Nur Entwürfe für einen Entwurf

Die bisherige Ausarbeitung der PDS-Programmentwürfe ist nicht auf der Höhe der theoretischen und wissenschaftlichen Diskussion.

Aus: Beilage zu Z 46, Juni 2001, 7-11

Der demokratische Charakter einer Partei erweist sich nicht so sehr durch Namensgebung und Anspruch, sondern in der Praxis ihrer innerparteilichen Willensbildung, ganz besonders im Prozess der Erarbeitung der grundlegenden politischen Weichenstellungen, der Diskussion und Beschlussfassung über ihr Grundsatzprogramm.

Nachdem - aus welchen Gründen auch immer - die Programmdebatte längere Zeit stagnierte, liegen nunmehr mehrere Ausarbeitungen vor, die für sich reklamieren, Programmentwürfe zu sein. Die zunächst gewichtigsten sind von André und Michael Brie sowie Dieter Klein auf der einen Seite und von Winfried Wolf u. a. auf der anderen erarbeitet worden. Weitere Texte werden sicherlich folgen. Ein wirklicher Programmentwurf muss aber erst noch erarbeitet werden, und zwar von den dafür demokratisch berufenen Gremien der Partei. Eine nachträgliche Akklamation zu fertigen Produkten kann den demokratischen Prozess der gemeinsamen Erarbeitung nicht ersetzen.

Nach Vorlage der verschiedenen programmatischen Dokumente können jetzt die nächsten Schritte für die weitere Programmarbeit bestimmt und dann auf dem Dresdner Parteitag im Oktober beschlossen werden. Zunächst, und zwar auch parallel zum Bundestagswahlkampf, muss die offene und öffentliche gesellschaftliche Diskussion über die Inhalte demokratisch-sozialistischer Programmatik geführt werden. Dabei steht es der PDS gut an, nicht einfach die Meinung anderer zu bereits mehr oder weniger fest gefügten offiziellen Programmentwürfen einzuholen, sondern sich lernbereit dem Dialog mit all denen zu stellen, die an einer Politik des Demokratischen Sozialismus interessiert sind. Erst nach einer solchen Phase des dialoghaften gesellschaftlichen Lernens sollte eine Programmkommission aus den dabei gewonnenen Erkenntnissen und den inzwischen innerparteilich zusätzlich erarbeiteten Vorlagen einen Programmentwurf für die gesamte Partei erarbeiten. Über diesen sollte auf einem besonderen Programmparteitag beschlossen werden.

Eine solche Vorgehensweise entspricht nicht nur demokratischer Offenheit. Sie kann uns auch dazu verhelfen, dass wir ein Programm schaffen, das auf der Höhe der gegenwärtigen nationalen wie internationalen theoretischen und wissenschaftlichen Diskussion ist. Die bisher vorliegenden Ausarbeitungen entsprechen dem noch nicht.

I.

Der Antrag von Brie, Brie und Klein enthält bei genauerer Lektüre trotz vielfältiger Kritikpunkte im einzelnen mehr anknüpfungsfähige Inhalte, als nach der ersten Durchsicht vermutet. Das verbergen die Autoren leider durch einen fragwürdigen ideologischen Ausgangspunkt und durch eine ebenso originelle wie unausgearbeitete Begrifflichkeit. Das beeinträchtigt nicht nur die inhaltliche Überzeugungskraft, sondern schlicht auch die Lesbarkeit.

1. Im Kommunistischen Manifest heißt es: "An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist." (MEW 4, 482) In der Präambel von Klein u. a. wird allein der zweite Teil dieses Satzes zitiert (2, l.), was schon nicht unproblematisch erscheint. (Der Text von Brie, Brie und Klein wird nach dem Abdruck im Pressedienst der PDS 17/2001 zitiert, der Text von Wolf u. a. nach dem Sonderdruck der "JungenWelt".) Gravierender aber ist, wie das unter der Hand unter dem Kapitel "Sozialismus" mit kühnem Kunstgriff variiert wird hin zu einer "Gesellschaft, in der die freie Entwicklung der Einzelnen zur Bedingung der freien Entwicklung aller geworden ist." (2, l.) Das ist dann doch etwas anderes. Die Betonung wird von "jeden" auf "Einzelnen" verschoben und öffnet die Tür für liberalistische Ideologeme von einem vor- oder außergesellschaftlich gedachten abstrakten Individuum. Noch deutlicher wird das an einer Formulierung in der Präambel, wo es heißt: "Die Würde des Menschen ist seine Freiheit und seine Gleichheit." Natürlich macht es Sinn, an die Spitze der verfassungsmäßigen Grundrechte "die Würde des Menschen" zu stellen. Programmatisch aber "den Menschen" der Gesellschaft gegenüber zu stellen, statt die Individualität in ihrer Gesellschaftsbezogenheit zu sehen, erscheint indes höchst fragwürdig. Und was ist denn die "Gleichheit des (einzelnen) Menschen" ... ? (2, l.)

