Lösung der Kurdenfrage mit dem EU-Beitritt der Türkei?

Auf dem EU-Gipfeltreffen in Helsinki wurde der Türkei am 10. Dezember 1999 der Status eines Beitrittskandidaten zur Europäischen Union zuerkannt.

Die Politiker, die im Dezember 1997 auf dem EU-Gipfel in Luxemburg hinsichtlich der Türkei noch die Position vertreten hatten, daß sie sich, wie der damalige Regierungschef von Luxemburg es formulierte, ,,mit Folterern nicht an einen Tisch setzen" würden, saßen nun mit einer zweijährigen Verspätung doch mit der Türkei an einem Tisch und verliehen ihr den Kandidatenstatus, obwohl eigentlich keine grundlegenden Veränderungen bei den zuvor definierten ,,Hausaufgaben" festzustellen waren.

Wie kam es dazu, daß der Türkei nun doch die Beitrittsperspektive eröffnet wurde, und welche Konsequenzen für die Demokratisierung des Landes und insbesondere für die Lösung der Kurdenfrage ergeben sich aus dem Beschluß? Um diese Fragen beantworten zu können, sollen die Entwicklungen in den vergangenen Monaten und Jahren näher betrachtet werden. Hierdurch und durch die Analyse von Äußerungen führender europäischer, amerikanischer und türkischer Politiker soll der Versuch unternommen werden, die Zusammenhänge zu verstehen.

Rückzug der Armee ohne Gesichtsverlust

Nach einem 13jährigen Krieg, in dessen Verlauf ca. 50.000 Menschen starben, über 3.000 Dörfer zerstört und mehr als drei Millionen Menschen der kurdischen Landbevölkerung vertrieben und ihrer Lebensgrundlagen weitgehend beraubt wurden, und in dem enorme materielle und finanzielle Ressourcen vergeudet wurden, hat auch die Türkei 1997 endlich begreifen müssen, daß es so nicht ewig weitergehen konnte. Auch den Generälen war klargeworden, daß sie mit militärischen Mitteln den Konflikt nicht beenden würden. Weder konnte die türkische Armee militärisch die PKK besiegen, noch war die PKK in der Lage, allein durch Waffengewalt Zugeständnisse auf der Gegenseite zu bewirken. Man befand sich militärisch in einer Pattsituation.

In dieser Lage suchte das Militär eine Möglichkeit, sich aus dem Sumpf des Krieges in einer Weise zurückzuziehen, die es ihr erlaubte, dennoch das Gesicht zu wahren. So erklärten der damalige Generalstabschef Karadayi und General Cevik Bir unermüdlich und überall in der Welt, daß die ,,Armee ihre Aufgabe erledigt habe und daß nun die Politik ran muß". Gemeint war, daß man den bewaffneten Widerstand der Kurden gebrochen habe und sich nun neuen ,,Gefahren" widmen könne. Und so ist es kein Zufall, daß spätestens seit Anfang 1997 neben das Feindbild des ,,Separatismus" ein zweites getreten war, nämlich das der ,,islamischen Gefahr". Um dies zu unterstreichen, wurde Ende 1997 sogar die ,Geheime Verfassung` der Türkei geändert.

Separatismusgefahr relativiert

Der 28. Februar 1997 ging als der Tag eines unblutigen postmodernen Putsches in die Geschichte der Türkei ein. An diesem Tag machten die Militärs gegen den damaligen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan von der islamischen Wohlfahrtspartei (Refah) mobil und unterbreiteten der Regierung einen Maßnahmenkatalog gegen die islamischen Kräfte. Im Juni 1997 schließlich jagten die Militärs die Wohlfahrtspartei von Erbakan, die aus den Wahlen Ende 1995 mit 6 Mio. Stimmen als stärkste Partei hervorgegangen war, aus der Regierung.

Dieses Beispiel verdeutlicht, daß das Land in Wirklichkeit vom Militär regiert wird, und zwar auf der Basis von dessen eigener ,,Verfassung". In diesem Dokument mit der Bezeichnung ,,Politikdokument der Nationalen Sicherheit - Milli Güvenlik Siyaset Belgesi", werden die Grenzen der offiziellen Verfassung definiert und festgelegt, welche Tabus im Staat herrschen und wer als Feind zu gelten hat.

Das ,,Politikdokument der Nationalen Sicherheit" gilt in der Türkei als ,Geheime Verfassung` des wahren Machtzentrums des Staates. Es wurde während des Kalten Krieges Mitte der 60er Jahre formuliert und nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 sowie erneut 1992 geändert. Zu seiner bisher letzten Überarbeitung kam der Nationale Sicherheitsrat am 31. Oktober 1997 zusammen.

In dem genannten Dokument haben die Generäle als die wahren Machthaber, als der unsichtbare ,,Staat im Staate", dem Volk zwei Hauptfeinde und vorrangige Angriffsziele genannt. Das erste und allgemein bekannte ist der ,,Separatismus", also der Kampf der Kurden um Gleichberechtigung, das zweite hingegen sind islamische Strömungen, die als ,,Fundamentalismus" und religiöser Fanatismus bezeichnet werden. Wenn man das Dokument genau studiert, fällt auf, daß die ,,islamische Gefahr" mit an erster Stelle genannt und besonders hervorgehoben wird. Wir lesen:

1. Separatistische und fundamentalistische Aktionen bilden eine Gefahr für den Staat und sollen vorrangig bekämpft werden.

2. Der politische Islam ist weiterhin eine Bedrohung für die Türkei.

3. Einige Kreise wollen den türkischen Nationalismus zum Rassismus umfunktionieren. Die faschistische Mafia will daraus profitieren. Dies ist auch eine Bedrohung für den Staat.

An dieser Stelle wird zum ersten Mal von einer faschistischen Mafia gesprochen! Bemerkenswert ist auch Punkt 9:

9. Es sollen Neustrukturierungen bezüglich der Pflege der kulturellen und regionalen Besonderheiten vorgenommen werden. Die öffentliche Verwaltung ist von dieser Maßnahme ausgeschlossen.

Und schließlich wird der außenpolitische Kurs bestimmt:

11. Die Ausrichtung der Türkei nach Westen darf nicht verändert werden. Das Ziel der Türkei bezüglich der Mitgliedschaft in der EU muß beibehalten werden.1

Die Generäle haben durch die Änderungen in der ,,Geheimen Verfassung" den politischen Islam zu einer Gefahr ersten Ranges aufgewertet und die Gefahr des ,,Separatismus" damit faktisch relativiert. Und außerdem haben die wahren Machthaber zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei von ,,Neustrukturierungen bezüglich der Pflege der kulturellen und regionalen Besonderheiten" gesprochen. Dies bedeutet nichts anderes, als daß es in der Türkei außer der türkischen auch andere Kulturen und Ethnien gibt und daß sie durch Umstrukturierung des Staates berücksichtigt werden müssen.

