Stoppt den Krieg!

Auch in diesem Fall ist der Einsatz von Militär keine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. .. Daher gilt die Forderung: Sofortiger Stopp der Militäroperation in Afghanistan!

Ein Erfolg im Kampf gegen die humanitäre Katastrophe in Afghanistan ist nur ohne das Taliban-Regime zu haben - mit diesem Argument kontert Außenminister Fischer den Aufruf von internationalen Organisationen zu einer Feuerpause. Kurzzeitig drohte die öffentliche Meinung zu kippen. Zumindest in Deutschland geriet der Rückhalt der Regierungskoalition in der Bevölkerung für ihre Unterstützung der militärischen Intervention in Gefahr. Teile der veröffentlichten Meinung wollten die Augen nicht mehr davor verschließen, dass die Bombardierung eines von Krieg, Bürgerkrieg und Naturkatastrophen zerstörten Landes völlig unakzeptabel ist. Mit dem Abwurf von Nahrungsmittelpaketen haben die USA und ihre Alliierten selbst faktisch die desaströse Lage der afghanischen Bevölkerung anerkannt. Auch die Führungsgremien der grünen Partei schwankten für einen kurzen politischen Augenblick, ob nicht wenigstens eine Feuerpause, die Einrichtung von Schutzzonen für die Bevölkerung und die Organisation von Ernährung und medizinischer Versorgung zwingend geboten sind, um auf Dauer im Kampf gegen das terroristische Netzwerk von bin Laden und das Taliban-Regime erfolgreich zu sein. Außenminister Fischer hat die Schwankenden in der Regierungskoalition zurechtgewiesen und auf militärische Linie gebracht: Auch die Bundesregierung sehe in der Beseitigung der humanitären Katastrophe in Afghanistan die allerdringlichste Aufgabe. Da aber das Taliban-Regime der eigentliche Urheber von Hunger, Massensterben und terroristischer Unterdrückung, besonders der Frauen, sei und zudem den Terroristen der Gruppe bin Laden Unterschlupf gewähre, gebe es zur eingeschlagenen Politik der Bombardierungen und Militäreinsätze keine wirkungsvolle Alternative. Man könne nicht auf halber Strecke stehen bleiben und den Taliban und dem terroristischen Netzwerk des Osama bin Laden eine Chance zur Neuorganisation bieten. Wenn man der entrechteten Bevölkerung dauerhaft helfen wolle, müssten auch weitere Opfer durch militärische Zerstörungen und Flucht in Kauf genommen werden.

Lassen wir uns zunächst auf diese Logik der militärischen Intervention ein. Nach einer Phase der Bombardierung setzt die Koalition gegen den Terror Bodentruppen ein, liquidiert die Führungsstruktur der Taliban, verhaftet die Attentätergruppe um bin Laden und bildet unter Vermittlung des einstigen afghanischen Monarchen eine ethnisch breit getragene Übergangsregierung, die die Reorganisation des Landes und die Demokratisierung voranbringt. In dieser Regierung ist auch die Nord-Allianz eingebunden, aber unter Verzicht auf ihre früheren hegemonialen Ansprüche. Logischerweise - so der Außenminister, der schon jetzt rastlos an der politischen Nachkriegskonzeption arbeitet - sind auch gemäßigte Taliban Bestandteil dieser Übergangsregierung, weil man diese ja nicht vollständig "vertreiben" oder "auslöschen" kann. Sofort nach Einsetzung der neuen politischen Administration wird die "Weltgemeinschaft" großzügige Hilfe für die Millionen von Flüchtlingen organisieren. Noch wichtiger ist freilich, dass die zukünftige "Regierung der nationalen Einheit" massive Hilfe zum Wiederaufbau des zerstörten Landes erhält, also Wirtschafts- und Entwicklungshilfe, ohne die eine zivilgesellschaftliche und demokratische Entwicklung nicht stattfinden wird.

