Die Islamische Republik Iran auf der Kippe?

Der Iran wird von einer Welle von Protesten gegen das herrschende Regime der Mullahs erschüttert. Das Regime reagiert mit der Festnahme von Demonstranten, der Drohung mit der Todesstrafe und der Organisation von Gegendemonstrationen. Mittlerweile sind mehr als 20 Tote zu beklagen, vor allem bei der Zivilbevölkerung, aber auch bei Polizei und Revolutionsgarden – alles Indizien für die Heftigkeit des Protestes.

Ausgangspunkt der Proteste vor einer Woche war eine Demonstration in Maschhad, der zweitgrößten Stadt Irans, wo mehr als tausend Arbeiter gegen die Wirtschaftspolitik des als gemäßigt geltenden Präsidenten Hassan Rohani demonstrierten. Dieser Protest weitete sich innerhalb weniger Tage zu einem landesweiten politischen Protest aus, wobei Messengerdienste wie Telegram mit ihren Verschlüsselungstechniken zur schnellen Informationsverbreitung und Protestorganisation beitrugen.

Während die Massenproteste von 2009, die sich an der Wiederwahl des Hardliners Ahmadineschad zum Präsidenten und der Vermutung von Wahlmanipulationen zu dessen Gunsten entzündet hatten, primär politisch motiviert waren und überwiegend von der gebildeten Mittelschicht bzw. der »grünen Bewegung« der Reformer getragen wurden, sind es jetzt vor allem Iraner der unteren Schichten, die gegen die fortschreitende Verschlechterung ihrer sozialen Lage protestieren, sowie auch junge Menschen unter 25 Jahren (darunter viele Frauen), denen der Arbeitsmarkt keine ausreichenden Beschäftigungsmöglichkeiten bietet. Polizeiberichten zufolge sind 90% der ca. 800 bisher Festgenommenen erst 25 Jahre alt oder jünger.

Die jüngere Generation im Iran hat offenbar weniger Hemmungen, sich auch offen kritisch gegen religiöse Institutionen und die Geistlichkeit des Landes zu wenden. In die Proteste gegen die Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage mischen sich daher auch weitergehende Proteste gegen die politische Unterdrückung durch die herrschenden politischen und religiösen Eliten insgesamt. Es wurden Regierungsgebäude gestürmt und, was bisher im Iran nicht der Fall war, auch Moscheen und theologische Einrichtungen angegriffen. Zum ersten Mal, seitdem Ali Chamenei 1989 die Nachfolge von Revolutionsführer Chomeini angetreten hat, kam es zu radikalen Parolen, die seinen Tod forderten, sowie zu der Forderung »Das Volk will ein Referendum«. Dadurch wird genau das Referendum infrage gestellt, auf Grund dessen 1979 die Islamische Republik im Iran eingeführt wurde. Im Unterschied zu 2009 wird damit auch die Systemfrage gestellt, d.h. die Frage nach der bestimmten religiös-politischen Verfassung der iranischen Gesellschaft selbst.

 

Was sind die Hintergründe für diese politische Entwicklung?

Die mit dem Atomabkommen von 2015 verbundene Lockerung der Sanktionen hat offenbar zu keiner deutlichen Verbesserung der sozialen Lebenslagen größerer Bevölkerungskreise im Iran geführt.

Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat zwar für 2017/2018 ein Wirtschaftswachstum im Iran von über 4% prognostiziert. Dieses Wirtschaftswachstum ist aber primär Folge eines moderat gestiegenen Ölpreises, was nicht automatisch zu mehr Arbeitsplätzen führt. Iran ist – ähnlich wie Saudi-Arabien – ein Rentierstaat, dessen Haupteinnahmequelle die Erlöse aus der Erdölproduktion darstellen. Alle bisherigen Erfahrungen zeigen, dass es in Rentierstaaten zu keiner nachhaltigen Veränderung im Sinne einer industriellen Grundierung der materiellen Produktion und deren permanenter technologischer Umwälzung kommt, wie dies in Ländern mit entwickeltem Kapitalverhältnis der Fall ist.

Andererseits drängen jedes Jahr über 800.000 junge IranerInnen in den Arbeitsmarkt, der die Zuwächse der arbeitsfähigen Bevölkerung aber nicht bzw. nicht im erforderlichen Umfang aufnehmen kann. Mit 25% ist die Jugendarbeitslosigkeit entsprechen hoch.

Die Revolutionswächter stellen eine paramilitärische Organisation zum Schutz des spezifisch iranischen politisch-religiösen Systems dar. Diese Organisation ist aber zugleich mit einem System von Institutionen bis hin zum Finanzsektor verquickt. Die Zentralbank entzog teilweise Banken, die zu dem Imperium der Revolutionswächter gehören und bei denen Millionen von IranerInnen Bankkonten haben, wegen illegaler Machenschaften die Lizenz. Durch ein völlig überhöhtes Zinsangebot (45%) haben sie ca. ein Viertel aller Bankeinlagen an sich gezogen, diese aber nicht in den Wirtschaftskreislauf investiert. Das Geld floss offenbar in andere Kanäle. Durch den Lizenzentzug oder auch durch Konkurs verloren viele SparerInnen ihre Einlagen. Erfahrungsgemäß sind solche verselbständigten Strukturen auch der Nährboden für massive Korruption.

Im neuen Staatshaushalt wurden die Subventionen für fast die Hälfte der Bevölkerung gekürzt, während gleichzeitig der Benzinpreis um 50% gestiegen ist. Die Inflationsrate ist zwar insgesamt seit Amtsantritt Rohanis deutlich gesunken, aber mit 10% immer noch hoch. Außerdem stieg der Budgetposten für die Revolutionswächter um 42%. Große Beträge in bisher nicht bekannter Höhe fließen auch in Stiftungen und religiöse Schulen von Religionsgelehrten und Mullahs.

Den Revolutionswächtern sind die Quds-Brigaden unterstellt, die für Irans Militäreinsätze im Ausland zuständig sind. Und der Kampf um die regionale Vorherrschaft im Nahen und Mittleren Osten, den sich Iran vor allem mit Saudi-Arabien liefert und der in den Militäreinsätzen eigener schiitischer Milizen und die Unterstützung ausländischer Milizen (Hisbollah) im Syrien-Krieg, aber auch in der Unterstützung der Huthi-Rebellen im Bürgerkrieg im Jemen, zum Ausdruck kommt, absorbiert erhebliche materielle und finanzielle Ressourcen.

Die gegenwärtige wirtschaftliche, soziale und politische Lage im Iran kann dahingehend zusammengefasst werden, dass auch der Rentierstaat Iran durch strukturelle Defizite gekennzeichnet ist, die von einer zu geringen industriell-technologischen Basis in der materiellen Produktion, über einen stark gesunkenen Ölpreises auf dem Weltmarkt bis hin zu einem überproportional zur materiellen Basis ausgedehnten militärisch-religiösen Komplex, der viel von dem erdölbasierten gesellschaftlichen Reichtum auffrisst, reichen. Das Atomabkommen und der in letzter Zeit moderat gestiegene Ölpreis können offenbar an diesen grundlegenden wirtschaftlichen Disproportionen und Modernisierungsdefiziten einer vormodernen, auf jeden Fall nicht durchkapitalisierten Gesellschaft eines Rentierstaates wie Iran nichts grundlegend ändern. Mit den vorhandenen materiellen und finanziellen Ressourcen und der Enge der politisch-religiösen Staatsverfassung, bei der das politische und geistliche Oberhaupt in der Person des Revolutionsführers vereint sind, die aber im Unterschied zur absolutistischen Monarchie Saudi-Arabiens immerhin demokratische Ansätze wie eingeschränkte Parlamentswahlen zulässt, können die vorhandenen gesellschaftlichen Widersprüche politisch nicht mehr ausreichend gemanagt und übertüncht werden.

Jede iranische Regierung, egal welcher politischen Strömung sie angehört, steht daher faktisch vor der immensen Herausforderung, substanzielle gesellschaftliche Reformen einzuleiten, die eine qualitative Veränderung der Strukturen der materiellen Produktion, eine massive Beschneidung der Privilegien des verselbständigten (para-)militärischen und religiös-kulturellen Überbaus und auch eine sukzessive Stärkung der Rechte der Frauen zum Ziel hat. Die Alternative besteht in einer brutal-repressiven Niederschlagung des Protestes und einer wachsenden politischen Fehlsteuerung in der gesellschaftlichen Krise mit dem Risiko zunehmender Verwerfungen, wovon der Nahe und Mittlere Osten leider schon zu viele Beispiele kennt.

US-Präsident Trumps außenpolitischer Strategie dürften die innenpolitischen Konflikte im Iran entgegenkommen, führen sie doch zu einer Destabilisierung des derzeitigen iranischen Regimes. Allerdings hat gerade die Geschichte Irans gezeigt, dass die alte Kolonialmacht England und die USA mit ihren Destabilisierungs-Strategien gegenüber Iran historisch immer Schiffbruch erlitten haben. In seiner Rede an die islamische Welt 2009 in Kairo räumte der damalige US-Präsident, Obama, offen ein: »Mitten im Kalten Krieg spielten die Vereinigten Staaten eine Rolle beim Sturz einer demokratisch gewählten iranischen Regierung.«

Dahinter verbirgt sich als historischer Tatbestand die aktive Vorbereitung und Unterstützung des Staatsstreiches gegen die Nationale Front im Iran durch den britischen und US-amerikanischen Geheimdienst. Die Nationale Front kämpfte gegen das Monopol der Briten auf die iranische Erdölindustrie und die fast vollständigen Abkassierung der Gewinne seit deren Anfängen 1906. Gleichzeitig herrschte in der Ölförderstadt Abadan am Persischen Golf de facto eine britische Kolonie, ein Apartheitssystem. »Nicht für Iraner«, hieß es an den Trinkwasserbrunnen. Die schlechten Arbeitsbedingungen führten immer wieder zu Protesten und Streiks, die gewaltsam niedergeschlagen wurden.

Ende der 1940er Jahre formierte sich der politische Protest. Eine Gruppe von Parlamentariern verlangte eine Neuaushandlung der Explorations-Verträge mit Großbritannien. Die in diesem Zusammenhang gegründete Nationale Front unter Führung von Mohammed Mossadegh forderte eine Beendigung der britischen Vorherrschaft, eine konstitutionelle Monarchie zur Zurückdrängung der Autokratie des Schahs, Pressefreiheit und freie Wahlen ohne Wahlfälschungen. Als Mossadegh 1951 Ministerpräsident und die iranische Erdölindustrie verstaatlicht wurde, sahen die USA und Großbritannien darin »einen gefährlichen Präzedenzfall« und unterstützten den Staatsstreich gegen die demokratisch gewählte Regierung. Nachdem dieser Staatsstreich erfolgreich war, kehrte der Schah aus seinem vorübergehenden Exil zurück, es wurden u.a. die Nationale Front verboten, zwei Minister hingerichtet, ebenso zahlreiche Kommunisten.

Der Schah zeigte sich gegenüber dem Westen erkenntlich. Er machte aus dem Iran einen amerikanischen Militärstützpunkt an der Südgrenze der Sowjetunion und Iran zum wichtigsten Verbündeten Israels in der Region. Damit kamen neben dem Interesse an Erdöl auch geo-militärische und -politische Motive des Westens im Zuge der damaligen Ost-West-Konfrontation zum Tragen. Der neue Erdöl-Vertrag sicherte dem Iran 50% der Erdöleinnahmen zu, deutlich mehr als bisher (!). Im Innern setzte der Schah »auf eine von oben betriebene Modernisierung des Landes, deren Nutznießer allerdings vorwiegend die dünne Oberschicht waren«. Der vom amerikanischen und israelischen Geheimdienst ausgebildete iranische Geheimdienst SAVAK wurde immer mehr zur Stütze des Regimes.

Das Ende des Schah-Regimes ist bekannt: »Der Basar, das traditionelle Rückgrat der iranischen Wirtschaft, und der Klerus entwickelten sich in den 1970er Jahren zu Hochburgen der Opposition unter Führung des charismatischen Ayatollah Khomeini, der erst vom Exil in Irak aus, später aus Paris, den Widerstand anführte und lenkte, bis zur Revolution 1979.« Im Iran kam es also mit der Gründung der Islamischen Republik zum ersten Mal in neuerer Zeit zur Re-Islamisierung einer überwiegend noch tradierten Gesellschaft mit dem Konstrukt einer relativen Einheit von politischer und geistlicher Macht. Auch wenn diese politisch-religiöse Entwicklung im Iran nicht mit der Entstehung des Jihadismus gleichgesetzt werden kann, so stellt diese Entwicklung im Iran auch eine Reaktion auf das Agieren der imperialistischen Mächte im Nahen und Mittleren Osten dar. Dem Westen war dies mitnichten eine Lehre.

Der schiitisch geprägte Rentierstaat Iran ist also insgesamt durch eine geschichtliche Entwicklung geprägt, in der sich immer wieder Teile der Bevölkerung gegen kolonialistische Ausbeutung sowie gegen repressive, autokratische Regimestrukturen wehrten. Ob die gegenwärtigen Proteste erfolgreich sein werden, bleibt abzuwarten. Ein wichtiger Erfolgsfaktor wäre das Zustandekommen eines breiten gesellschaftlichen Bündnisses gegen die herrschenden politischen und religiösen Eliten. Fakt ist aber, dass die Führung der »grünen Reformbewegung« derzeit weiter schweigt. Diese will »zwar eine Reform der Islamischen Republik, nicht aber deren Ende«.

Vor diesem Hintergrund ist die Außenpolitik Deutschlands und der EU gefordert, allen Drohungen des gegenwärtigen amerikanischen Präsidenten, das Atomabkommen mit Iran zu kündigen, strikt entgegenzutreten, da ein solcher Schritt gerade in der gegenwärtigen Situation zu einer Verschärfung der Krise im Iran führen würde. Schon die bisherige politische Praxis in den USA, dass der Präsident in bestimmten Abständen immer wieder die Aussetzung von Iran-Sanktionen verlängern, oder das Abkommen kündigen muss, stellt eine massive Verunsicherung von grundsätzlich investitionsbereitem ausländischem Kapital dar und schwächt die wirtschaftliche Entwicklung des Irans zusätzlich. Dabei wäre gerade die Stärkung einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung Irans erforderlich, weil dies die materielle Grundlage für gesellschaftliche Öffnung und Reformen ist.