Gespräch mit Kris Müller über eine Delegationsreise nach Kurdistan
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Gespräch mit Kris Müller über eine Delegationsreise nach Kurdistan
Im Norden Syriens haben kurdische Organisationen sich im Schatten des Bürgerkriegs daran gemacht, basisdemokratische Selbstverwaltung zu etablieren – jetzt sind sie durch islamistische Angriffe existentiell bedroht (s. auch den Text von Murat Çakır und Errol Babacan). Kris Müller war Ende September mit einer Delegation aus Deutschland in der Region unterwegs.
Express: Du bist gerade von einer Delegationsreise aus Kurdistan zurückgekehrt. Mit wem warst Du unterwegs?
Kris Müller: Zu der Reise aufgerufen hatte YXK, der Verband der Studierenden aus Kurdistan. Teilgenommen haben an die 20 jüngere Menschen, u.a. Studierende dieses Verbands und Leute aus verschiedenen deutschen linken Gruppierungen, z.B. der Interventionistischen Linken und solid.
Unser Ziel war Rojava – so wird der kurdische Teil Syriens genannt: Rojava heißt auf Kurdisch »Westen«, da es der westlichste Teil Kurdistans ist. Wir wollten den Kanton Cizirê besuchen, welcher im Norden Syriens, an der Grenze zur Türkei und zum Irak liegt. In Rojava organisiert die kurdische Bewegung seit Längerem und recht erfolgreich den Aufbau demokratischer Selbstverwaltungsstrukturen. Das wollten wir uns aus der Nähe anschauen, unsere Solidarität mit diesem Projekt zu Ausdruck bringen und anschließend in Deutschland darüber berichten.
Wie ist die Reise verlaufen? Was hattet Ihr Euch vorgenommen, was habt Ihr gemacht?
Wir haben uns als Delegation in Erbil getroffen, das ist die Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak. Von dort sind wir in Richtung der syrischen Grenze gefahren, sind aber kurz davor von den Peschmerga-Kräften, die den Nordirak kontrollieren, aufgehalten worden. Auch mehrere Versuche, durch politischen Druck über die Grenze zu kommen, sind nicht geglückt. Daraufhin haben wir die Delegationsgruppe aufgeteilt. Ein Teil ist in den türkischen Teil Kurdistans gereist, um von dort nach Cizirê zu gelangen. Aber auch hier wurde die Einreise nicht genehmigt, da der türkische Staat versucht, das Projekt Rojava zu isolieren, also auch Berichterstattung vor Ort zu verhindern. Nach diesem gescheiterten Versuch hat sich die Gruppe auf den Weg nach Suruç gemacht, das liegt in der Türkei direkt gegenüber der syrisch-kurdischen Stadt Kobane, die zur Zeit so heftig vom IS angegriffen wird. Unser Ziel war es, die Proteste der kurdischen Bevölkerung zu dokumentieren, die versucht hat, die Blockade der Grenze durch die türkische Polizei und das Militär zu durchbrechen. Der andere Teil ist in der Autonomen Region Kurdistan geblieben und hat sich u.a. in Sulaimaniyya mit verschiedenen Institutionen und PolitikerInnen getroffen. Besonders wichtig war der Besuch bei der PYD*, also der »Partei der Demokratischen Union«, und Gespräche mit der »Partei der demokratischen Lösung« (PCDK)*. Die PYD ist die linke kurdische Partei in Rojava, die im Nordirak eine Vertretung unterhält. Die PCDK ist die linke kurdische Partei im Irak und vergleichbar mit der BDP*, der »Partei für Demokratie und Frieden« in der Türkei. Beide Parteien haben es zur Zeit nicht leicht in den Teilen Nordiraks, in welchen Barzani das Sagen hat. So wurde z.B. das Büro der PYD in Erbil vor wenigen Wochen geschlossen. Insgesamt haben es die politischen Strukturen, die der PKK und YPG nahe stehen, im Irak sehr schwer. Ein wichtiger Ort, den wir besucht haben, war das Flüchtlingscamp Bajanda Kandala an der irakisch-syrischen Grenze. Das Camp wurde schon zu Beginn des syrischen Bürgerkrieges errichtet, ist aber jetzt noch einmal enorm gewachsen, weil die Flüchtlinge aus Sengal hinzugekommen sind, die vom IS vertrieben worden sind. Mit den Menschen vor Ort haben wir über die Situation im Camp und ihre Flucht gesprochen.