Spätestens an diesem Punkte wird offenkundig: Der Kaiser ist nackt. Ähnliche Erzählungen hat uns der Außenminister bereits im Zusammenhang mit den Konflikten auf dem Balkan aufgetischt. Unter großem Getöse wurde der einstige Kanzleramtschef Hombach zum wirtschaftlichen Koordinator für den Balkan gemacht. Heute, beim Wechsel des Administrators zu einem bundesdeutschen Medienkonzern, ist die Bilanz über das Projekt eines Marshall-Plans für die Balkan-Region niederschmetternd. Warum soll in Afghanistan gelingen, was auf viel kleinerem Maßstab vor der Haustür der europäischen Gemeinschaft kläglich gescheitert ist? Die Überzeugungskraft der Argumente der Bundesregierung lässt sich wohl nur vor dem Hintergrund der Unkenntnis der gesellschaftlichen Bedingungen in Afghanistan nachvollziehen.

Jede(r) PolitikerIn müsste wissen, dass ein Land nach über 20 Jahren Krieg, Bürgerkrieg und - in den letzten Jahren - Dürre auf der untersten Ebene gesellschaftlicher Reproduktion angelangt ist. Neben dem Taliban-Regime, dessen "staatliche" Verwaltung sich auf Militär, Polizei und Religionspolitik konzentriert, ist das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) mit ca. tausend afghanischen Mitarbeitern der größte Beschäftigungsträger des Landes. Das IKRK sowie andere internationale Hilfsorganisationen haben neben der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln die Organisation eines Großteils der öffentlichen Infrastruktur übernommen - Gesundheitsdienste, Wasserversorgung, Elektrizität und Schulen. Von der auf die agrarische Produktion bezogenen "ländlichen Nebenindustrie" sind nur noch Bruchteile (unter 10% der Kapazität von 1979) vorhanden. Die wichtigste Energiequelle ist seit Jahren das Holz, was die ökologischen Rahmenbedingungen massiv verschlechtert hat. Nach Schätzungen erreichte auch die mehr und mehr auf Versorgung und Opiumproduktion gerichtete Agrikultur im Jahr 1995 nur rund 50% des Niveaus der Vorkriegsjahre. Aus dieser Situation ergibt sich für die afghanische Bevölkerung ein Pro-Kopf-Einkommen, das deutlich unter dem Durchschnittswert der ärmsten Länder der Welt (1170 $ pro Jahr) liegt. Bis zum letzten Jahr stammten nach Schätzung der UN rund 75% des weltweit produzierten Opiums aus Afghanistan. Allerdings ist diese Produktion seit 1999 rückläufig; die Ursache ist in einer Kombination aus religiös motivierten Verboten, Förderung des Anbaus anderer Pflanzen und der Bürgerkriegskonstellation zu sehen.

Jede Form von Stabilisierung unterstellt eine Rekonstruktion und Entwicklung der ökonomisch-gesellschaftlichen Lebensbedingungen in Afghanistan. Zudem müssten aber auch in der gesamten Region, also für Usbekistan, Tadschikistan, Turkmenistan, Pakistan und vor allem Kaschmir, entsprechende Hilfsprogramme und Ressourcen bereitgestellt werden. Das Vertrauen darauf, dass die Regierungskoalition trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten und finanziellen Notlagen bereit sein wird, ein solches Sonderprogramm für die Afghanistan-Region aufzulegen, tendiert gegen Null. Eher geht ein Kamel durch das berühmte Nadelöhr, als dass Bundesfinanzminister Eichel einen solchen wirksamen Beitrag zur Entwicklung der wirtschaftlichen Ressourcen der betroffenen Länder beisteuert. Welche Kapriolen die modernisierte Sozialdemokratie in dieser Frage unternimmt, kann am Antrag des SPD-Parteivorstandes für den Bundesparteitag zur Tobin-Tax abgelesen werden. Die Besteuerung von Devisentransaktionen soll danach sorgfältig und ohne Scheuklappen geprüft werden. Abgesehen von der Stabilisierung der Finanzmärkte könnte mit den enormen Einnahmen die weltweite Armut bekämpft und die seit Jahren ständig zurückgenommene internationale Entwicklungshilfe aufgebessert werden. Die Operation, per Leitantrag an den Parteitag ein breit getragenes Anliegen - Einführung der Tobin-Tax - aufzugreifen, zugleich aber die praktische Umsetzung in der Gruppe der wichtigsten kapitalistischen Länder (G7) zu hintertreiben und schließlich auf die leeren Taschen in Sachen Armutsbekämpfung, Schuldenerlass und Entwicklungshilfe zu verweisen, ist eine Verhöhnung des Publikums und verstärkt die Partei- und Politikverdrossenheit.