Kann man von einem Staat wie dem türkischen, der angeblich einen Krieg gewonnen hat, erwarten, daß er von sich aus gegenüber den Besiegten Zugeständnisse macht? Liegt es nicht viel näher, daß hier auch von außen Druck ausgeübt wurde?

Die Tatsache, daß die USA aus wirtschaftlichen, aber auch militärstrategischen Gründen ein herausragendes Interesse an einer dauerhaften Befriedung des Bündnispartners Türkei haben mußten, macht es wahrscheinlich, daß sie die Militärs in Ankara zur Änderung der ,,Geheimen Verfassung" und weiteren Reformschritten drängten und im Gegenzug ihre Unterstützung für die ,,Operation Öcalan" signalisierten, die dann ein Jahr danach, im Herbst 1998, mit seiner Vertreibung aus Syrien begann und mit der Auslieferung an die Türkei im Februar 1999 endete.

Hegemonialmacht USA

Die weltpolitische Lage hatte sich in den letzten Jahren erheblich verändert. Der Kalte Krieg ging mit dem Fall der Mauer zu Ende. Damit löste sich die bipolare Welt auf. Die seit einem Jahrzehnt existierende monopolare Welt wird von den USA allein dominiert. Sie bestimmen weitgehend die Richtung der Geschehnisse in der Welt.

Zbigniew Brzezinski, früher US-Sicherheitsberater, schrieb kürzlich, daß die Welt sich heute unter der Hegemonie der ,,einzigen globalen Supermacht" USA befinde. Die Ära der sozialen und Befreiungsbewegungen geht für Brzezinski zu Ende. Wörtlich heißt es in seinem Aufsatz, ,,daß die internationale Politik heute von drei zentralen Faktoren bestimmt ist: von dem Primat der amerikanischen Macht, der Attraktivität der demokratischen Idee und dem Erfolg der freien Marktwirtschaft. Diese Faktoren stehen untereinander in einem Verhältnis der gegenseitigen Beeinflussung und Interdependenz. Sie stellen darüber hinaus einen dramatischen Gegensatz zu den zentralen politischen Phänomenen des 20. Jahrhunderts dar. Man kann es wohl mit Recht das verbrecherischste und destruktivste Jahrhundert in der Geschichte der Menschheit nennen, beherrscht von utopischer Hybris, von Fanatismus und rücksichtslosem Dogmatismus ... Dies ist heute Geschichte, und wir dürfen uns des weltweiten Siegs der demokratischen Idee erfreuen ... Häufig wird die Rolle Amerikas in der Welt als ,hegemonial` beschrieben, und in einem gewissen Sinne trifft das auch zu. Es ist wahr, daß die amerikanische Überlegenheit heute ein zentrales Faktum der internationalen Politik ist."2

Die Türkei wiederum liegt nicht nur in einer konfliktreichen, sondern geostrategisch überaus wichtigen Region dieser von den USA dominierten Welt. Als ein Brückenkopf zum Nahen Osten, zur islamischen Welt, zum Kaukasus und nach Zentralasien, zum Balkan und in den Mittelmeerraum wird sie in Zukunft im Rahmen der ,,Neuen Weltordnung" noch wichtige Aufgaben übernehmen müssen.

Da sie aber selbst innen- und außenpolitische sowie wirtschaftliche Probleme hat, ist zunächst ihre eigene Stabilisierung erforderlich. Hierbei muß sie sich von ihren ,,Lasten" befreien: das Kurdenproblem lösen, die Demokratisierung vorantreiben und internationale Menschenrechtsstandards anerkennen. So wird die Türkei seit längerer Zeit auch und gerade von ihren Verbündeten gedrängt, sich fest in Europa und im Westen einzubinden und sich hierbei Reformen zu öffnen, wobei die politische Lösung der Kurdenfrage eine herausgehobene Stellung einnimmt.

Vor seiner Teilnahme am OSZE-Gipfel in Istanbul absolvierte US-Präsident Clinton Mitte November 1999 einen offiziellen Staatsbesuch in der Türkei. In seiner Rede vor dem türkischen Parlament am 15. November 1999 unterstrich er, daß er einen Beitritt der Türkei in die EU befürworte. Bezüglich der Kurden sagte der US-Präsident, daß sich ihnen ,,das wesentlichste Geburtsrecht, das auf ein ganz normales Leben", eröffnen müsse.

,,Hürriyet" faßte die wichtigsten Botschaften Clintons wie folgt zusammen: ,,Es geht nicht, daß jede ethnische Gruppe Unabhängigkeit bekommt. Aber die ethnischen und religiösen Gruppen sollen ihre Rechte in den Staaten, in denen sie leben, bekommen." Clinton soll sowohl beim damaligen Staatspräsidenten Demirel als auch bei Ministerpräsident Ecevit die Rechte der Kurden thematisiert haben. Dazu Ecevit: ,,Es ist wichtig, daß die anzuerkennenden Rechte nicht zum Separatismus und zum Terror führen."

Hinsichtlich der türkisch-europäischen Beziehungen sagte Clinton weiter, die volle Partnerschaft der Türkei mit der EU sei ,,eine der vier oder fünf Schlüsselfragen" in diesem Teil der Welt. Zu einem ungeteilten, demokratischen und friedlichen Europa gehöre eine stabile und prosperierende Türkei".3

Die Ereignisse des Jahres ,,2000 minus 1"

Am 18. und 19. November 1999 fand das Gipfeltreffen der 54 OSZE-Staaten (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) in Istanbul statt. Mit der Auswahl des Tagungsorts wurde die Türkei international aufgewertet und zugleich ihren Nachbarstaaten signalisiert, daß das Land künftig eine wichtigere diplomatische Rolle übernehmen sollte.