Dieser Ansatz zu einer liberalistischen Individualisierung ist keineswegs durchgängig durch den gesamten Text hindurch aufrecht erhalten. Er taucht aber immer wieder auf. Etwa in der Frage: "Was braucht der Mensch?" (3, l.) Was Menschen brauchen, kann individuell, gesellschaftlich und historisch höchst unterschiedlich sein. Merkwürdig will indes erscheinen, dass die Autoren bei der Beantwortung der selbst gestellten Frage nicht nennen, was alle Menschen, auch in einer angeblichen "Wissensgesellschaft" benötigen: Essen, Trinken und Wohnung.

Nicht erstaunen kann es, dass sich im gesamten Text Gleichheit allzu häufig auf Chancengleichheit reduziert, z. B. auf "sozial gleichen Zugang zu Bildung und Ausbildung" (5, l.). Konkret heißt es dann: "Das schließt die individuelle Förderung spezifischer Begabungen und Fähigkeiten ebenso ein wie den Ausgleich sozialer und kultureller Bildungsbenachteiligungen." (19, r.) Vom in sozialistischer Perspektive notwendigen Ausgleich auch individueller "Bildungsbenachteiligungen", ist nicht die Rede. Da reichen weder gleicher Zugang noch Chancengleichheit. Es geht um die Schaffung von Gleichheit, die keineswegs Gleichmacherei ist und sein muss: "Erst wenn die Füße aller gleich hoch stehen, kann entschieden werden, wer höher ragt als andere." (Brecht, Me-ti)

2. Neben den Unklarheiten über das Verhältnis von "Eigentum" und "Verfügungsgewalt" leidet der Text durch die Aufnahme der modischen Begriffe "Zugang" oder "Zugriff" (J. Rifkin, Access) und "Freiheitsgüter". Hier gibt es eine Fülle von Widersprüchlichkeiten und Ungereimheiten.

Der Begriff des Freiheitsgutes ist sprachlich fragwürdig, weil überflüssig und ungebräuchlich. Zumindest ist er missverständlich, weil mit dem Begriff "Gut" im allgemeinen Verständnis häufig Gegenstände erfasst werden, die teilbar sind, an denen Eigentum bestehen und über die verfügt werden kann. Das gilt etwa auch, wenn Umwelt dergestalt zum privatisierbaren Gut wird, dass "Verschmutzungszertifikate" käuflich erworben sowie ganz oder teilweise wieder veräußert werden können. Dass das etwa auch für die Bildung gelten kann, wird angesichts der neuen italienischen Verhältnisse nur allzu schmerzhaft in Bewusstsein vieler gehoben. Wollen wir aber nicht, dass Leben, Freiheit und Gesundheit den Menschen unteilbar und unveräußerlich zukommen und nicht zu Freiheitsgütern werden, zu denen sie mehr oder weniger Zugang haben?

Eigentum und Verfügungsgewalt stehen einander nicht unvermittelt gegenüber: Die Verfügungsgewalt folgt aus dem Eigentum. Wenn es - und da ist dem Text zuzustimmen - darum geht, "die Verfügungsgewalt über hochkonzentriertes Kapitaleigentum oder scheinbar anonyme Aktienfonds einzuschränken", müssen wir wissen, dass es um die Beschränkung des Eigentums geht. Je nach ihrem Ausmaß handelt es sich dann entweder um eine Geltendmachung der Sozialpflichtigkeit des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 Grundgesetz) oder im Einzelfall um eine Enteignung (Art. 14 Abs. 3) bzw. bei ganzen Wirtschaftsektoren um eine "Überführung in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft" (Art. 15, Sozialisierung).

Präzisierungsbedürftig sind auch die Formulierungen über die Notwendigkeit von unternehmerischer Tätigkeit und der Erzielung betrieblicher Überschüsse "als wichtige Bedingungen von Innovation und Effizienz" (4, l.) auch im Sozialismus. Hier sind indes präzisere Formulierungen erforderlich, um Missverständnisse dahingehend zu vermeiden, es seien kapitalistische Unternehmer und das Prinzip der Profitmaximierung gemeint. Allerdings ist manche Überreaktion auf die Formulierungen als wenig hilfreich zu kritisieren und im Interesse zukünftiger konstruktiver Diskussion zu vermeiden.

