einer jüdischen Mutter oder zum Judentum konvertiert ist, ohne Anhänger einer anderen Religion zu sein (Ergänzung zu § 4b), setzt aber (in der Ergänzung zu § 4a) hinzu, daß sich alle aus diesem Gesetz ergebenden Rechte auch auf das Kind oder Enkelkind eines Juden erstrecken, den Ehepartner eines Juden, den Ehepartner eines Kindes eines Juden und den Ehepartner eines Enkelkindes eines Juden, es sei denn, die Person war Jude und hat freiwillig die Konfession gewechselt. Das Rückkehrgesetz statuiert de facto ein jus sanguinis, das die zionistischen Gründungsväter des Staates Israel, um die Blutsbande nicht als tradierte Konfessionszugehörigkeit - und den Staat somit als Tempelrepublik - erscheinen zu lassen, in den Geschichtsmythos einer innerweltlichen Nationenbildung, damit einen imaginären jus loci, setzen: "Eretz Israel war die Geburtsstätte des jüdischen Volkes. Hier bildete sich seine religiöse und nationale Identität. Hier erlangte es seine Unabhängigkeit und schuf eine Kultur von nationaler wie universeller Bedeutung. Hier schrieb es die Bibel und überantwortete sie der Welt." (Erster Absatz der Unabhängigkeitserklärung von 1948)

Aliyah - per aspera ad astra

"Aliyah" ist der offizielle Terminus für die jüdische Immigration nach Israel und bedeutet Aufstieg, was wiederum die Erlangung nationaler Souveränität bedeutet. Suggeriert ist freilich auch die These Theodor Herzls, daß Juden ihre staatsbürgerliche Identität nur im Staat der Juden zu erlangen vermögen. Mehr als bloße Einwanderung ist Aliyah ein institutionell verstetigter Prozeß, der durch andere Maßnahmen flankiert wird. Zu denen zählt das "Birthright Israel Programme", das - vom früheren Justizminister Jossi Beilin initiiert - als eine Art zionistisches Besuchsprogramm für Jugendliche aus der Diaspora fungiert. Ausgemachtes Ziel ist es, über die nächsten fünf Jahre 50.000 junge Menschen nach Israel einzuladen, um deren jüdische Identität zu stärken. Letztlich soll diese Zahl pro Jahr erreicht werden.2 Zur Aliyah liegen folgende Zahlen vor: Von 1948 bis Ende 2000 sind per Aliyah 2.850.444 Personen nach Israel eingewandert. Nach Herkunftsregionen geordnet ergibt sich folgendes Bild: Die mit 1.073.012 Personen größte Einwanderung erfolgte aus der Sowjetunion bzw. aus deren Nachfolgestaaten, gefolgt von 109.618 Einwanderern aus Nordamerika, 66.325 aus Frankreich und 59.307 sephardischen Juden aus Äthiopien.3 Was diese Zahlen besagen, ergibt sich, wenn man sie in den Kontext der israelischen Binnenstatistik stellt. 1998 hatte Israel 6.041.400 Einwohner. Davon waren 4.785.000 Juden (oder 79,2%), 900.100 Mohammedaner (14,9%), 350.400 andere (5,8%, hauptsächlich Christen und Drusen).4 Bis zum März 2000 lebten 203.000 der hier genannten jüdischen Staatsbürger in 130 Siedlungen außerhalb der grünen Linie (der vor dem Sechs-Tage-Krieg bestehenden Grenze).5 Seit Unterzeichnung der Oslo-Verträge - die, nota bene, auf eine endgültige Regelung der beiderseitigen Beziehungen abzielten - hat der Siedlungsbau um 50% zugenommen, insbesondere unter Barak.6 Interessant ist, daß die Zahl der per Aliyah Immigrierten weit größer ist als die Zahl der heute in Israel lebenden Nichtjuden; allein die Aliyah aus der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten übertrifft die Anzahl der israelischen Mohammedaner (nicht zu verwechseln mit den israelischen Palästinensern, unter denen es auch eine christliche Minderheit gibt). Die Zahlen sind jedoch trügerisch, denn sie zeichnen ein statisches Bild. Setzt man sie jedoch in den Kontext der Aliyah-Politik, läßt sich ihnen die Absicht entnehmen, die jüdische Mehrheit in Israel prospektiv auszubauen und eine ethnische Verschiebung zugunsten der nichtjüdischen Araber zu verhindern. Dafür spricht auch der organisatorische Ehrgeiz: Die Immigration kann dabei durchaus den Charakter logistisch anspruchsvoller Großoperationen annehmen, wie im Falle der Unternehmung "Fliegender Teppich", die unmittelbar nach der Staatsgründung jemenitische Juden per Luftbrücke ins Land brachte, oder der Operation "Moses" in Äthiopien/Sudan 1984. Fragt man nach dem politischen Integrationseffekt der Aliyah, so muß man zwischen den verschiedenen Immigrationsströmen differenzieren: Die exsowjetische Bevölkerungsgruppe ist mit einem 13%igen Einwohneranteil7 so groß, daß sich fragen läßt, ob sie überhaupt auf hebräisch als Nationalsprache "verpflichtet" werden kann. Der gegenteilige Verdacht speist sich auch aus der Tatsache, daß sie sich politisch über zwei russische Einwanderungsparteien artikuliert, die - eindeutig im rechten Lager verortet - als "Königsmacher" wichtig sind: yisrael bÂ’aliya des früheren sowjetischen Bürgerrechtlers Nathan Sharanski und - noch weiter rechts, genauer gesagt rechtsextrem - yisrael beiteinu ("nasch dom israel", in die Sprache der alten Heimat übersetzt) des früheren Sekretärs von Netanjahu Avigdor Liebermann, einem Hardliner nahe den militanten Kahane-Aktivisten (dessen antiarabische Einstellung ihn jedoch nicht - zumindest in ruhigeren Zeiten - vom kulinarischen Genuß arabischer Restaurants abhält, wie der Autor persönlich feststellen konnte). Die zweitstärkste Aliyah-Gruppe, die aus Nordamerika, dürfte sich eher vom Gedanken der Identitätswahrung, von religiösen Motiven bzw. dem zionistischen der "Rückkehr in die Heimat" leiten lassen als von dem der Verbesserung ihrer Lebensbedingungen (im Unterschied also zu vielen Russen und nichtpalästinensischen Sephardim). Tatsache ist aber, daß amerikanische Juden unter den rassistischen Siedleraktivisten einen "Aktivposten" darstellen: Meir Kahane, der Gründer der militanten Kach-Bewegung, hat zeit seines Lebens in den USA für die Aliyah und das nötige Geld geworben. Er hat im Brooklyner Viertel Bensonhurst z.B. Baruch Goldstein für seine Siedlungspläne begeistern können, welcher dann samt Eltern und Geschwistern in die West Bank zog, in Kiryat Arba nahe Hebron siedelte, bis er schließlich das Massaker an 29 Mohammedanern am Grab der Patriarchen verübte. Die in Israel verbotene Kach-Partei Kahanes, ihre Nachfolgerbewegung "Kahane Chai" seines Ende letzten Jahres von Palästinensern ermordeten Sohnes Binjamin ZeÂ’ev, der Terror des vermutlich von Kiryat Arba aus agierenden "Committee for Safety on the Roads" sowie die politischen und medientechnischen Aktivitäten des zwischen Israel und den Vereinigten Staaten pendelnden amerikanischen Kahanisten Michael Guzofsky machen die Rede von einer "amerikanischen Zelle" (Nadav Shragai) des Siedlerterrors glaubhaft.8 Obwohl man sagen kann, daß die Zuwanderung per Aliyah ein politischer Erfolg der linkszionistischen Staatsgründer war und sie immer die Unterstützung der Arbeitspartei hatte, konnte die zionistische Linke kaum Anhänger aus den Reihen der Immigranten gewinnen. Der sowjetische Einwanderungsstrom der 1970er Jahre enttäuschte die mit ihm verbundene zionistische Hoffnung. Anders als erwartet stärkte er nicht den Sozialismus in Israel, sondern die rechte Flanke und die politische Trägheit. Die sich politisch artikulierende, "bürgerrechtliche" Fraktion der exsowjetischen Aliyah hatte das bieder-gefährliche Freund-Feind-Bild des Antikommunisten Ronald Reagan im Kopf9, das sie dann im Umgang mit den Palästinensern reaktivieren konnte. Die Mehrheit hingegen tut das, was sie schon in ihrem Herkunftsland tat: Sie schweigt und nimmt vorwiegend Interesse an der eigenen materiellen Sicherheit.10 Auch die sephardischen Juden, die sich in der israelischen Gesellschaft benachteiligt sahen (was sie den Zionisten anrechneten), sich aber auch kulturell und weltanschaulich deutlich vom europäisch geprägten Zionismus und seinen normativen Leitvorstellungen unterscheiden, mißtrauten Labour und orientieren sich heute zu bedeutenden Teilen an der Shas-Partei. Letztere hat sich zu einer politisch einflußreichen Bewegung (mit sozial-karitativen Zügen) entwickelt, ohne die in Israel wenig zu machen ist. Darüber hinaus kommt ihrem geistigen Führer, Rabbi Ovadia Josef, die Rolle einer grauen Eminenz zu, deren Billigung (wie im Falle des Gebietsverzichts) man braucht und deren Verdikte (etwa der Vergleich von Palästinensern mit Schlangen wie auch die Rechtfertigung des Massenmords an den Juden durch die Nazis als göttliches Strafurteil) man fürchten muß.11 Bemerkenswerterweise hatten palästinensische Politiker sowohl mit den arabischen Juden als auch mit der Shas-Bewegung politische Hoffnungen verbunden, die sich gegen das zionistische Staatsprojekt richteten.12 Einerseits hatten sie geglaubt, die arabischen Juden dem panarabischen Nationalismus zuschlagen zu können, soweit der sich nicht konfessionell, also islamisch versteht, sondern die Verschiedenheit der Glaubensrichtungen toleriert und politisch integriert. Als Beleg für die Stimmigkeit der These einer kulturellen Nähe der arabischen Juden zu den übrigen Arabern hätten sie Ben Gurion zitieren können: Amerika müsse sich, so sagte er einst, so verhalten, "als ob wir in Siam wären. Zu ihnen (d.h. den Arabern) haben wir keinen Bezug; unsere Art zu handeln, unsere Kultur, all unsere Bezüge entstammen nicht dieser Region. Mit ihnen (d.h. den Arabern) verbindet uns nichts." 13 Arafat hat diese Strategie einer innerarabisch-palästinensischen Identitätsbildung tatsächlich praktiziert, und zwar im Falle der in Nablus ansässigen Samariter, einer von der Orthodoxie als häretisch abgelehnten jüdischen Gemeinde. Von seiner panarabischen Überzeugung ausgehend, vertrat er in den siebziger Jahren auch die These einer de facto-Mehrheit der Araber in Israel - weil er die arabischen Juden dem arabischen Bevölkerungsteil zuschlug. Mit der Shas-Bewegung andererseits sahen Arafat und seine Anhänger die gesellschaftlich diskriminierten Sephardim auf dem Weg einer kulturellen und sozialen Selbstfindung jenseits des Zionismus und dessen europäisch-nationalstaatlichem Selbstverständnis. Diese Hoffnungen auf ein konfessionsübergreifendes antizionistisches, wiewohl nicht antijüdisches Selbstverständnis haben sich, spätestens mit Ovadias Josefs Schlangenurteil, zerschlagen.

