Der argentinische Ex-Präsident Néstor Kirchner ist gestorben
Die argentinische Bevölkerung trauert zusammen mit Ehefrau und Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner um den ehemaligen Regierungschef, der auch nach seiner Amtszeit großen Einfluss in Argentinien hatte. Noch ist unklar wie sich Néstor Kirchners Tod auf die Präsidentschaftswahlen 2011 auswirken wird.
Sämtliche
Geschäfte waren geschlossen, die Straßen von Buenos Aires am Morgen wie
leergefegt. Wer am vergangenen 27. Oktober dennoch unterwegs war,
gehörte ziemlich sicher zum Personal, das die an diesem Tag
stattfindene Volkszählung in Argentinien durchführte. So erreichte die
Nachricht die meisten Menschen per Telefon: „Hast Du schon gehört?
Kirchner ist gestorben!“ Da sie das Haus möglichst erst nach der
statistischen Erfassung verlassen sollten, harrten viele vor dem
Fernseher aus. Der plötzliche Tod des argentinischen Ex-Präsidenten
Néstor Kirchner, der im Alter von 60 Jahren einem Herzinfarkt erlegen
war, beherrschte auf fast allen Kanälen das Programm.
Ab dem Nachmittag versammelten sich zehntausende Menschen spontan im
Zentrum der Hauptstadt, um zu trauern und der amtierenden Präsidentin
und Ehefrau Kirchners, Cristina Fernández de Kirchner, ihren Beistand
auszusprechen. „Danke Néstor“ und „Sei stark Cristina“ waren die
dominierenden Statements. Immer wieder skandierte die Menge Slogans zur
Unterstützung des politischen Reformprojekts, das die Kirchners seit
2003 repräsentieren. Viele blieben über Nacht auf der Plaza de Mayo,
direkt vor dem Präsidentenpalast Casa Rosada, um auf die Ankunft des
Leichnams zu warten. Zur öffentlichen Totenwache am folgenden Tag
reisten fast alle südamerikanischen Präsidenten an. Zahlreiche
AnhängerInnen Kirchners nahmen den weiten Weg auch aus abgelegenen
Provinzen auf sich, um den Ex-Präsidenten zu verabschieden. Am 30.
Oktober wurde der Leichnam dann unter großer Anteilnahme in Río
Gallegos beigesetzt, der Heimatstadt Kirchners im Süden Patagoniens.
Dass Kirchners Tod einmal eine derart überwältigende Resonanz in
Argentinien und der gesamten Region auslösen würde, hatte bei seinem
Amtsantritt 2003 wohl niemand erwartet. Mit gerade einmal 22 Prozent
der Stimmen übernahm er damals in einer fundamentalen
Legitimationskrise der Politik das Präsidentenamt. Ende 2001 war der
damalige Präsident Fernando de la Rúa vor wütenden Massenprotesten mit
dem Hubschrauber geflohen. „Alle sollen abhauen“, war die zentrale
Forderung jener Tage, der Zorn richtete sich gegen die Politik an sich.
Die Diskreditierung der politischen Eliten öffnete Räume für soziale
Mobilisierung von unten: Formen solidarischer Ökonomie wie etwa
Tauschringe, kollektiv betriebene Fabriken, Stadtteilversammlungen,
Straßenblockaden der organisierten Arbeitslosen.
Mit Unterstützung des Interimspräsidenten Eduardo Duhalde gelang dem
weitgehend unbekannten Gouverneur der südlichen Provinz Santa Cruz,
Néstor Carlos Kirchner, schließlich der Sprung ins Präsidentenamt.
Carlos Menem, der neoliberale Ex-Präsident der 1990er Jahre, hatte den
ersten Wahlgang mit gut 24 Prozent der Stimmen zwar knapp für sich
entschieden, war aus Angst vor einer Niederlage zur Stichwahl jedoch
nicht mehr angetreten. Kirchner profitierte von den sozialen Protesten,
hatte selbst jedoch nicht daran teilgenommen. Im Gegenteil war er ein
Berufspolitiker wie er im Buche steht, also Vertreter jener
diskreditierten Schicht, die eigentlich „abhauen“ sollte.
Trotz der anfangs schwachen Legitimation als Präsident gelang es
Kirchner in den folgenden Jahren den Protest und die Unzufriedenheit
der Bevölkerung politisch zu kanalisieren und seine Macht zu festigen.
Der Linksperonist erkannte die Gunst der Stunde und wendete sich scharf
gegen den in den 1990er Jahren dominierenden Neoliberalismus, der
Argentinien und andere lateinamerikanische Länder in tiefe
wirtschaftliche und gesellschaftliche Krisen gestürzt hatte. Kirchner
legte sich mit Teilen des Establishments an und verstand es zu
polarisieren sowie politische Bündnisse zu seinen Gunsten zu schmieden.
Innerhalb des weitläufigen peronistischen Spektrums machte er den als
mafiös strukturiert geltenden Gewerkschaftsdachverband CGT, der in den
1990er Jahren die neoliberale Politik unter Menem mitgetragen hatte, zu
einem zentralen Pfeiler seiner politischen Basis. Und auch die sozialen
Bewegungen band er geschickt in seine Regierungspolitik ein. So
unterstützten viele Menschenrechtsgruppen wie die Madres de Plaza de
Mayo sowie Teile der Arbeitslosen-Organisationen Piqueteros die
Regierung und erhielten im Gegenzug politische Ämter oder finanzielle
Zuwendungen. Wer sich dem Freund-Feind-Schema zu entziehen versuchte
oder eine linke Alternative zu Kirchner anstrebte, wurde hingegen mit
Marginalisierung gestraft.
Basislinken Gruppen fällt es bis heute schwer, sich in der
polarisierten Situation zwischen der Regierung und einer größtenteils
neoliberalen Opposition zu positionieren. Einerseits hat Kirchner aus
linker Sicht den taumelnden Kapitalismus wieder stabilisiert, indem er
ihn um soziale Komponenten erweiterte und den internen Markt stärkte.
Andererseits kann der Ex-Präsident einige gewichtige politische
Verdienste vorweisen, wobei er immer wieder langjährige Forderungen
linker Gruppen aufgegriffen hat.
Als eine seiner ersten Amtshandlungen setzte er eine Reform des
Menem-hörigen Obersten Gerichtshofes durch, was ihm breiten
gesellschaftlichen Rückhalt einbrachte. Nach dem Staatsbankrott 2001
gelang es der Regierung Kirchner, die Ökonomie des Landes mit
„chinesischen Wachstumsraten“ wiederzubeleben. Neue Arbeitsplätze
entstanden, Sozialleistungen wurden ausgeweitet, der interne Konsum
gestärkt. Die Schuldenkrise wurde durch entschlossenes Vorgehen
Kirchners entschärft, sämtliche Schulden beim verhassten
Internationalen Währungsfonds (IWF) wurden vorzeitig zurückgezahlt.
Kirchner wies der ökonomischen Entwicklung des Landes stets höchste
Priorität zu: Sowohl als Präsident als auch danach, während der
aktuellen Amtszeit seiner Ehefrau Cristina, informierte er sich mit
einem täglichen Anruf beim Wirtschaftsminister über die maßgeblichen
wirtschaftlichen Indikatoren des Landes.
Auch auf internationaler Ebene stellte sich Kirchner dem
Neoliberalismus entgegen. