Krisenzeiten sind Herrschaftszeiten

Einleitung zum Schwerpunkt Heft 60

in (17.04.2012)

In Zeiten "der Krise" geben sich Kanzlerin und Finanzminister in Deutschland gern Sorge tragend gelassen. Ein Grund dafür ist vielleicht die Tatsache, dass sich ökonomisch schwächelnde EU-Mitgliedsländer politisch eleganter nach Vorstellungen "deutscher Interessen" einigen lassen, denn abweichende Interessen sind günstig eingeschränkt. Vielleicht steht deshalb eine Aufstockung des Euro-Rettungsfond ESM dieser Tage nicht im vornehmlichen Fokus. Es geht um "Rettung". Diese soll in "der Krise" "Stabilisierung" bringen. Im Zentrum der Diskussion steht die auch in Krisenzeiten kontinuierliche Stärkung des "Wirtschaftsstandorts". Von dessen Boden aus dieser Tage, wie es in der "WELT" zu lesen war, der "Export [...] durch die Decke [geht]". Gemeint war die Rekordbilanz des deutschen Außenhandels, der die Eine-Billion-Marke erreichte.
"Die Krise" kennt eben auch "Gewinner". "Gewinner", die gelassen sein können. "Gewinner", die mit jedem "Gewinn" "Verantwortung" bekunden. "Verantwortung" im Zeichen "eigener" und gern auch offen als "deutsch" benannter Interessen.
So in etwa präsentiert sich gegenwärtig das, was im Jahr 1998 vom Vorgänger der Kanzlerin, Gerhard Schröder, erklärt wurde, "Selbstbewusstsein einer erwachsenen Nation, die sich niemandem über-, aber auch niemandem unterlegen fühlen muss". Geschichte als Selbstfindungsprozess. In die langen Kindertage dieser Nation ist ihr Chauvinismus gelegt. Eingängig verklärt, wird in dieser Trennung Nationalismus immer offener als “gesund" de-thematisiert. Das Reden über "die Krise" zeugt davon. Einem willkürlich herausgenommenen taz-Interview lässt sich entnehmen: "Wenn eine Lösung für Europa gut ist, ist sie gut für Deutschland, das wird nun immer deutlicher. Und wenn etwas für Europa schlecht ist, kann es nicht gut für Deutschland sein." (Wolfgang Schäuble im Interview der sonntaz vom 21.01.2012) "Europa, einig Vaterland", so ließe sich das Credo deutscher "Europabefürworter" auf den Begriff bringen. Ein solch "gesunder" Nationalismus hilft innerhalb eines "geeinten Europas" Gewinne und Verluste, die die Märkte so abwerfen, national zu sortieren, sprich: äußerst ungleich zu verteilen.
"Die Griechen", "die Italiener", "die Spanier" werden für "ihre Krise" in hohem Maße selbst verantwortlich gemacht. Im Zweifel in ihrer Eigenart "faul"..., nein: "Griechen", "Italiener" oder "Spanier" zu sein - "wir" "kennen" "sie". Es ist von daher auf den Gesundheitszustand Gesamteuropas zu achten. In dieser Sorge lassen sich nationale Interessen, selbstbewusst als "Hilfe" dosiert, durchsetzen. Wie von selbst verläuft die Einschließung der Wenigen und Ausschließung der Vielen. Dies eint nach innen und nach außen. Es läuft parallel damit, die Kosten der "Gewinner" legitim auf Seiten der "Verlierer" zu verbuchen. Dies lässt "Gewinner "und "Verlierer" spiegelbildlich als Ergebnis eigener Leistungsfähigkeit erscheinen.
Rassismus wirkt dabei als eine Art naturidentisches Schmiermittel, dessen ideologische Zusammensetzung seine sozialpolitische Viskosität bestimmt. Die Qualität bestimmt sich darin, welch gesellschaftlich gegenläufige Bewegungen es kühlend zusammenhält. In "Krisenzeiten" beispielsweise darin, dass in verbreiteter Öffentlichkeit nicht mehr Rassist sein muss, wer rassistisch denkt. Geschmeidiger lassen sich gesellschaftliche Widersprüche kaum vertiefen.
Sein eigentlich ganz hübscher Namen ist zwar kaum mehr zu hören - doch brachte der derzeit bekannteste Träger dieses Namens deutlich vor Augen, was sich nach alter rassistischer Grammatik unter Applaus noch so alles durch deklinieren lässt - Thilo Sarrazin. Er kenne keine sozialen Unterschiede mehr, er kenne nur noch des Deutschen Gen - so lassen sich seine als Thesen verklärten Rassismen auf den Punkt bringen. Sein Aussprechen "eigentlicher Wahrheiten" wurde vielfach begrüßt. In Stärke und Wucht, die sich eine Volkspartei nur wünschen kann und in dessen Stärke Sarrazin vor allem bleiben wollte - allen Avancen von "Die Freiheit" und "Pro-Deutschland" zum Trotz.