Die Flüchtlinge

Dem zionistischen Rückkehrgesetz steht das von palästinensischer Seite eingeklagte Recht auf Rückkehr gegenüber. Es betrifft jene Palästinenser und deren Nachkommen, die ihre jetzt in Israel befindlichen Wohnorte während und infolge der Kriege hatten verlassen müssen. Beide Rechtsvorstellungen sind offensichtlich schon deshalb nicht miteinander vereinbar, weil die knappen Lebensressourcen dieser Region deren beiderseitige Realisierung zum Scheitern verurteilt, was natürlich die jeweilige Seite weiß. Karg und elend hingegen sind jene Ressourcen, mit denen vorlieb zu nehmen die Flüchtlinge statt dessen verdammt sind. 1949 umfaßte die palästinensische Bevölkerung 1.380.000 Menschen, davon 730.000 Flüchtlinge. Mittlerweile sind zur ersten Flüchtlingsgeneration eine zweite und dritte hinzugekommen. Ein Bevölkerungswachstum, das zu den höchsten der Welt zählt, hat deren Zahl zumindest vervierfacht.14 Der von der UNO für die Belange dieser Personen eingesetzten United Nations Relief and Works Agency (UNRWA) zufolge beträgt die Bevölkerung heute etwa 3,7 Millionen. In der West Bank lebten 1997 1.873.476 Palästinenser, im Gazastreifen 1.022.207, womit deren Gesamtzahl 2.895.683 betrug.15 Einbeschlossen in diese Zahlen sind die dort lebenden Flüchtlinge. UNWRA definiert "palästinensischer Flüchtling" als Person, die in Palästina mindestens zwei Jahre vor dem Mai 1948 (Gründungsmonat des Staates Israel) ihren Wohnsitz hatte, diesen und ihre (übrigen) Subsistenzmittel dann infolge des Krieges 1948/49 verlor und jetzt im Gazastreifen, in der West Bank, in Jordanien, in Syrien oder im Libanon lebt. In der West Bank leben 580.000 palästinensische Flüchtlinge, ein Viertel von ihnen in 19 Lagern. 80% der Einwohner des Gazastreifens sind Flüchtlinge, im ganzen 818.000 Personen. Das sind 22% der Flüchtlinge überhaupt. Der größte Teil der Gaza-Flüchtlinge sind Familien oder deren Nachkommen, die 1948 aus Jaffa und der Gegend südlich davon geflohen sind. Nahezu die Hälfte von ihnen, 440.000 Menschen, leben in acht völlig überfüllten Flüchtlingslagern, so z.B. 74.000 Flüchtlinge im Shati-Camp, zusammengepfercht auf einem Gebiet von weniger als einem Quadratkilometer (pro Person also weniger als 13,5 Quadratmeter). Die jährliche Geburtenrate im Gazastreifen beträgt nicht weniger als 5%, die Mortalitätsrate 0,5%, die durchschnittliche Anzahl der Geburten pro Frau 7,5, und die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 15 Jahre. Im Jahre 2020 werden im Gazastreifen 2,5 Millionen Menschen leben und pro Quadratkilometer 7.000 - die höchste Bevölkerungskonzentration in der Welt. Mit der Wasserversorgung findet im Gazastreifen ein für die ganze Region auch in politischem Sinne wesentliches Problem seine Zuspitzung. Seit 1948 hat sich die Bevölkerung des Gazastreifens bei gleichbleibenden Wasserressourcen um mehr als das Zwanzigfache erhöht. Sie lebt - bei extrem reduziertem Verbrauch - von der Substanz: Die permanente Übernutzung hat ein jährliches Absinken des Grundwasserspiegels um 15 bis 20 Zentimeter sowie den Zufluß von Meer- und Drainagewasser zur Folge. Letzteres wiederum bewirkt eine erhöhte Nitratbelastung des Trinkwassers.16 Insbesondere von israelischer Seite ergeht der Vorwurf, die palästinensische Autonomiebehörde tue aus ideologischen Gründen zu wenig für die Flüchtlinge: Oberste Priorität habe der Flüchtlingsstatus, jede Verbesserung der Lebenslage, die den Eindruck erweckt, eine neue Bleibe gefunden zu haben, müsse vermieden werden.17 Noch schlechter als denen in Gaza geht es den im Libanon lebenden Flüchtlingen. Deren Zahl beträgt der UNRWA zufolge 376.000, was israelische Experten bezweifeln. Sie vermuten 250.000 bis 300.000 Flüchtlinge. Wie auch immer, der größte Teil von ihnen stammt aus Familien, die 1948 aus Haifa und Galiläa geflohen waren. Aufgrund der Befürchtung der libanesischen Regierung, andernfalls das ethnisch-religiöse Gleichgewicht zu verlieren, wurden nur 25% von ihnen eingebürgert. Die Mehrzahl der Flüchtlinge lebt in 12 Lagern. Sie dürfen keine Verwaltungstätigkeiten ausüben. Darüber hinaus sind ihnen viele Berufe verwehrt, insbesondere solche, die akademische Ausbildung erfordern. Sie haben weder Zugang zum staatlichen Bildungs- und Gesundheitssystem noch zur Sozialversicherung. In Syrien leben laut UNRWA 378.000 Flüchtlinge, die vornehmlich aus Haifa und Safed stammen, einige aber auch aus Jaffa. Etwa 110.000 von ihnen sind in 12 Lagern untergebracht. Den Flüchtlingen in Syrien wird das Recht auf Arbeit und Bildung gewährt, auch hilft die Regierung beim Unterhalt der Lager. Andererseits ist ihnen die syrische Staatsbürgerschaft versagt, und ihre Beschäftigung im Verwaltungssektor unterliegt Beschränkungen. Besser geht es den 1.700.000 in Jordanien lebenden Flüchtlingen, von denen 200.000 als "displaced persons" gelten, das sind Palästinenser, welche die West Bank 1967 infolge der Niederlage der Jordanier verlassen mußten. Etwa 280.000 Flüchtlinge leben in 13 Lagern. Die Mehrheit der dortigen Flüchtlinge besitzt die jordanische Staatsbürgerschaft und ist ins gesellschaftliche und Wirtschaftsleben des Landes integriert. Auch in Israel gibt es palästinensische Flüchtlinge. Das sind Menschen, die 1948 ihre Häuser, Dörfer und Städte verlassen mußten, jedoch innerhalb der grünen Linie blieben und die israelische Staatsbürgerschaft erhielten. Die israelische Verwaltung nennt sie "present absentees", derzeitig Abwesende - eine Bezeichnung, die von den Betroffenen als verwaltungstechnische Kaschierung ihres Flüchtlingsstatus angesehen wird. Sie haben sich zum National Council for the Defense of the Rights of Displaced Persons in Israel zusammengeschlossen, der nach eigenen Angaben schätzungsweise 250.000 Personen repräsentiert. Die Existenz palästinensischer Flüchtlinge in Israel stellt ein intrikates politisches Problem für das Land dar, insbesondere für die israelische Linke: Hatte diese doch mit der Umsetzung des Oslo-Prozesses die Hoffnung auf eine entgültige Beilegung der Streitigkeiten zwischen Juden und Palästinensern verbunden. Die Forderungen der israelischen Flüchtlinge haben den Charakter über Oslo hinausgehender Ansprüche, weil sie allein schon durch israelisches Recht legitimiert sind: Als Bürger Israels sind diese Flüchtlinge berechtigt, ihren Wohnort frei zu wählen, was in ihrem Falle heißt, wieder dort wohnen zu dürfen, von wo sie einst fliehen mußten. Verschärfend kommt hinzu, daß sie sich - gleich den nichtisraelischen Flüchtlingen - in ihrer Forderung nach Rückkehr auch auf internationale Resolutionen zur Flüchtlingsfrage berufen können - was unter beiden Flüchtlingsgruppen den Eindruck stärkt, gemeinsame Interessen zu vertreten.

Der Streit um den Flüchtlingsstatus - Camp David und Taba

Völkerrechtlich glauben die Flüchtlinge, sich auf verschiedene internationale Deklarationen, unter anderem die UN-Resolutionen 194 und 242, stützen zu können. Die nach dem Ende des Unabhängigkeitskriegs von 1948 von der UN-Vollversammlung am 11. Dezember 1948 angenommene Resolution 194 besagt in § 11, daß dem Wunsch der Flüchtlinge nach Rückkehr in ihre Heimat und friedlichem Zusammenleben mit ihren Nachbarn zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu entsprechen sei. Entschädigung solle geleistet werden für erlittene materielle Verluste sowie für den Fall, daß das Recht auf Rückkehr nicht in Anspruch genommen wird. Konfrontiert mit den Resultaten des Sechs-Tage-Krieges betont der UN-Sicherheitsrat in seiner Resolution 242 vom 22. November 1967 dann die Unstatthaftigkeit des Kriegserwerbs von Land, fordert (in § 1a) den Rückzug der israelischen Streitkräfte aus den eroberten Territorien, unterstreicht die Souveränität, territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit eines jeden Staates der Region (§ 1b) sowie die Notwendigkeit der Klärung des Flüchtlingsproblems (§ 2b). Während die Palästinenser somit das Völkerrecht auf ihrer Seite zu haben glauben, lehnt Israel im Gegenzug jede Verantwortlichkeit ab, insbesondere jene, die sich mit § 11 der Resolution 194 verbindet.18 Israel hält dem entgegen, nicht der Aggressor im Unabhängigkeitskrieg gewesen und folglich kein Adressat von Ansprüchen zu sein. Des weiteren seien die Erwartungen irreal, weil es nicht der Wunsch der Flüchtlinge sei, mit ihren Nachbarn friedlich zusammenzuleben. Schließlich wird geltend gemacht, daß den Resolutionen der Vollversammlungen keine bindende Kraft zukommt, was den Beschluß 194 meint, nicht aber den Beschluß 242. Allerdings hatte Israel auf der Konferenz von Lausanne im Jahre 1949 die Aufnahme von 100.000 Flüchtlingen (15% aller damals Geflohenen) zugestanden. Diese nur auf amerikanischen Druck hin erfolgte Konzession blieb aber ohne Konsequenzen, weil sie den Arabern nicht weit genug ging. In den folgenden Jahren sind dann ca. 30.000 Palästinenser auf humanitärer Basis zurückgekehrt.19 Letztlich, also im Rahmen des Oslo-Prozesses, hat sich Israel dann bereit erklärt, an der Lösung des Flüchtlingsproblems mitzuarbeiten. Daß Einvernehmen darüber bestand, dies zu einem der Themen der Verhandlungen über den Finalstatus zu machen, legte die Vermutung nahe, daß auch für den israelischen Staat eine permanente Regelung der Beziehungen zwischen Israel und Palästina von der Lösung dieser Frage abhing und Israel dabei seinen Beitrag zu leisten hatte. Warum aber auch in diesem Punkt die Verhandlungen scheiterten, was genau in Camp David diese Frage betreffend geschah, scheint sich mittlerweile im Ansatz rekonstruieren zu lassen.20 Barak hatte ein Verhandlungspaket vorgelegt, das in der Flüchtlingsfrage minimale Konzessionen von israelischer Seite beinhaltete, jedoch maximale von palästinensischer. Israels Konzessionen hätten darin bestanden, einigen außerhalb der Grenzen von 1967 lebenden Flüchtlingen, keinesfalls aber mehr als 10.000 Personen, die Rückkehr zu gestatten. Es bestand darauf, diese Maßnahme nach eigenem Ermessen und auf humanitärer Basis zu realisieren. Keinesfalls sollte der Eindruck entstehen, Israel sei völkerrechtlich verpflichtet und handele im Sinne einer Wiedergutmachung aufgrund eigener Schuld. Barak hatte geglaubt, Arafat zu dieser für ihn maximalen Konzession bewegen zu können, weil ihm im Austausch dazu - aus israelischer Sicht - maximale Konzessionen von seiten Israels angeboten wurden. Zugestanden werden sollte den Palästinensern 89% des von Israel besetzten Territoriums. 11% wären bei Israel geblieben. Somit ist klar, daß Israel in Camp David in bezug auf die Flüchtlings- und Territorialfrage keinen Gesinnungswandel vollzogen hatte. Die Palästinenser sollten letztlich dazu bewegt werden, das Flüchtlingsthema überhaupt zu den Akten zu legen. Um dies zu erreichen, wurde - im Paket - das 89-11-Angebot unterbreitet. Klar ist damit auch, daß Israel nach wie vor nicht nur die Resolution 194 für irrelevant hielt, sondern auch die Sicherheitsratsresolution 242, insofern diese ja den Rückzug aus den 1967 eroberten Gebieten verlangt. Die Palästinenser hatten nicht nur prinzipielle, ihrem Festhalten an den UN-Resolutionen geschuldete Schwierigkeiten, sondern auch - was Baraks Maximalkonzession betraf - Probleme mit den Angeboten im Detail. Dessen 89%-Offerte sei für Arafat nicht akzeptabel gewesen, weil es, so wird von verschiedenen Seiten21 argumentiert, de facto die Teilung der West Bank in drei quasi-Kantone oder "security cages" vorsah, deren Grenzen von Israel kontrolliert worden wären. Palästina wäre die Kontrolle über seine Hauptverkehrswege, das Jordantal und seine Außengrenzen versagt geblieben. Der palästinensische Staat hätte also kein innenpolitisches Leben ohne Einflußnahme Israels.22 Zur Flüchtlingsfrage gab es dann doch noch einen Lichtstreif am mittlerweile verdunkelten Horizont. Die im Januar 2001 im ägyptischen Taba ohne amerikanische Vermittlung zwischen Palästinensern und Israelis erzielten Forschritte beinhalteten eine Einigung über mehrere Prinzipien.23 Die Flüchtlinge sollten erstens zwischen fünf verschiedenen Integrationsoptionen wählen können: Einbürgerung an ihrem bisherigen Wohnort oder im neu zu schaffenden Staat Palästina, Umsiedlung nach Haluza im südlichen Negev, Immigration in Fremdstaaten (z.B. Kanada) und Übersiedlung nach Israel, das sich, zweitens, bereit erklärte oder möglicherweise bereit erklärt hätte, bis zu 40.000 Personen - nach eigenem Ermessen - im Laufe von fünf Jahren aufzunehmen (das Vierfache der bisher für verkraftbar gehaltenen Anzahl). Drittens wäre mit der Annahme einer dieser Optionen automatisch die Aufgabe des Flüchtlingsstatus verbunden. Viertens sei eine internationale Körperschaft zu bilden, welche die entsprechenden Maßnahmen durchzuführen hätte, einschließlich der Zahlung von Kompensationen. Offensichtlich war von palästinensischer Seite mit dieser Übereinkunft das Rückkehrrecht nicht preisgegeben. Vermutet wird, daß sich dies Arafat in weiteren, Gebietsfragen betreffenden Verhandlungen abkaufen lassen wollte. Zu denen kam es dann nicht mehr: Clinton packte die Koffer, Barak war auf dem Weg zur Wahlniederlage und das öffentliche Klima beiderseits der Konfliktlinie ohnehin umgeschlagen. - Wozu die Anekdote paßt, daß der palästinensische Unterhändler Abu Ala nach Ende der Konferenz die Veröffentlichung der Verhandlungsresultate mit dem Hinweis ablehnte, dies würde die ohnehin geringen Wahlchancen Baraks noch weiter schmälern. Eigenartigerweise war Barak also noch dann der Strohhalm, als klar sein mußte, daß er zerbrochen war.24

Ausblick

Die zweite Intifada und der seit ihrem Ausbrechen wechselweise praktizierte Terror, der Zusammenbruch des Oslo-Prozesses, den beides ratifiziert - dies alles wird zu Recht als Zäsur verstanden. Die Anzahl der Toten, darunter Jugendliche und Kinder, ist enorm. Folglich wächst der Haß, der im anderen unterschiedslos den Feind sieht. So sprachen sich in einer im Juni gemachten Umfrage mehr als 68% der Palästinenser für Selbstmordattentate als einer legitimen Antwort auf die gegenwärtige politische Situation aus (63% in der West Bank und 78% im Gazastreifen).25 Allerdings läßt sich dem ein von Selbstgewißheit getragener Kampfeswille nicht entnehmen. So glaubten mehr als 27%, der Friedensprozeß sei beendet, über 50% jedoch waren der Meinung, er durchlaufe eine komplizierte Phase mit unklarer Zukunft. 41% forderten die Befreiung ganz Palästinas, 45% befürworteten ein Ende der Besatzung auf Basis der UN-Resolution 242. Im Gegenzug befürworteten 46% aller Israelis einen massiven Militärschlag gegen die Palästinensische Autonomiebehörde, 30% plädierten für die Fortsetzung der gegenwärtigen Politik und 24% hatten keine Meinung oder wollten sich nicht äußern. Das heißt, öffentliche Befürworter des Oslo-Prozesses bzw. einer nicht primär auf Abschreckung setzenden israelischen Position gibt es dieser von MaÂ’ariv im Juli durchgeführten Umfrage zufolge anscheinend nicht mehr.26 Der politische Konflikt führt auch zur Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation, vertieft bestehende Negativtrends: Im März haben 10,7% aller palästinensischen Privathaushalte in der West Bank und im Gazastreifen ihr Einkommen durch die Intifada verloren, im Juni 14,2%. Insgesamt betrifft der Einkommensverlust 74.200 Haushalte. Am schlechtesten geht es den Flüchtlingen, von denen mittlerweile 76,2% unter der Armutsgrenze leben.27 Chronisch ist auch die wachsende Armut in Israel. Bereits 1999 stieg die Anzahl der unter der Armutsgrenze Lebenden um 8,9%, der in Armut lebenden Kinder um 16%. Die neuesten Zahlen weisen für Juli 2001 einen Anstieg der Arbeitslosigkeit um 3,4% aus, geschuldet der Abschwächung der Weltwirtschaft, dem Abschwung im Hochtechnologiesektor wie in traditionellen Produktionsbereichen - aber auch der Intifada.28 Unter wirtschaftlichen Problemen leiden insbesondere israelische Araber. Dreimal so viele arabische wie jüdische Israelis leben unterhalb der Armutsgrenze, sowie die Hälfte der arabischen Kinder.29 Die vierzehn am stärksten von der Arbeitslosigkeit betroffenen israelischen Kommunen sind arabische Städte.30 Es gibt jedoch Trends, die von den Ereignissen weniger affiziert scheinen. So hat das "Birthright Israel Programme", entgegen allen Befürchtungen, keine nennenswerten Einbußen zu verzeichnen. Von Beginn der sogenannten Al-Aqsa-Intifada bis zum Januar 2001 konnten 80% der ursprünglich anvisierten 10.000 Besucher in Israel registriert werden.31 Zwar sank auch die Anzahl der per Aliyah Immigrierten in den ersten fünf Monaten dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahr geringfügig: Kamen im letzten Jahr pro Monat durchschnittlich 4.820 Personen unter der Legitimation des Rückkehrgesetzes nach Israel, so waren es von Januar bis Mai dieses Jahres im Durchschnitt 3.230.32 Die Verminderung mag auch den politischen Umständen zu schulden sein, aber nicht nur. Die bisherigen Quellen der Einwanderung der letzten Zeit - die Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion und Äthiopien - seien, so der Vorsitzende der Jewish Agency, Salai Meridor, nahezu aufgebraucht. Um den Charakter Israels als des Staats der Juden legitimationspraktisch zu sichern, sei eine achtzigprozentige Bevölkerungsmehrheit zu garantieren, und dies erfordere einen jährlichen Zuzug von 40.000 Personen.33 - Das Problem ist offensichtlich chronisch. Was zu tun wäre, glaubt Benjamin Netanyahu zu wissen. Netanyahu wittert ohnehin - angesichts der von Sharon nicht eingelösten Sicherheitsversprechen - wieder Morgenluft und zeigt sich spätestens seit dem letzten Likud-Parteitag überzeugt, die Hardliner in Regierung und Likud gegen Sharon ins Feld führen zu können. Netanyahu also meint herausgefunden zu haben, daß der größte Teil der heute zwischen Jordanfluß und Mittelmeer lebenden Palästinenser Nachkommen von Fremdarbeitern sind, die vor hundert Jahren vom zionistischen Wirtschaftsboom allererst angelockt worden waren. Diese Sicht der Dinge macht, wie Akiva Eldar schreibt, das Leben leichter: Gastarbeiter kann man, statt ihnen ein Recht auf Land zugestehen zu müssen, wieder nach Hause schicken.34 Die Geschichte ist natürlich Unsinn. Das ist ihr Haken, den Netanyahu natürlich nicht fürchtet, weil er mit ihr das Recht des Stärkeren populistisch reklamiert und Sharon abspricht. Zu diesem Zweck muß er letzteren beim Wort nehmen und kann das auch. Ende 2000 hatte Sharon in einem Zeitschriftenartikel die Landakquisition im Negev durch die Beduinen angeprangert, ein Szenario entworfen, dem zufolge Beduinen und Palästinenser systematisch einen Landstrich nach dem anderen an sich reißen - und zur Umkehr unter Einschluß einer massiven, offensichtlich militärischen, Operation gemahnt.35 In der Tat nehmen gegenwärtig die Spannungen zwischen Beduinen und der israelischen Regierung zu36, und so kann es sein, daß Scharons Menetekel auf eine weitere Frontlinie weist. Professor Arnon Sofer von der Universität Haifa bringt das Problem auf den demographischen Punkt: Vor dem außen- und sicherheitspolitischen Ausschuß der Knesset äußerte er kürzlich die Befürchtung, daß sich in 19 Jahren die westlich des Jordanflusses lebende jüdische Bevölkerung in der Minderheit befinden werde. 