Die Mitgliedsstaaten unterzeichneten dort die ,,Charta für Europäische Sicherheit". Nach dieser kann sich kein Staat mehr auf das Argument ,,Keine Einmischung in innere Angelegenheiten!" berufen. Die Charta betont ausdrücklich, daß innerstaatliche Konflikte in einem OSZE-Land die Sicherheit aller anderen Mitgliedsstaaten gefährden können - erstmals werden so der Souveränität der OSZE-Staaten klare Grenzen gesetzt. Zudem werden Freiheitsrechte für die Minderheiten eingefordert.4

Ein Jahr zuvor, im Oktober 1998, war der Vorsitzende der PKK, Abdullah Öcalan, durch internationale Zusammenarbeit gezwungen worden, Syrien zu verlassen. Die Route der Treibjagd bis zu seiner Verschleppung aus Kenia in die Türkei am 15. Februar 1999 führte über drei Kontinente. Nach allem, was heute über die Hintergründe des Komplotts bekannt ist, lag die Regie bei dieser Operation in den Händen der USA, und mehrere NATO-Staaten spielten dabei eine entscheidende Rolle. Und die EU unter dem Vorsitz der Bundesrepublik Deutschland diente bei diesem schmutzigen Geschäft als Feigenblatt.

Nach der Ankunft Öcalans in Rom gaben Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer sowie ihre italienischen Amtskollegen D'Alema und Dini am 27. und 28. November 1998 das Versprechen: ,,Wir werden eine europäische Initiative zur Lösung der Kurdenfrage starten." Aber nach dieser öffentlichen Ankündigung geschah im positiven Sinne nichts. Sie hatten bei den Kurden Hoffnungen geweckt und sie später im Stich gelassen. Öcalan wurde letztendlich an seine Gegner in der Türkei ausgeliefert, dort am 29. Juni 1999 zum Tode verurteilt und sitzt auf Imrali in Isolationshaft.

Nach diesen Geschehnissen hatte die PKK drei Optionen:

a) sich zu ergeben,

b) den bewaffneten Kampf noch zu intensivieren und auszuweiten, der sich dann zu einem Bürgerkrieg wie in Bosnien hätte entwickeln können, oder

c) alle militärischen Aktionen einzustellen und zu versuchen, auf demokratischem Wege eine Lösung zu erreichen.

Die PKK, die seit 1993 selbst dreimal einen einseitigen Waffenstillstand verkündet hatte, um die Türkei zu einer friedlichen Lösung zu bewegen, hat die Hauptbotschaft der am internationalen Komplott gegen Öcalan Beteiligten verstanden. Diese lautete: ,,Rechte werden nicht mehr durch Revolutionen und Waffengewalt erreicht, sondern durch Reformen und mit friedlich-demokratischen Mitteln."

Auch deshalb entschied sie sich für die dritte Option. Um eine friedliche Lösung der Kurdenfrage innerhalb der Staatsgrenzen der Türkei zu suchen, stellte die PKK den bewaffneten Kampf im Sommer 1999 ein und begann, ihre Kämpfer von türkischem Territorium zurückzuziehen. Zudem wurden zwei Delegationen mit Friedensbotschaftern, bestehend aus je acht Personen - darunter eine aus den Bergen und eine aus Europa - als Zeichen des guten Willens in die Türkei geschickt.

Beitrittskandidatur und Druck von außen

Wie nach einer vorgeschriebenen Regie erledigten alle direkt oder indirekt Beteiligten ihre Aufgaben. Die PKK brachte ihre Waffen zum Schweigen, zog ihre Kampfverbände zurück und änderte schließlich auf dem letzten Parteitag im Januar 2000 offiziell ihre Strategie, was sogar im diesjährigen Verfassungsschutzbericht als ,,ein grundlegender Wandel"5 bezeichnet wird.

Und die Türkei versprach dem Westen, also der EU und den USA, daß sie die ,,Kopenhagener Kriterien" voll erfüllen, sich demokratisieren, die gegen Öcalan verhängte Todesstrafe aussetzen sowie die Kurdenfrage Schritt für Schritt lösen werde.

Erst im Gefolge dieser gewaltigen Veränderungen und Zugeständnisse der beiden Konfliktparteien haben die Europäer der Türkei in Helsinki die Türen zur EU geöffnet.

Wenn die PKK ihre Waffen nicht zum Schweigen gebracht hätte und der Krieg noch andauern würde, wäre der Weg in die EU versperrt geblieben. Deswegen ist es nicht übertrieben zu sagen, daß auch die einseitigen Schritte der PKK dazu beigetragen haben, daß der Türkei auf dem EU-Gipfel in Helsinki am 10. Dezember 1999, am Tag der Menschenrechte, der Status eines Beitrittskandidaten verliehen wurde.

Die Einflußnahmen von außen auf die Türkei ließen seither nicht nach.

Beispiel 1: Verheugen in Ankara

Am 8. März 2000 reiste der für die EU-Erweiterung zuständige Kommissar Günter Verheugen als erster hochrangiger EU-Vertreter seit dem Dezember 1999 in die Türkei. In seinen Gesprächen mit Ministerpräsident Ecevit, dessen Stellvertreter Bahceli und Außenminister Cem ging es um die zwischen Ankara und der EU-Kommission auszuhandelnde Vereinbarung über eine ,,Beitrittspartnerschaft" und die Reformschritte, die von der Türkei erwartet werden, bevor die eigentlichen Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden können.

Bei diesen Gesprächen reagierte Ecevit besonders allergisch darauf, daß Verheugen vom ,,Kurdenproblem" sprach, welches es in der Türkei gar nicht gebe, da hier die Staatsbürger nicht nach ethnischen Kriterien eingeteilt würden. Verheugen ließ sich indes nicht einschüchtern und benutzte demonstrativ die Bezeichnung ,,Kurdenproblem" abermals. Schon vor seiner Abreise hatte Verheugen deutlich gemacht, daß es ohne eine substantielle Veränderung der türkischen Kurdenpolitik keinen EU-Beitritt geben werde. Ein Brüsseler Diplomat wird mit der Feststellung zitiert: ,,Gleichgültig wie man es nennt, ob kurdisch oder südöstlich, es bleibt ein Problem". Dies scheint man auch in Ankara inzwischen verstanden zu haben. Nach Angaben der ,,Turkish Daily News" analysiert eine Arbeitsgruppe im türkischen Außenministerium derzeit die rechtliche Situation ethnischer und religiöser Minderheiten in den EU-Staaten, woraus danach notwendige Korrekturen in der Kurdenpolitik abgeleitet werden sollen.6

Beispiel 2: Dokument über Rechte der ,,kurdisch-stämmigen türkischen Bürger"

Zum ersten Mal hat die Türkei ein internationales Dokument unterzeichnet, in der die Wörter ,,Kurden" bzw. ,,kurdisch" vorkommen. Zum Abschluß eines Treffens im April 2000 zwischen Vertretern der EU und der türkischen Regierung fand sich in einer gemeinsamen Erklärung die Formulierung ,,Verbesserung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der kurdisch-stämmigen türkischen Bürger".