Die Kontroverse zeigte im Gegensatz zu allem Aufschrei "in der Sache" viel Zustimmung - und sie zeigte viel auf. Zum einen, wie vielen Menschen quer durch alle sozialen und politischen Schichtungen hindurch eine biologistische Verankerung sozialpolitischer Problemlagen plausibel erscheint. Zum anderen, wie wenigen Menschen die sozialpolitischen und ökonomischen Verhältnisse in ihrer Verschränkung selbst als mögliche Ursache einleuchten. Letztlich, in welch geringem Maß vielen soziale Verhältnisse politisch und damit veränderbar erscheinen.
Allen Verurteilungen und Kritiken Sarrazins zum Trotz wurden seine Behauptungen als Fingerzeig verstanden. Gefolgt wurde diesem medial vor allem nach Kreuzberg und Neukölln. Die vorgestellten Zahlen sprechen für sich – natürlich selten ohne Hinweis auf die hohe Zahl an "Arbeitslosen" und "Migranten" - Zahlen sprechen für sich. Dieser Fokus reproduziert darin den vorbehaltlosen, sprich: unreflektierten, rassistischen Blick auf gern so genannte "soziale Brennpunkte". "Wie umgehen mit...?" war die Leitfrage. Eingesetzt wurde und wird wahlweise und erweiterbar: "...den Migranten?", "...den Roma?", "...den Parallelgesellschaften?", "...den Arbeitslosen?". "Reflektiert" wurde, ganz wie es Sarrazin aufgeworfen hat und in dessem Lichte es andere rassistische Adepten gern beleuchtet sehen, auf den Umgang mit "etwas" "in" der Gesellschaft. Etwas, das äußerlich "erscheint" - beispielhaft an "Brennpunkten" zu sehen. Weit entfernt war diese Perspektive davon, vielfache Ausgrenzungen antirassistisch zu lesen, sie als Rassismen kenntlich zu machen. Beispielsweise wie Menschen nicht zur deutschen Staatsangehörigkeit kommen. Wie Menschen sozialpolitisch zu Problemen zusammengefasst werden. Mehrheitsfähig biologisiert wurde der sozial Schwache als etwas der Gesellschaft genotypisch Äußeres, mit dem gesondert umzugehen sei. Vorzugsweise war und ist dies "der Migrant" - "dem" diese Eigenschaft gern genetisch zugeschrieben wird. "Er" ist und bleibt was andere getan haben. Doch machte nicht nur Sarrazin deutlich, dass er für soziale Unterschichten im Allgemeinen nicht viel übrig hat und Sozialpolitik für Träumerei hält.
Die sozialen, politischen, ökonomischen Verlierer sind in einem solchen Denken vollends verloren und Menschen mit guter gesellschaftlicher Gewinnbeteiligung wie ein Thilo Sarrazin und seine AnhängerInnen halten sich für Mahner der eigentlichen Verlierer. Es ist ihre Wahrheit mit blutiger Geschichte, wenn diese zu ihrem erwachsenen Selbstbewusstsein kommt.
Die derzeitigen politischen "Gewinner" mit Regierungsmacht erscheinen dagegen unerschrocken. Sie lassen "die Krise" selbst sprechen. Passende Sprachrohre finden sich, ohne zu suchen. Politischer Knackpunkt für Regierende ist derzeit weniger "die Krise", sondern wer sie wie managed. Solange an "der Krise" ausreichend "gemeinsam" mitgewerkelt werden kann, gibt es beste Chancen, diese auf der Habenseite zu verbuchen. Auf der Sollseite sind die Vielen zu finden, für die "die Krise" oder vielmehr "die Krisen" selbst das Problem sind.
Ein erstarkender "gesunder Nationalismus", der allen ernstes ohne Rassismus daher kommen soll, sorgt bei dieser Krisenpolitik vor allem für die Selbststeuerung der sozialen Frage im Sinne "stabiler", sprich "geschmeidiger", sprich regierungsfähiger Verhältnisse, und beschränkt den Zugang der "Verlierer" zu einer "wehrhaften Demokratie".
Fast wie im antiken Athen, nur größer.
Eure ZAG