II.

Die Ausarbeitung von Winfried Wolf u. a. enthält derart fragwürdige sprachliche Modernismen nicht. Für Leserinnen und Lesern, die sich dem Marxismus nahe wissen, findet sich weithin gewohntes Vokabular, finden sich Parallelen zu Formulierungen der Klassiker, wenn auch aus dem "Gespenst" ein "Protest" wird oder wenn die Menschen ihre Geschichte nunmehr unter "spezifischen" Umständen machen. Diese emotional positiv wirkenden Ansätze dürfen aber nicht darüber hinwegsehen lassen, dass in wichtigen Fragen wesentliche Aussagen fehlen.

1. Weniger noch als der Entwurf von Klein u. a. enthält er eine Analyse oder auch nur Beschreibung der veränderten ökonomischen Strukturen des gegenwärtigen Kapitalismus. Von der Entwicklung des Monopolkapitalismus und von der Einbeziehung des Staates als politische Instanz in den ökonomischen Reproduktionsprozess wird geschwiegen. Damit fehlen auch Ansatzpunkte für die Bestimmung einer modernen sozialistischen Strategie. Es bleibt schlicht die abstrakte Konfrontation der arbeitenden Menschen und der Erwerbslosen mit den unterschiedslosen Kapitalisten. Die besondere Rolle des Monopolkapitals wird allenfalls angedeutet, die gesellschaftliche Stellung von Klein- und Mittelunternehmern bleibt völlig unbeachtet. Sie kommen als mögliche gesellschaftliche Bündnispartner ebenso wenig vor wie Landwirte, Handwerker oder selbständig Dienstleistende. (11, l.)

2. Offenbar beflügelt von der überinterpretierten Entscheidung des Münsteraner Parteitags gegen durch die UNO mandatierte "friedenserzwingende Einsätze" wird den positiven Aspekten internationaler Vertragssysteme keinerlei Bedeutung beigemessen. Weder die Vereinten Nationen noch ihre Nebenorganisationen finden im Rahmen internationalistischer Politik Erwähnung. Der Protest gegen die Globalisierung wird zwar beschworen, politische Strategien zur demokratischen Regulierung auf internationaler Ebene aber nicht einmal als notwendig angedeutet. Alles im allem fehlt es hier wie in der Europapolitik an der Angabe von "Teilschritten und demokratischen Initiativen", wie sie noch in der Präambel allgemein gefordert wurden. (4, r.) Der Beschreibung des Negativen wird die Hoffnung auf das ganz Andere entgegengestellt. Anstelle tätigen politischen Eingreifens in die sich entwickelnde Realität bleibt das "Warten auf Godot".

III.

Beiden Texten gemeinsam ist das Fehlen ausgearbeiteter Analysen und strategischer Konzepte zur "Entwicklung der staatlichen und gesellschaftlichen Demokratie". In spiegelbildlicher Ergänzung zeichnen sie sich durch anti-etatistische Tendenzen aus, die im Ergebnis geeignet sind, die geballte Macht des Großkapitals ohne hinreichend starke Gegenmacht zu lassen. Fixiert an dem "sowjetischen Staatssozialismus" (22, l.) in der DDR und dem bloßen Schein demokratischer Strukturen in der Bundesrepublik Deutschland (8, l.) sind sie gleichermaßen unfähig, eine Strategie für einen demokratischen Staat zu bestimmen, der auf absehbare Zeit auch im Sozialismus noch die Funktion haben muss, gesamtgesellschaftlich notwendige Funktionen zu koordinieren.

Eine Gesamtbetrachtung beider Texte ergibt Schwach- und Leerstellen bei beiden. Teilweise zeigen sich unschwer Ergänzungsmöglichkeiten. Eine Zusammenfügung mancher Teile zu einem gemeinsamen Ganzen erscheint durchaus möglich. Es fehlen aber noch unverzichtbare Bestandteile für eine Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft und für eine Strategie des demokratischen Sozialismus. Hier muss weiter gearbeitet werden. In der PDS, aber auch darüber hinaus müssen die vorhandenen kreativen Potenziale all derer zusammengefasst werden, die demokratisch-sozialistische Veränderungen wollen.