Sengal ist deswegen wichtig zu erwähnen, weil die Peschmerga der kurdischen Autonomieregierung im Irak es dort nicht geschafft haben, die jesidische Minderheit vor dem IS zu schützen und sogar vor den Angriffen der IS geflohen sind, ohne die Bevölkerung zu warnen. Zudem hat es einige Tage gedauert, bis der Vorsitzende der kurdischen Autonomieregion, Barzani, der PKK und YPG* erlaubt hat, die Grenze zu übertreten. Sie haben es schließlich geschafft, einen Fluchtkorridor freizukämpfen, über den sich viele Menschen in die Türkei, nach Rojava und in Gebiete im Nordirak, wie eben das Camp Bajanda Kandala, in Sicherheit bringen konnten. Wichtig ist also der Unterschied zwischen der Regierung der »Autonomen Region Kurdistan« und der kurdischen Bewegung, welche der PKK und der PYD* nahe steht. Barzani setzt auf die Ideologie des Nationalstaates, die Fraktion um die PKK und PYD lehnt diese komplett ab. Das führt zu mehr oder weniger offenen Konflikten.
Gegen Ende September hat sich dann die ganze Delegation in Amed/Dyarbakır wiedergetroffen, wo wir Gespräche mit dem Vorsitzenden des »Demokratischen Gesellschaftskongresses«, Hatip Dicle, führen konnten. Das ist ein unabhängiges Parlament im kurdischen Teil der Türkei, das die Bewegung dort in Eigenregie, aufbauend auf verschiedenen Räten, politischen und gesellschaftlichen Organisationen, eingerichtet hat. Es wird durch den türkischen Staat natürlich nicht anerkannt und viele seiner Mitglieder, u.a. Hatip Dicle selbst, waren jahrelang inhaftiert.
In Syrien ist seit 2011 ein Bürgerkrieg im Gang. Wie ist er in den kurdischen Gebieten verlaufen?
Die kurdische Bewegung in Syrien hat schon zu Beginn des Bürgerkrieges, also als die syrische »Arabellion« gegen Assad sich zu einem Bürgerkrieg gewandelt hatte, eine andere Position eingenommen als der Großteil der syrischen Opposition, vor allem weil Letztere die kurdischen Rechte nicht anerkennen wollte. Als Hauptziel wurde von den Kurden formuliert, die eigene Region und Bevölkerung gegen alle Angriffe zu verteidigen. Zugleich befand sich der syrische Staat auf dem Rückzug. Die Funktionäre des Staates waren fast alle aus Zentralsyrien eingesetzt, es gab also keine jahrzehntelang gewachsenen und verankerten staatlichen Strukturen. Viele von ihnen wurden abgezogen, andere ohne größere militärische Aktionen von der kurdischen Bewegung aus Rojava verdrängt. Im Januar hat Rojava sich dann zur autonomen Region erklärt und alle anderen Kommunen und Städte in Syrien eingeladen, das gleiche zu tun. Entstanden sind drei Kantone: Afrin, Kobanê und Cizirê.
In diesen werden seitdem radikaldemokratische Vorstellungen umgesetzt, die einen Versuch darstellen, in einer sehr heterogenen Gesellschaft geeignete Formen des Zusammenlebens zu entwickeln, mit denen die Unterdrückung der Minderheiten beendet werden soll, wie sie unter dem syrischen Machthaber Assad üblich war und auch in der Türkei zu finden ist.
Gedacht sind die neuen Strukturen als Gegenkonzept zu der bislang auch in der kurdischen Bewegung verbreiteten Idee eines eigenen Nationalstaats. Ein solches Projekt ist ein absolutes Novum im gesamten Nahen und Mittleren Osten und ein Angebot der kurdischen Bewegung für eine neue Gesellschaft in der ganzen Region. Es sollte ein wichtiger Bezugspunkt für demokratische Bewegungen weltweit sein.
Diese Orientierung geht offenbar auch auf Überlegungen des inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan zurück, der immer noch großen Einfluss genießt. Er propagiert ein Modell namens »Demokratischer Konföderalismus«. Was wird darunter verstanden?
Seit Anfang der 2000er Jahre gibt es einen grundlegenden Bruch in der Politik der PKK. In der Gründungszeit zielte die PKK auf einen eigenen kurdischen Nationalstaat ab, in dem dann alle Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse beseitigt werden sollten. Das galt bis in die 90er Jahre. Seitdem wird das Konzept Nationalstaat eher als Teil des Problems gesehen, weil nicht zu garantieren ist, dass sich in einem neuen Staat nicht die alten Herrschaftsverhältnisse in neuer Form wiederfinden. Außerdem wurde verstärkt die Frage aufgeworfen, was eine Revolution eigentlich für die einzelnen Menschen bedeuten könnte. Damit rückte auch die Frauenbefreiung ins Zentrum der politischen Vorstellungen: Statt sie in eine Zukunft nach der angestrebten Staatsgründung zu vertagen, wird sie als Problem begriffen, das sofort angegangen werden muss – auch in den eigenen Strategien und Organisationen. Jetzt geht es um drei Aspekte: radikale Demokratie, Geschlechterbefreiung und ökologische Gesellschaft. Diese Punkte wurden in den 2000er Jahren offiziell in Programm und Praxis der PKK aufgenommen, die Diskussion darum ist allerdings deutlich älter.
»Demokratischer Konföderalismus« meint die Art und Weise, wie sich autonome Regionen auf übergeordneter Ebene organisieren. Ihm geht das voraus, was als »demokratische Autonomie« bezeichnet wird, also die lokale Organisation von Regionen und Städten in Rätestrukturen und lokalen Kommissionen, und ökonomisch die Bildung von Kooperativen. Auf der föderalen Ebene soll nur behandelt werden, was lokal nicht gelöst werden kann. Wichtig sind die Garantien für religiöse und ethnische Minderheiten, die alle zur Beteiligung an dieser Selbstverwaltung aufgefordert sind. Außerdem wird die Selbstorganisation von Frauen und Jugendlichen gezielt gefördert.
Inwiefern entspricht die Realität in Rojava diesem Modell?
Der Aufbau findet in Zeiten des Bürgerkriegs statt. Der Fokus liegt im Moment eindeutig auf der Selbstverteidigung. Aber auch hier finden sich die genannten Grundsätze wieder: Angestrebt wird, dass jede Region zur Selbstverteidigung in der Lage ist. Die bewaffneten Einheiten wie die HPG* tauchen bestenfalls nicht einfach im Notfall auf und verschwinden dann wieder, sondern unterstützen den Aufbau der Selbstverteidigung vor Ort. So wurden z.B. nach dem Angriff des IS in Sengal in Zusammenarbeit mit der jesidischen Bevölkerung eigene Verteidigungskräfte aufgebaut.
Die Verteidigung in Rojava leisten die »Volksverteidigungskräfte« YPG, die aus Männern und Frauen bestehen, und die Fraueneinheiten der YPJ. Letztere machen schätzungsweise 30 Prozent aus. Beide Seiten koordinieren sich, es gibt aber keine Befehlskette von der YPG an die YPJ.
Trotz Bürgerkriegssituation scheinen auch die neuen politischen Strukturen in weiten Teilen Rojavas zu funktionieren und eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz zu haben. Es wird darauf geachtet, alle in die demokratischen Strukturen einzubinden. So sind auch verschiedene ethnische und religiöse Gruppen mit verbindlichen Quoten im Regionalparlament vertreten. Bemerkenswert ist auch, dass trotz Hunderttausender Flüchtlinge, die nach Rojava gekommen sind, weil es das sicherste Gebiet in Syrien war, keine Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen zu beobachten sind. In Syrien sind zurzeit mehrere Millionen Binnenflüchtlinge unterwegs, deren Großteil in die kurdischen Gebiete geflohen ist.
Eine wichtige Vereinbarung, welche die Rechte von Frauen und ihre Partizipation am gesellschaftlichen Leben garantiert, ist der sogenannte Gesellschaftsvertrag der Kantone von Rojava. Dort steht ausdrücklich drin, dass alle Frauen das Recht zur Selbstverteidigung und zur Bekämpfung jeglicher Unterdrückung haben. Diese Selbstverteidigung bezieht sich nicht nur auf eine physische, sondern auch auf eine psychische Ebene. Kernpunkt ist dabei die autonome Organisierung von Frauen. Zudem ist im Gesellschaftsvertrag auch eine Quote von 40 Prozent für alle politischen Ämter festgelegt. Aktuell besonders bedeutsam ist die militärische Präsenz der Frauen: Sie tauchen dadurch unübersehbar im öffentlichen Leben auf und lernen, sich zu organisieren und zu verteidigen. Der Angriff des IS ist nicht zuletzt darin begründet, dass sich diese Vorstellungen der Rollen von Männern und Frauen diametral entgegenstehen. Über die islamistischen Kämpfer wird auch berichtet, dass sie sich vor den Fraueneinheiten besonders fürchten, weil ihnen in ihrem wahnsinnigen Weltbild der Weg ins Paradies verwehrt bleibt, wenn sie durch eine Frau getötet werden.