Der EU-Ratsvorsitzende Jaime de Gama, der für die Erweiterung zuständige Kommissar Günter Verheugen und der türkische Außenminister Ismail Cem waren sich einig geworden, in dem Dokument die Wörter ,,das kurdische Volk" durch die Wörter ,,kurdisch-stämmige türkische Bürger" zu ersetzen. In der gemeinsamen Erklärung wurden die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien, die auch die Rechte der ,,kurdisch-stämmigen türkischen Bürger" beinhaltet, und die Abschaffung der Todesstrafe gefordert.

Der seinerzeitige EU-Ratspräsident de Gama erklärte, man habe die Gesetzesvorlagen der türkischen Regierung zur Abschaffung der Todesstrafe und zur Gewährung der Meinungs- und Pressefreiheit studiert und bewerte sie positiv. Die türkische Regierung habe versichert, nach und nach und Schritt für Schritt die Rechte der Kurden zu gewährleisten.7

Beispiel 3: Bundespräsident Rau auf Staatsbesuch

Schon vor Beginn seines dreitägigen Staatsbesuches in Ankara Anfang April 2000 kritisierte Bundespräsident Rau, daß die Türkei in den vergangenen 14 Jahren bezüglich der Menschenrechtslage zuwenig Fortschritte gemacht habe. Er betonte, daß ein geplantes Treffen mit türkischen Menschenrechtlern in der Residenz des deutschen Botschafters auf seinen persönlichen Wunsch hin in das Besuchsprogramm aufgenommen worden sei, ,,und ich tue das nicht heimlich, sondern ganz offen, damit die türkische Regierung weiß, auf welcher Seite die Deutschen stehen".

Unter Anspielung auf die ungelöste Kurdenfrage forderte Rau die Achtung und den Schutz aller Bevölkerungsgruppen, ,,auch jene, die türkische Staatsbürger sein, aber ihre kulturellen Eigenheiten behalten wollen". Sprachliche, kulturelle und ethnische Vielfalt und deren Anerkennung bedeuteten nicht Teilung oder Verfall der staatlichen Einheit. Toleranz und Pluralismus seien geradezu das Gegenteil von Separatismus.8

Beispiel 4: Forderungen der Clinton-Administration

Der für europäische Angelegenheiten zuständige stellvertretende Außenminister der USA und frühere US-Botschafter in Ankara, Marc Grossman, hat die Türkei im März 2000 aufgefordert, den Ausnahmezustand in den fünf kurdischen Provinzen aufzuheben, die Folter gänzlich abzuschaffen, volle Meinungsfreiheit zu gewähren und die Demokratisierung voranzutreiben.

Grossman sagte wörtlich: ,,Obwohl im letzten Jahr einige Gesetze zur Verbesserung der Menschenrechtslage geändert worden sind, ist diese Aufgabe damit nicht endgültig gelöst." Die Antworten und Lösungen vieler Probleme lägen in der Formel: ,,Mehr Demokratie, volle Freiheiten".9

Entwicklungen in der Türkei

In der Türkei finden negative und positive Entwicklungen parallel statt. Einerseits verzeichnen wir massive Menschenrechtsverletzungen, Repressalien und Verfolgungen. Andererseits ist - vor allem auch dank der einseitigen Schritte der PKK - eine entspanntere Atmosphäre entstanden und eine Diskussionswelle über die bestehenden Probleme der Türkei in Gang gesetzt worden.

Es gibt etliche Gründe, sowohl pessimistisch als auch optimistisch zu sein. Beginnen wir mit den negativen Entwicklungen.

Fortgesetzte Repressalien

Seit dem Helsinki-Gipfel im Dezember 1999 nahmen die Menschenrechtsverletzungen wieder erheblich zu. Die Verfolgung und Unterdrückung von KurdInnen und Menschenrechtlern gehen unvermindert weiter. Von Dezember bis Mai wurden massenhaft kurdische HADEP-Politiker (die Demokratische Volkspartei HADEP ist die größte kurdische demokratische Partei) sowie kurdische Gewerkschafter und Menschenrechtler festgenommen und verhaftet.

- Nach ihrer Rückkehr von einer internationalen Tagung in Deutschland wurden die drei gewählten kurdischen HADEP-Bürgermeister aus Diyarbakir, Siirt und Bingöl am 19. Februar 2000 verhaftet und mißhandelt. Erst nach heftigen Protesten im In- und Ausland wurden sie nach neun Tagen freigelassen. Der Prozeß gegen sie wird aber fortgeführt.

- Am 24. Februar 2000 wurden fast alle HADEP-Vorstandsmitglieder zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt.

- Der ehemalige Vorsitzende des Menschenrechtsvereins Akin Birdal mußte am 28. März erneut ins Gefängnis, obwohl er noch unter den gesundheitlichen Folgeschäden des 1998 auf ihn verübten Attentats leidet.

- Der ehemalige Ministerpräsident Erbakan wurde am 10. März 2000 wegen einer Rede aus dem Jahr 1994 zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.

- Über 10.000 politische Gefangene, mehr als 100 Intellektuelle, 80 Journalisten sitzen immer noch in den Gefängnissen der Türkei.

- Zwölf Zeitungen und Zeitschriften dürfen in den Ausnahmezustandsregionen nicht vertrieben werden. Wegen des Vertriebsverbots, zugenommener Unterdrückung, Verfolgung der Mitarbeiter und Festnahmen hat die prokurdische Tageszeitung Özgür Bakis am 22. April 2000, genau am Tag der kurdischen Presse, ihr Erscheinen eingestellt. Kurdische Zeitungen und Zeitschriften, wie Azadiya Welat oder Pine, die Außenminister Cem gern bei sich trug, um seinen europäischen Kollegen zu zeigen, wie demokratisch die Türkei ist, dürfen ihre Zielklientel nicht erreichen. Dies gilt auch für kurdische Bücher.

- 50.000 vertriebene kurdische Familien möchten in ihre Dörfer zurück, und es wird ihnen nicht erlaubt.

- Auch in diesem Jahr unternahm die türkische Armee im Rahmen ihres ,,alljährlichen Frühjahrsputzes" militärische Operationen gegen die PKK diesseits und jenseits der türkisch-irakischen Grenze mit Dutzenden Toten auf beiden Seiten.