Den Plänen der Antiterrorkoalition für die Nachkriegszeit in Afghanistan muss ein kaum zu überbietendes Maß an Realitätsferne attestiert werden. Die Koalition beschäftigt sich schon mit der Verteilung des Fells des Bären, der noch längst nicht erlegt ist. Es gibt begründete Zweifel daran, ob eine militärische Intervention in der zentral-asiatischen Region überhaupt zugunsten der USA und ihrer Alliierten entschieden werden kann. Angesichts der nur begrenzten Ziele für den Einsatz der Luftwaffe haben die USA nicht gezögert, mit Bodentruppen zu operieren. Damit erreicht die militärische Operation eine neue Qualität.

Mit der Militäroperation in Afghanistan sollen offensichtlich zwei Ziele verfolgt werden: erstens die Bekämpfung der Terroristen von New York und Washington, die vermutlich in Afghanistan Unterschlupf erhalten haben; zweitens geht es der Antiterrorkoalition um die Beseitigung des Taliban-Regimes. Die politische Bekämpfung der terroristischen Attentäter gerät dabei mehr und mehr in den Hintergrund. Stattdessen dominierten die militärischen Auseinandersetzungen mit den Taliban-Truppen das Geschehen. Ob eine längere militärische Konfrontation unter den Bedingungen von wachsenden ökonomisch-finanziellen Schwierigkeiten (Konjunktur), immer deutlicheren Rissen in der weltweiten Koalition gegen den Terror und einer zunehmend kritischeren Öffentlichkeit durchgehalten werden kann, muss stark bezweifelt werden.

Es bleibt also die Grundsatzkritik: Auch in diesem Fall ist der Einsatz von Militär keine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Krieg ist vielmehr ein eigenständiges Phänomen, beherrscht von eigenen Gesetzen. Welchen Verlauf der Einsatz der Militärs in Afghanistan zur Beseitigung der Taliban und zur Ergreifung von des Terrorismus beschuldigten Personen auch nimmt, die politische Aufarbeitung wird nicht einfacher, sondern schwieriger. Daher gilt die Forderung: Sofortiger Stopp der Militäroperation in Afghanistan!

Die politische Konzeption für die Nachkriegszeit in der zentral-asiatischen Region ist völlig irreal. Die militärische Auseinandersetzung nimmt nicht nur enorme Opfer unter der unbeteiligten Zivilbevölkerung in Kauf, sondern ist zudem militärpolitisch höchst fragwürdig und für die Stabilität der Region außerordentlich risikoreich. Letztlich kann die Militäroperation das erklärte Ziel der Verfolgung und Bestrafung von Terroristen sogar gefährden.

Es bleibt die Frage: Gibt es zum Militäreinsatz eine zivilgesellschaftliche Alternative? Selbstverständlich wäre es möglich gewesen, das bin Laden-Netzwerk vor einem internationalen Gericht oder einem Gericht eines neutralen Staates anzuklagen. Der massive politische und ökonomische Druck, der zur Bildung der Antiterrorkoalition führte und die politische Isolation des Taliban-Regimes bewirkte, hätte weiter verstärkt werden können. Eine UN-Mission hätte die militärische Absicherung der humanitären Hilfe für die afghanische Bevölkerung wirksam betreiben können. Letztlich wäre die politische Isolation der Taliban durch eine solche Operation zum Wiederaufbau und zur ökonomischen Entwicklung von Teilen Afghanistans und der unterentwickelten Gesamtregion weitaus stärker und nachhaltiger ausgefallen. Nicht zuletzt: Mit einer Stärkung des internationalen Rechts und der internationalen Organisationen zur Durchsetzung dieses Willens der "Völker- und Staatengemeinschaft" würden wir uns die Militarisierung unserer Gesellschaft ersparen. Jetzt betreibt die politische Klasse in der Berliner Republik und in anderen hochentwickelten Gesellschaften die Beschneidung der Bürgerrechte und den Ausbau der nationalstaatlichen Repressionapparate. Damit die Hegemonie für eine solche Operation gewahrt bleibt, wird zugleich eine Diskriminierung von kritischen Positionen inszeniert. Wer gegen den Krieg als Mittel der Politik eintritt, wird mindestens als politischer Trottel diskriminiert, wenn nicht als Trittbrettfahrer des Terrorismus angeprangert.