Wie diskutieren die KurdInnen, mit denen Ihr Euch in der Türkei, getroffen habt, die Politik von Erdogan? Ihm und seiner Regierungspartei AKP wird immer wieder vorgeworfen, mindestens zu wenig gegen den IS vorzugehen, andererseits hat er während des Vorrückens des IS Militär an der Grenze zu Syrien aufmarschieren lassen...
Das Interesse der Türkei ist offensichtlich, die kurdische Bewegung einzudämmen und den Aufbau der selbstverwalteten Strukturen zu verhindern, weil sich dies direkt an der Grenze abspielt und auf beiden Seiten der Grenze im Prinzip die gleiche Gesellschaft zu finden ist – wie man jetzt sehen konnte, als sich Tausende auf der türkischen Seite versammelt haben, um nach Kobane zu kommen und die Selbstverteidigung zu unterstützen. Was in deutschen Medien sehr vage formuliert wird, ist Tatsache: Die Türkei unterstützt den IS. IS-Kämpfer werden in türkischen Krankenhäusern behandelt, ihr Grenzverkehr wird nicht behindert, und es sind Panzertransporte aus der Türkei in Richtung IS dokumentiert worden.
Die kurdische Bewegung in der Türkei hat seit zwei Jahren auf den demokratischen Aufbau gesetzt, aber auch intensive Gespräche mit der türkischen Regierung geführt. Jetzt ist der Punkt gekommen, an dem sich die türkische Regierung entscheiden muss, ob sie diesen demokratischen Lösungsprozess ernst meint oder nur strategisch nutzt. Mit den Luftangriffen der türkischen Armee auf Stellungen der PKK in der Türkei hat sich die Regierung entschieden, den Prozess aufzukündigen und sich nun endgültig auf die Seite des IS zu stellen.
Die Türkei hat von Anfang an den Teil der syrischen Opposition unterstützt, der sich als syrische Übergangsregierung in Istanbul konstituiert hat, und der keine gesellschaftliche Perspektive für ein Syrien nach Assad hat, die Rechte der Minderheiten nicht anerkennen will, aber auch intern nicht einig ist. So haben z.B. kleinere Teile der »Freien Syrischen Armee« vor Kurzem ein gemeinsames Vorgehen mit YPG und YPJ gegen den IS vereinbart.
Das Hauptinteresse der Türkei ist, eine kurdische Selbstorganisation zu unterbinden und Assad zu stürzen. Solange Kobane nicht fällt, wird die türkische Armee aber vermutlich nicht in Rojava einmarschieren, weil die kurdische Bewegung unmissverständlich erklärt hat, dass sie das als Kriegserklärung werten würde – und zwar auch an die KurdInnen in der Türkei.
Wie reagiert die kurdische Bewegung in der Türkei darauf?
Ende September hat die PKK den Waffenstillstand mit dem türkischen Staat aufgehoben. Begründet wurde das damit, dass sie und Öcalan der Türkei in den Gesprächen um eine demokratische Lösung weit entgegengekommen sind, von türkischer Seite aber nichts zurückgekommen sei. Hinzu kommen die Angriffe der türkischen Polizei und des Militärs auf die Bevölkerung in Suruç.
Abdullah Öcalan hatte ein Ultimatum formuliert, mit dem er die türkische Regierung aufgefordert hat, minimale Verbindlichkeit für den bisherigen Lösungsprozess zu gewährleisten. Das heißt zum Beispiel, dass wenigstens die Protokolle seiner Gespräche mit den Regierungsvertretern von beiden Seiten unterzeichnet werden sollen, damit die Öffentlichkeit nachvollziehen kann, wie die Gespräche verlaufen. Außerdem hat er die Einrichtung eines Büros auf der Gefängnisinsel verlangt, so dass der Prozess nach außen vermittelt und die Arbeit an einer Lösung intensiviert werden kann. Der türkische Staat ist aber offensichtlich nicht zu ernsthaften Friedensgesprächen bereit, und die AKP verschärft ihre Gangart gegen die KurdInnen in der Türkei. Diese Positionen wird sie auf absehbare Zeit nicht ändern. Vor diesem Hintergrund haben die kurdischen Strukturen in der Türkei jetzt die ganze Bevölkerung zum Widerstand gegen die AKP-Regierung aufgerufen. Und so finden inzwischen in allen kurdischen Städten Massendemonstrationen statt. Die Reaktion des türkischen Staates ist, wieder all die Gruppierungen zu mobilisieren, die auch früher schon dazu genutzt wurden, KurdInnen anzugreifen. So gab es Schüsse von sogenannten »Dorfschützern« auf Demonstrationen; die türkische Hizbollah*, die in den 90ern vom Geheimdienst gegründet wurde, um wichtige Figuren der kurdischen Bewegung auszuschalten, ist wieder mobilisiert; die türkischen Faschisten sind ebenfalls aktiv. In Istanbul ist es sogar zu Lynchmorden an KurdInnen gekommen. Ob die AKP darüber die Kontrolle behalten kann, ist fraglich.
In kurdischen Städten wird wiederum teilweise versucht, die Institutionen des türkischen Staates zu vertreiben. In Diyarbakir wurde zum Beispiel das AKP-Büro angegriffen, woraufhin in vielen Städten Ausgangssperren verhängt wurden und das türkische Militär auf den Straßen patrouilliert. Was mit Menschen passiert, welche darüber berichten wollen, haben wir an den deutschen Journalisten gesehen, die vor ein paar Tagen in Diyarbakir verhaftet wurden – Vorwurf: Spionage.
Die PKK hält sich bislang zurück, es gab noch keine militärischen Angriffe auf staatliche oder faschistische Strukturen in der Türkei. Mir scheint, dass nach wie vor angestrebt wird, eine solche Eskalation und einen offenen Krieg zu verhindern, denn er würde vermutlich tausende Tote bringen.
Und was denkst Du, welche politischen Ansätze von Deutschland aus bzw. in Deutschland unterstützt werden sollten?
Statt auf Barzani im Nordirak zu setzen, sollte die PYD und das Autonomieprojekt in Rojava auch durch die Bundesregierung anerkannt werden. Es braucht darüber hinaus eine scharfe offizielle Kritik an der Politik der Türkei. In der jetzigen Situation geht es nicht nur um deren Zusammenarbeit mit dem IS, sondern es werden gerade all die Strukturen wieder deutlich, auf denen die AKP ihre Macht errichtet hat: die Verbindungen zu Hizbollah und Faschisten, die auch in den Gezi-Protesten schon sichtbar waren, als paramilitärische Trupps Protestierende zusammengeschlagen haben.
Wichtig ist außerdem die Diskussion um das PKK-Verbot in Deutschland, die ja bereits zaghaft begonnen hat. Niemand kann sich jetzt mehr rausreden: Die PKK muss hier von der Terrorliste gestrichen werden. Nicht nur weil sie mit der HPG und der Nähe zur YPG und YPJ gerade die einzige Kraft ist, die dem IS etwas entgegenzusetzen hat, sondern auch, weil sie ein emanzipatorisches Projekt verkörpert. Darüber hinaus ist das PKK-Verbot die Grundlage aller Kriminalisierung kurdischer Aktivitäten in Deutschland. Die kurdische Bewegung ist ohne PKK nicht denkbar, und es bestehen starke theoretische Verbindungen zu dieser Organisation, die es dem deutschen Staat leicht machen, alles Mögliche zu kriminalisieren. Persönlich finde ich es auch wichtig, sich die Frage zu stellen, wie wir uns selbst so organisieren können, dass wir in unserer Solidaritätsarbeit effektiver werden. Dabei geht es nicht mehr nur um die Solidarität mit Kobane. Vor wenigen Tagen wurde in Hamburg zum Beispiel ein kurdischer Kulturverein von Islamisten attackiert, mehrere Menschen wurden verletzt.
Der Vorschlag zur gesellschaftlichen Veränderung, den die kurdische Bewegung in Rojava etabliert hat, geht auch an uns: Wir sollten diskutieren, was wir davon lernen können. Vielleicht ist die Idee der Demokratischen Autonomie auch eine Perspektive für Kämpfe in der BRD?
Ich halte auch die Forderung nach Bewaffnung der YPG für richtig, wie sie zurzeit in einer linksradikalen Spendenkampagne formuliert wird. Neben der finanziellen Unterstützung der YPG/YPJ, deren konkrete Relevanz ich nicht einschätzen kann, ist aber der Punkt zentral, dass wir diesen Organisationen durch unsere Unterstützung eine Legitimität in der Gesellschaft hier geben. Dies wird die Bundesregierung nämlich nicht tun, denn zu unterschiedlich sind die Vorstellungen davon, wie eine gute Gesellschaft aussehen könnte.
Vielen Dank für das Gespräch.
* Kris Müller ist Mitglied der Gruppe d.i.s.s.i.d.e.n.t., organisiert in der Interventionistischen Linken und seit einigen Jahren in der deutschen Kurdistan-Solidarität aktiv. Er lebt in Marburg.