- Am 12. Mai 2000 wurde die erst Mitte April wiedereröffnete Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD in Diyarbakir erneut geschlossen, am 17. Mai auch die in Van.10

- In fünf Provinzen gilt immer noch der 1987 verhängte Ausnahmezustand. Damit hat der dortige Regionalgouverneur sehr weitreichende Befugnisse. So kann er den Medien Restriktionen auferlegen, mißliebige Personen deportieren und sogar ganze Dörfer zwangsevakuieren lassen.

Im jüngsten 61seitigen Bericht des US-Außenministeriums zur Menschenrechtslage in der Türkei wird Ankara zwar bescheinigt, einige Gesetzänderungen auf dem Weg gebracht zu haben, um Mißstände zu beseitigen. In der Praxis aber seien schwere Menschenrechtsverletzungen weiterhin an der Tagesordnung. Dazu gehörten Folter und Mißhandlungen durch Sicherheitskräfte, Ermordung und Verschwindenlassen von Bürgerrechtlern, Einschränkungen der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit, massive Behinderungen der Arbeit mißliebiger politischer Parteien und Menschenrechtsgruppen, die Vertreibung Hunderttausender Kurden aus ihren Dörfern und das kurdische Sprachverbot in Massenmedien und Schulen. Massive Menschenrechtsverletzungen gebe es vor allem in den überwiegend kurdisch besiedelten Gebieten der Türkei. Hier forderten die inzwischen deutlich zurückgegangenen Zusammenstöße 1999 zwar weniger Opfer als in den Jahren zuvor, von einer Normalisierung oder gar einer politischen Lösung der Kurdenfrage ist man aber noch weit entfernt.11

Anmerkungen

1 Hürriyet, 5.11.1997; Özgür Politika, 6.11.1997; Nützliche Nachrichten 4/1997

2 Frankfurter Rundschau, 22.5.1999

3 Hürriyet, 17.11.1999; Nützliche Nachrichten 4/1999

4 Özgür Politika, Hürriyet, Frankfurter Rundschau, Die Tageszeitung (taz), 18.11.1999; Milliyet, Frankfurter Rundschau, taz,19. u. 20.11.1999; Milli Gazete, 21.-22.11.1999; Özgür Politika, 23.11.1999; Nützliche Nachrichten 4/1999

5 Nützliche Nachrichten 2/2000

6 taz, 9.3.2000; Der Tagesspiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 11.3.2000; Die Welt, 16.3.2000; Frankfurter Rundschau, 21.3.2000; Nützliche Nachrichten 2/2000

7 Hürriyet, Özgür Politika, 12.4.2000; Nützliche Nachrichten 2/2000

8 Frankfurter Rundschau, 6.4.2000; Berliner Zeitung, 7.4. 2000; Die Welt, 7.4.2000; FAZ, 8.4.2000; Nützliche Nachrichten 2/2000

9 Hürriyet, 17.3.2000; Nützliche Nachrichten 2/2000

10 Nützliche Nachrichten 2/2000

11 US-Department of State, 25.2.2000; Hürriyet, 26.2.2000; Özgür Politika, 27.2.2000; Frankfurter Rundschau, 9.3.2000; Nützliche Nachrichten 2/2000

Der Staat im Staate wäscht seine schmutzigen Hände

Parallel zu massiven Menschenrechtsverletzungen finden Razzien gegen sogenannte islamische Terroristen statt, vielleicht auch, um damit ein Gegengewicht herzustellen und die Kurden und demokratischen Kräfte zu beruhigen.

Mitte Januar 2000 wurde die ,,Hisbollah" und später auch andere Organisationen zum meistdiskutierten Thema in der Türkei. Die einen sehen in der Hisbollah ein zur Bekämpfung der PKK eingesetztes Instrument des Staates. Für die anderen ist sie eine pro-iranische islamistisch-fundamentalistische Organisation, die das Land Türkei und die türkische Nation zu spalten versucht.

Welche Version ist richtig? Hat der türkische Staat eine solche mörderische Bande aufgezogen, um sie gegen Oppositionelle und den kurdischen Widerstand einzusetzen, oder haben ausländische Mächte solche Organisationen gegründet und in der Türkei etabliert, um diese zu schwächen?

Der Name ,,Hisbollah" fiel erstmals Ende der 80er Jahre. Ihren eigentlichen Ruhm erlangte sie aber in den 90er Jahren, als täglich auf den Straßen von Diyarbakir, Batman und Silvan Dutzende Menschen am hellichten Tag vor aller Augen bestialisch getötet wurden, wofür die Hisbollah verantwortlich gemacht wurde.

Ihre Operationsgebiete waren also die vom Krieg beherrschten und von insgesamt mehr als 300.000 Mann Sicherheitskräften - Armee-, Gendarmerie- und Polizeiangehörigen - belagerten Städte Kurdistans. Aber der Staat, der 10- bis 15jährige Zeitungsverkäufer, Menschenrechtler und Gewerkschafter verfolgte und 85% der kurdischen Bevölkerung polizeilich hat registrieren lassen, der also über alles Bescheid wissen mußte, sah fast nichts, als kurdische Intellektuelle und Oppositionelle zu Tausenden auf offener Straße regelrecht hingerichtet wurden.

Bedenkt man, daß es über 10.000 politisch motivierte Morde im Ausnahmezustandsgebiet gegeben hat, wird das Ausmaß dieser Grausamkeiten deutlich. Zielobjekte dieser Banden waren fast ausschließlich Kurden, und ihre Operationsgebiete waren bis vor wenigen Monaten die kurdischen Städte.

Hätte die PKK nicht einseitig ihre Waffen zum Schweigen gebracht und würden die bewaffneten Auseinandersetzungen noch andauern, dann hätten Operationen gegen solche Mörderbanden wohl bis heute nicht stattgefunden.

Der Zeitpunkt der Operationen hängt auch mit der innenpolitischen Tagesordnung der Türkei zusammen. Bis Mitte Januar haben die Vollstreckung oder Aussetzung der Todesstrafe gegen Öcalan und die Vorschläge von kurdischer Seite zur friedlichen Lösung der Kurdenfrage und zur Demokratisierung des Landes die politischen Diskussionen in der Türkei beherrscht.