15,2 Millionen Menschen werden dann zwischen Mittelmeer und Jordanufer leben, 58% davon Araber und 42% Juden. Innerhalb der grünen Linie sei mit einer Population von 6,4 Millionen zu rechnen, wobei der Anteil der Juden 68% betragen werde. Hintergrund seiner Prognose sind unterschiedliche Wachstumsraten der jüdischen und arabischen Bevölkerung. Insgesamt liege das Bevölkerungswachstum bei 3,5%, im Gazastreifen jedoch wachse die Population jährlich um 4,5-5%, die Zuwachsrate bei den Beduinen betrage 4%. Professor Sofer ist besorgt: Bewältige man diese Problem nicht, dann "ist es in 17 Jahren mit unserem Lande vorbei, und es folgt der Zusammenbruch".37 Diese Katastrophe, sollte sie eintreten, wäre dann aber nicht nur den Palästinensern geschuldet, sondern auch den Israelis zur Last zu legen - die Kontinuität ihrer bisherigen Politik vorausgesetzt. (Manuskriptabschluß: 8. September 2001) Anmerkungen 1 "Sharon is Sharon is Sharon", Interview mit Ariel Sharon, HaÂ’Aretz Magazine 12.04.2001 2 Tamar Hausman, "Birthright booms as terror sinks tourism", HaÂ’Aretz 26.01.2001. 3 World Zionist Organization, Hagshama Department, Aliyah Statistics. 4 Israel in figures 1999, The Central Bureau of Statistics, p. 4. 5 Americans for Peace Now, March 30, 2001. 6 Eetta Prince-Gibson, "If they build it, who will come?", The Jerusalem Post 28.06.2001. Andere sprechen von einer Verdopplung: "Der Nahe Osten im Jahr 2000: Das Pulverfass vor der Explosion", taz 04.01.2001. Im Jahr 2000 wurde mit dem Bau von 1.973 Wohnungen jenseits der grünen Linie begonnen, seit 1992 die größte Zahl von Neubauten - womit Barak der größte Siedlungsbauer seit 1992 ist (Nadav Shragai, "Barak was biggest settlement builder since Â’92", HaÂ’Aretz 27.02.2001). Unter Barak wurden 30% mehr Straßen und Siedlungen gebaut als unter Netanyahu (Gershon Baskin, "What went wrong? Oslo - The PLO (PA) - Israel - Some Additional Facts", IPCRI, Israel/Palestine Center for Research and Information). 7 "Immigrants from former Soviet Union now 13% of population", HaÂ’Aretz update 29.08.2001. 8 Zur "amerikanischen Zelle" siehe Shlomo Shamir, "Kahane organization still thriving in Brooklyn", HaÂ’Aretz 01.01.2001; Nadav Shragai, "It is difficult to predict acts by a lone extremist", HaÂ’Aretz 11.11.1996; Dean E. Murphy, "Terror Label No Hindrance to Anti-Arab Jewish Group", New York Times 19.12.2000; "Terrorism and Fundraising", The Washington Post 22.12. 2000; Richard Lacayo, "The making of a murderous fanatic", Time 07.03.1997, vol. 143, no. 10. 9 Yair Sheleg, "The Russian egg and the Israeli chicken (or vice versa)", HaÂ’Aretz 24.09.1999; und Ina Shapiro, "Left to themselves, the Russians turned right", HaÂ’Aretz 16.04.1999. 10 Professor Eli Leshem von der Hebrew University School of Social Work hat auf dem Treffen "Trends in Separation and Unity in Modern Jewish Society", das im September 1999 in der Nähe Moskaus stattgefunden hatte, Familienzusammenführung, Sorge um die Zukunft der Kinder sowie wirtschaftliche und politische Instabilität der Herkunftsländer als Hauptgründe der gegenwärtigen exsowjetischen Aliyah genannt. Siehe: Avirama Golan, "Moscow does not believe in Zionism", HaÂ’Aretz 24.09.1999. 11 Usprünglich wurde die Option "Land gegen Frieden" von Ovadia Josef nicht prinzipiell verworfen. Am 5. August 2000 aber predigt er gegen Barak und den Friedensprozeß und greift in diesem Zusammenhang die Araber an: "Warum bringst Du (Barak) sie (die Araber) zu uns? Du bringst uns Schlangen. Wie kannst Du mit einer Schlange Frieden schließen?" Ovadia Josefs verstiegene Bemerkungen zum Holocaust finden sich in der gleichen Predigt: Die im Holocaust umgekommenen Juden seien "wiedergeborene Seelen" gewesen, "die immer wieder gesündigt, all das getan hatten, was sie nicht hätten tun dürfen, und wiedergeboren wurden, um die Ordnung wiederherzustellen". "Jews and Arabs denounce YosefÂ’s sermon", HaÂ’Aretz 07.08. 2000. Diese eigenartige Bezugnahme auf die Wiedergeburtslehre des obergaliläischen Mystikers Isaak Luria zielt offensichtlich gegen das aschkenasisch-zionistische Traditionsverständnis. 12 Danny Rubinstein, "The ‚Jewish Arabs‘ vex the Palestinians", HaÂ’Aretz 16.04.2001. 13 Zitiert bei Aluf Benn, "Peace is not our main interest, said Ben-Gurion", HaÂ’Aretz 24.01.2001. 14 Alle Angaben in diesem Abschnitt wurden, wenn nicht anders ausgewiesen, folgender Quelle entnommen: Uriya Shavit/Jalal Bana, "Everything you wanted to know about the right to return but were too afraid to ask", HaÂ’Aretz 05.07.2001. 15 Palestine National Authority, Palestinian Central Bureau of Statistics, Population, Housing, and Establishment Census - 1997, Table 1.xls. 16 Klaus Polkehn, "Das Wasser und die Palästinafrage", Marxistische Blätter 4/2001. 17 ZeÂ’ev Schiff, "More on the Palestinian right of return", HaÂ’Aretz 03.01.2001. 18 Aluf Benn, "Peace is not our main interest, said Ben-Gurion" (Anm. 13); Uriya Shavit/Jalal Bana, "Every thing you wanted to know Â…" (Anm. 14); Aluf Benn, "Resolution 194 may be the key to Palestinian refugee problem", HaÂ’Aretz 25.12.2000. 19 Uriya Shavit/Jalal Bana, "Everything you wanted to know Â…" (Anm. 14). 