In der Absicht, mit der Tugendpartei (Fazilet Partisi), gegen die bereits im Mai 1999 ein Parteiverbotsverfahren eingeleitet wurde, abzurechnen und sie in die Knie zu zwingen, hat der Staat die Hisbollah und andere islamische Terrorbanden auf die Tagesordnung gebracht. Der Bevölkerung sollte vor Augen geführt werden, welche Grausamkeiten eine Organisation begehen kann, die wie die Tugendpartei den Islam auf ihre Fahnen geschrieben hat. So wollte man einerseits die Unterstützung der Bevölkerung für die Tugendpartei schwächen und ihrem Ansehen Schaden zufügen. Und darüber hinaus wurde den Kurden und demokratischen Kräften, vor allem aber der PKK signalisiert: ,,Ihr wolltet Gegenschritte zum Friedensprozeß, also bitte: wir rechnen mit den Mörderbanden und mit Hisbollah ab."

In Wirklichkeit spricht vieles dafür, daß staatliche Institutionen ihre Drecksarbeit von den anderen haben erledigen lassen und heute versuchen, ihre ,,Altlasten" auf die anderen abzuschieben. Und daß hinter der islamischen ,,Hisbollah" und weiteren Terrororganisationen andere stecken. Sie sind ,,uneheliche Kinder" des türkischen Staates, der sie im Sumpf des Krieges in Kurdistan gezeugt hat, also Geschwister der o.g. paramilitärischen Organisationen, deren Väter im innersten Zentrum des Staates, im ,,Staat im Staate" sitzen. Und diese Einschätzung gilt auch für jene Terrororganisationen, gegen die heute noch Operationen durchgeführt werden und auf deren Konto z.B. die Attentate auf prominente Journalisten wie Ugur Mumcu oder Ahmet Taner Kislali gehen.

Positive Entwicklungen

Als erste der positiven Entwicklungen ist die Aussetzung des Todesurteils gegen Öcalan zu nennen. Am 12. Januar 2000 beschlossen die Vorsitzenden der türkischen Regierungsparteien Bülent Ecevit (Demokratische Linkspartei; DSP), Devlet Bahceli (Partei der Nationalistischen Bewegung; MHP) und Mesut Yilmaz (Mutterlandspartei; Anap), das Parlament erst nach einem frühestens in eineinhalb Jahren erwarteten Grundsatzurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte über eine Hinrichtung des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan entscheiden zu lassen. Hierzu war Ankara am 30.11.1999 vom Straßburger Menschenrechtsgerichtshof aufgefordert worden. Damit hat sich eine türkische Regierung erstmals bereit erklärt, die Entscheidung einer europäischen Instanz abzuwarten und damit auf ein Stück nationaler Souveränität zu verzichten. Die Akte Öcalan soll allerdings sofort dem Rechtsausschuß des Parlaments zur weiteren Befassung zugeleitet werden, falls die PKK oder ihre Anhänger versuchen, ,,diesen Prozeß gegen die Interessen des Staates zu verwenden", so Ministerpräsident Ecevit.

Vor der Entscheidung der Regierungsparteien hatten Ecevit, der damalige Staatspräsident Demirel und auch Armeekreise vor möglichen innen- und außenpolitischen Folgen einer Hinrichtung gewarnt, insbesondere vor einem Wiederaufflammen des Bürgerkriegs in den kurdischen Gebieten sowie der Gefährdung der gerade erst begonnenen Heranführung der Türkei an die EU. So wie schon seit Wochen die EU und die USA dafür plädiert hatten, die Straßburger Entscheidung abzuwarten, hatte noch am Tag der Entscheidung die portugiesische EU-Ratspräsidentschaft davor gewarnt, daß eine Hinrichtung Öcalans den Weg der Türkei nach Europa verbauen könnte.

Öcalan selbst appellierte an beide Seiten, die Aussetzung der Urteilsvollstreckung nicht als Sieg oder Niederlage zu betrachten, sondern als Chance für die Etablierung von Frieden und Demokratie. Bei einer anderen Entscheidung hätten nicht nur er selbst, sondern ,,auch der Staat, die Menschen, jeder hätte verloren". Die Regierung werde ihre Entscheidung nicht bereuen: ,,Der erreichte Punkt ist ein neuer Anfang", und: ,,Wir werden unseren Beitrag leisten", so Öcalan in einer über seine Anwälte verbreiteten Erklärung vom 14. Januar. Die Türkei brauche Reformen. So bedürfe es für den inneren Frieden auch einer Amnestie.1

Das zweite positive Zeichen ist die Wahl von Sezer. Im dritten Wahlgang wurde am 5. Mai 2000 der Vorsitzende des Verfassungsgerichtes, Ahmet Necdet Sezer, mit absoluter Mehrheit (330 von 533 abgegebenen Stimmen) zum neuen Staatspräsidenten gewählt. Er hat sein Amt am 16. Mai 2000 angetreten und ist das erste türkische Staatsoberhaupt, das nicht aus den Reihen des Militärs oder der Politik kommt.

In der Vergangenheit zog er mehrmals durch seine öffentlich geäußerte Kritik an Demokratiedefiziten in der Türkei die Aufmerksamkeit auf sich, so vor einem Jahr in einer Rede zum 37. Jahrestag der Gründung des Verfassungsgerichts, als er forderte, die in der 1982 von den Putschgenerälen ausgearbeiteten Verfassung enthaltenen Einschränkungen der Meinungsfreiheit aufzuheben, und dabei auch beklagte, daß die hierin legitimierten Sprachverbote nicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar seien. Die Garantie der Menschenrechte sei aber ,,die unverzichtbare Voraussetzung zivilisierter Gesellschaften".

Viele in- und ausländische Beobachter, gerade auch die reformorientierten Kräfte aus Politik, Wirtschaft und der Bürgerrechtsbewegung, sehen in dem neuen Präsidenten, der in dieser Funktion auch Vorsitzender des einmal monatlich tagenden Nationalen Sicherheitsrats ist, einen absolut integren Hoffnungsträger für die demokratische Umgestaltung des Landes, der dazu beitragen kann, die Türkei auf dem Weg in die EU an die von ihm selbst geforderten internationalen Standards bei den Menschenrechten heranzuführen.

Doch manchen gehen Sezers bisher geäußerte liberale Vorstellungen von mehr Demokratie schon zu weit: So bezeichnete ihn die der Armee nahestehende, rechtsnationalistische Zeitung ,,Ortadogu" sogar als Freund der Fundamentalisten und Separatisten. Und der Vorsitzende der an der Regierung beteiligten Nationalistischen Bewegungspartei MHP, Devlet Bahceli, wird von ,,Hürriyet" so zitiert: ,,Als Verfassungsgerichtspräsident gab Sezer verschiedene Meinungen ab, aber als Präsident werden seine Ansichten die Ansichten des Staates sein müssen."2

Der Generalstab ,,empfiehlt" demokratische Reformen

,,Entgegen einer weitverbreiteten Ansicht treten die türkischen Streitkräfte entschieden für Demokratisierung, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit ein und wünschen Fortschritte auf dem Weg zur Vollmitgliedschaft in der EU", erklärte ein Vertreter des Generalstabes Anfang Mai 2000 einer überraschten Runde von hohen Regierungsvertretern. ,,Ich spreche damit für die Befehlshaber." Die bis in die Formulierungsvorschläge für die Verfassungsänderungen bereits ausgearbeiteten ,,Empfehlungen" sehen u.a. vor:

- die Abschaffung der Todesstrafe und die Unterzeichnung des entsprechenden Europaratsprotokolls;

- die Aufhebung der Verfassungsbestimmung, die bisher alle Dekrete und Gesetze der Militärregierung von 1980 der gerichtlichen Kontrolle entzieht;

- die Reform des Nationalen Sicherheitsrats (Milli Güvenlik Kurulu; MGK), also des monatlich tagenden Gremiums, über das die Militärs unmittelbar Einfluß auf die Staatsgeschäfte ausüben und das daher als großer Stolperstein auf dem Weg nach Europa gilt. Der MGK berät über alle aktuellen innen- und außenpolitischen Fragen und ,,teilt dem Kabinett seine Ansichten zur Beschlußfassung mit", wie es in der Verfassung heißt. Ihm gehören bisher Generalstabschef Kivrikoglu und die Oberkommandierenden der vier Teilstreitkräfte auf der militärischen Seite und der Ministerpräsident sowie die Minister für Äußeres, Inneres und Verteidigung auf der zivilen Seite an; den Vorsitz führt der Staatspräsident und die Geschäftsführung liegt in den Händen eines Generals. Nach den Vorschlägen des Generalstabes sollen der Sicherheitsrat in der Verfassung zu einem ,,beratenden Organ" herabgestuft werden, das dem Kabinett lediglich ,,Empfehlungen" gibt, und die Zahl der Zivilisten darin aufgestockt werden;

- die Änderung der Verfassung bis Ende 2001 und Abschaffung der Einschränkungen von Grundrechten. Bis 2004 sollen das Justiz-, Bildungs- und Arbeitswesen demokratisch gestaltet werden.

Die ,,Empfehlungen" des Generalstabes wurden von der Regierung als ,,Befehl" verstanden und diesbezügliche Schritte bereits eingeleitet. Und von der Vertreterin der EU in Ankara, Karen Fogg, wurden die Vorschläge des Generalstabes begrüßt und als ,,ausgesprochen positiv" bezeichnet.3

Fazit: Beginn einer neuen Epoche?

Erinnern wir uns noch einmal an die Kernaussagen westlicher Politiker:

- US-Präsident Clinton forderte für die Kurden ,,das wesentlichste Geburtsrecht, das auf ein ganz normales Leben";

· Verheugen sagte, daß es ohne eine substantielle Veränderung der türkischen Kurdenpolitik keinen EU-Beitritt geben wird;

- erstmals in ihrer Geschichte unterzeichnete die Türkei eine internationale Erklärung, in der die Wörter ,,Kurden" bzw. ,,kurdisch" vorkommen. Hierin wird die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien, die auch die Rechte der ,,kurdisch-stämmigen türkischen Bürger" beinhaltet, und die Abschaffung der Todesstrafe gefordert;

- EU-Ratsvorsitzender de Gama erklärte, daß die türkische Regierung versichert habe, die Rechte der Kurden nach und nach, Schritt für Schritt zu gewähren.

Setzen wir diese Erklärungen der westlichen Politiker in eine Beziehung zu den letzten Erklärungen der politischen Funktionsträger in der Türkei, ergeben sie gemeinsam einen Sinn und ermutigen uns in der Hoffnung auf Frieden und Demokratie.

All diese Erklärungen stammen aus der jüngsten Zeit. Zusammengefaßt ergeben sie folgendes Bild: a) Ohne die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien wird es keinen Beitritt zur EU geben; b) um aber die Kopenhagener Kriterien zu erfüllen, muß die Türkei insbesondere die Kurdenfrage lösen; c) das heißt im Endeffekt, daß es ohne die Lösung der Kurdenfrage keinen EU-Beitritt geben wird.

Die ,,Kopenhagener Kriterien" sind die Formel, mit der versucht wird, die Türkei zu demokratisieren und die Kurdenfrage zu lösen. Und die Kurden sagen ,,ja" zu diesem neuen Kurs. Cüneyt Ülsever faßte seine Einschätzung nach dem Clinton-Besuch in seiner Hürriyet-Kolumne am 17. November 1999 so zusammen: ,,Seit Apo (Öcalan - die Red.) durch die USA an die Türkei ausgeliefert wurde, sage ich, soweit ich kann, daß die lebendige Auslieferung Apos den Beginn einer neuen Epoche für die Türkei bedeutet. Zu den Vorbereitungen der Türkei gehören Hausaufgaben. Clinton hat diese Hausaufgaben noch einmal erwähnt. Schlüssel für die Vorbereitung der Türkei für das nächste Jahrhundert ist die Stabilität. Sie geht über die Demokratie und Menschenrechte. Das heißt, daß die Stabilität der Türkei mit der Lösung der Kurdenfrage sehr eng verbunden ist."4

Der Abgeordnete und Ko-Vorsitzende der Parlamentariergruppe ,,Türkei" des Europäischen Parlaments, Daniel-Cohn Bendit, betonte in einem Interview mit der französischen Tageszeitung Le Monde, die Türkei habe die Alternative zwischen Bagdad und Barcelona. Bagdad bedeute, daß sich nichts ändere und der Staat eine unitaristische, zentralistische und kemalistische Republik bleibe wie bisher. Barcelona hingegen bedeute, daß die Türkei sich zu den Werten des Westens bekenne, sich umgestalte und eine föderative Struktur wie in Spanien annehme, in der die kurdischen Regionen als Teil der Türkischen Republik einen Status hätten wie dort Katalonien. Diese Türkei habe eine Zukunft in Europa.5

Die Türkei hat sich zu positiven Veränderungen zugunsten aller Beteiligten durchringen müssen. Und die Kurden haben auf dem Weg zur Neugestaltung des gesellschaftlichen Lebens in der Türkei tatkräftige Hilfe geleistet. Viele Signale deuten darauf hin, daß die Türkei sich verändern muß und wird, und zwar innerhalb der nächsten vier Jahre. Diesen Zeitrahmen hat die EU als Empfehlung vorgegeben, und zuletzt haben auch die Generäle diesen Terminplan unterstrichen. Es gibt kein Zurück mehr.