20 Instruktiv hierbei ist der Bericht, den Robert Malley, einer der Nahost-Berater Clintons und Teilnehmer am Treffen von Camp David, vor kurzem gegeben hat. Clinton ist, Malley zufolge, deshalb gescheitert, weil er - angesichts der Finalstatusverhandlungen - der Komplexität des israelisch-amerikanischen Beziehungsgeflechts nicht gewachsen war. Clinton hätte der seriöse Vermittler zwischen Barak und Arafat sein sollen. Dies aber stand im Widerspruch zu den politischen und kulturellen Verwandtschaftsbeziehungen, welche die Vereinigten Staaten traditionell mit Israel pflegen. Mehr noch tangierte das "strategische Verhältnis" zu Israel diese Rolle. Dieses nimmt traditionell die USA in die Pflicht, Israel im Vorfeld von Verhandlungen mit Dritten über eigene Absichten und Pläne nicht im Unklaren zu lassen ("no-surprise rule"). Die Schuld, taktische Fehler begangen zu haben, trifft in den Augen Malleys eher Barak, der vertrauensbildende Maßnahmen im Vorfeld von Camp David unterließ, statt dessen Siedlungsbau betrieb und die Umsetzung bereits vereinbarter Maßnahmen hinauszögerte. Barak sei an der termingerechten Implementierung der Interimschritte nicht interessiert gewesen, weil er befürchtet habe, andernfalls letztlich zuviel preisgegeben zu haben, falls die Verhandlungen über den Finalstatus scheitern sollten. Deshalb habe er alles auf eine Karte gesetzt, und die hieß "Camp David". Arafat wiederum habe dieses Gebaren an der Ernsthaftigkeit der Gegenseite zweifeln lassen. Den Verdacht hegend, in Camp David in eine Falle zu laufen, habe er Frau Albright vor einem Scheitern des Gipfels gewarnt: Wenn der Gipfel jetzt nicht stattfinde und vertagt würde, bleibe wenigstens Hoffnung. Andernfalls sei das einzig absehbare Resultat, "to have everything explode in the PresidentÂ’s face". In der Szenerie, die Malley aufmacht, bietet Arafat den Part des nicht nur verunsicherten und demotivierten Unterhändlers, sondern auch des unorganisierten Delegationsleiters, der mit seinen Beratern die Angst teilt, für ein etwaiges Verhandlungsresultat zu Hause von den eigenen Leuten zur Verantwortung gezogen zu werden. Was ihnen versagte, parallel zur Ablehnung der Vorschläge Baraks, konsistente Gegenpläne zu unterbreiten. Siehe: Hussein Agha, Robert Malley, "Camp David: The Tragedy of Errors", The New York Review of Books, 09.08.2001; vgl. auch Gershon Baskin, "What went wrong? Oslo - The PLO (PA) - Israel - Some Additional Facts" (Anm. 6). 21 Die Einwände seitens der Palästinensischen Autonomiebehörde schildert Akiva Eldar: "What went wrong at Camp David - the official PLO version", HaÂ’Aretz 24.07.01. Auf seiten der israelischen Linken wird dies im wesentlichen bestätigt: Gershon Baskin, "What went wrong? Oslo - The PLO (PA) - Israel - Some Additional Facts" (Anm. 6). 22 Zur Frage einer wirklichen palästinensischen Souveränität im Zusammenhang des Osloprozesses siehe: Azmy Bishara, "4 May 1999 and Palestinian Statehood: to declare or not to declare?", Journal of Palestine Studies, Vol. XXVIII, No. 2, Winter 1999, Issue 110. 23 Akiva Eldar, "How to solve the Palestinian Refugee Problem", HaÂ’Aretz 29.05.2001. 24 Ebenda. 25 Jerusalem Media and Communication Center, Public Opinion Poll No. 41, On Palestinian Attitudes Towards Politics including the Current Intifada, June 2001. 26 The Associated Press, "Poll: Half of Israelis support full-scale attack on Palestinians", HaÂ’Aretz update 27.07.2001. Der vom Tami Steinmetz Center for Peace Research an der Universität von Tel Aviv veröffentlichte "Peace Index" zeigt für den Monat Juli eine Zustimmung von 70% der Öffentlichkeit zur Politik gezielter Personenattentate, wie sie die israelische Armee in den Palästinensergebieten praktiziert. Siehe: Ephraim Yaar, Tamar Hermann, "Peace Index: July 2001. 70% of Israeli Jews support assassination policy", HaÂ’Aretz 08.08.2001. 27 64,9% der Palästinenser im Gazastreifen und der West Bank leben unter der Armutsgrenze, im Gazastreifen 79,9%; vgl. Amira Hass, "65% of Palestinians live on less than NIS 1.642 a month", HaÂ’Aretz 24.07.2001. 28 Mazal Mualem, "Unemployment climbs 3,4% in July", HaÂ’Aretz 14.08.2001. 29 Ruth Sinai, "20 percent of Israelis live in poverty, says report", HaÂ’Aretz 20.12.200. Der betreffende Bericht wurde gemeinsam vom National Insurance Institute und dem Ministerium für Arbeit und soziale Angelegenheiten herausgegeben. 30 "Number of job seekers increases by 3.7 percent in July - to 186,402", HaÂ’Aretz 18.08.2001. 31 Tamar Hausman, "Birthright booms as terror sinks tourism" (Anm. 2). 32 Central Bureau of Statistics 2001, migration tables, table E2_e.xls. 33 Yair Sheleg, "Jewish Agency looks West for immigrants", HaÂ’Aretz 03.05.2001. 34 Akiva Eldar, "Tanks in the distance", HaÂ’Aretz 19.07. 2001. 35 Der Artikel erschien am 11.12.2000 in einer Zeitschrift namens "Karka" und wird zitiert von Hannah Kim, "Tiptoeing to victory", HaÂ’Aretz 26.01.2001. 36 Joseph Algazy, "An intifada brews in the Negev", HaÂ’Aretz 22.07.2001. 37 Gideon Alon, "Population estimates cause Knesset storm over demography", HaÂ’Aretz 17.07.2001. Dr. Veit Friemert, Philosoph, Berlin