Ein Memorandum

In einem Ende Mai 2000 veröffentlichten Memorandum, das durch die Initiative des Dialog-Kreises ,,Krieg in der Türkei - Die Zeit ist reif für eine politische Lösung" (Köln) zustande kam und von vielen Friedens- und Menschenrechtsverbänden in Deutschland unterstützt wurde, werden fünf Schritte aufgeführt, die als erste unternommen werden sollten, um einen Beitrag zur Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts zu leisten. Dort heißt es: ,,Die von uns vorgeschlagenen ersten fünf friedenspolitischen Weichenstellungen in der Türkei beziehen sich alle auf Vertrauen bildende Maßnahmen. Sie können relativ einfach und schnell vollzogen werden und eine erhebliche Entspannung bewirken. Damit würden günstige Voraussetzungen für weitere Schritte gerade auch in bezug auf den beabsichtigten EU-Beitritt im demokratisch-politischen, menschenrechtlichen, wirtschaftlichen, entwicklungspolitischen, sozialen und rechtlichen Bereich geschaffen.

1. Die Einstellung der militärischen Operationen der türkischen Armee gegenüber der sich aus der Türkei zurückziehenden Guerilla und ihren Sammelplätzen außerhalb des Landes wäre ein unübersehbares Zeichen für die Bereitschaft Ankaras zu einer friedenspolitischen Lösung. Ihm kommt eine herausragende Bedeutung zu.

2. Die Beendigung des Ausnahmezustandes und die Auflösung der dazu gehörenden Institutionen (Supergouverneur, Spezialteams und Dorfschützer) sind die Voraussetzung für die Normalisierung des gesellschaftlichen Lebens und die Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung durch die gewählten Volksvertreter. In diesen Zusammenhang gehört auch die unbehinderte Organisationsfreiheit für Verbände und Parteien. Hierdurch kann ein Schub an Bereitschaft zur Bewältigung der Kriegsschäden und eine Eigenzuständigkeit der Menschen vor Ort gefördert werden.

3. Freilassung und Amnestie für alle ,Meinungstäter` und Abschaffung bzw. Außerkraftsetzung aller die freie Meinungsäußerung und die Medien einschränkenden Gesetze. Das Ziel ist, die Einschüchterung in der Meinungsäußerung zu überwinden und die öffentliche Diskussion über die Gestaltung von Gesellschaft gleichberechtigt zu ermöglichen.

4. Die am Krieg Beteiligten - seien es Türken, seien es Kurden - werden durch ein Amnestiegesetz für die Kriegshandlungen sowie für die politischen Einstellungen und Handlungen, die damit verbunden waren (z.B. Separatismusvorwurf), außer Strafverfolgung gesetzt. Das Ziel ist es, den Kriegsteilnehmern und Verantwortlichen eine Rückkehr und die Aufnahme eines verantwortlichen zivilen Lebens zu ermöglichen. Dadurch können mögliche Ansatzpunkte für eine erneute Eskalation von Gewalt auf beiden Seiten überwunden werden.

5. Die fünfte Weichenstellung ist die Aufhebung aller Einschränkungen für die sprachlichen, kulturellen und religiösen Ausdrucksformen der Menschen in der Türkei verschiedener ethnischer und religiöser Herkunft. Die Türkei muß endlich als Vielvölkerstaat akzeptiert werden. Dadurch würde die laizistische und nationale Grundausrichtung des Staates nicht in Frage gestellt, jedoch die unterschiedlichen Identitäten respektiert werden. Viele konfliktträchtige Problembereiche würden so überwunden, welche die Geschichte des türkischen Nationalstaates in der Vergangenheit schwerwiegend belastet haben. Gleichzeitig ließen sich wichtige ,Kopenhagener Kriterien` erfüllen.

In der Zeit notwendiger friedenspolitischer Weichenstellungen gilt nach wie vor der Satz aus dem ,Aufruf zu einem europäischen Friedensdialog` (aus dem Jahre 1995): ,Freundschaft zur Türkei kann in dieser historischen Situation nur heißen, ihrer großen Gesellschaft aus Türken, Kurden, Armeniern, aus Moslems, Christen und anderen Völkern und Religionen beizustehen, um Gespräche und Verhandlungen für das zukünftige friedliche Zusammenleben endlich beginnen zu lassen.` Friedenspolitische Weichenstellungen sind also auch von den EU-Staaten zu fordern."6

Es gibt - trotz aller Rückschläge und Widersprüche - begründete Hoffnung darauf, daß Frieden und Demokratie auch in einem Land wie der Türkei möglich sind.7

Mehmet Sahin, Publizist, Köln

Ralf Kaufeldt, Publizist, Köln

Anmerkungen

1 Frankfurter Rundschau, 27.12.1999; taz, 5.1.2000; Frankfurter Rundschau, Der Tagesspiegel, 12.1.2000; FAZ, Die Presse, Neue Zürcher Zeitung, Der Tagesspiegel, 13.1. 2000; Süddeutsche Zeitung, junge Welt, Neue Zürcher Zeitung, taz, Die Welt, AP, dpa, 14.1.2000; Der Tagesspiegel, 15.1.2000; Nützliche Nachrichten 1/2000

2 Berliner Zeitung, Neue Zürcher Zeitung, 28.4.2000; Die Welt, 2.5.2000; Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung, Neue Zürcher Zeitung, 6.5.2000; FAZ, 8.5.2000; Nützliche Nachrichten 2/2000

3 Milliyet, 9.5.2000; Özgür Politika, Frankfurter Rundschau, Freie Presse, 10.5.2000; Hürriyet, Die Welt, Süddeutsche Zeitung, Der Tagesspiegel, 11.5.2000; Berliner Zeitung, 15.5.2000; Nützliche Nachrichten 2/2000

4 Hürriyet, 17.11.1999

5 Le Monde, 18.5.2000

6 Nützliche Nachrichten 2/2000

7 Die Arbeit am Manuskript wurde Ende Mai 2000 abgeschlossen. Siehe auch das Buch von M. Sahin: ,,Türkei - Kurdistan: Eine Reise durch die jüngste Vergangenheit. Ein Dossier über das Jahr 2000-1", Köln, November 1999; oder die vierte Broschüre des Dialog-Kreises: ,,Eine europäische Friedensinitiative zur Kurdenfrage ist notwendig", Köln, Oktober 1999.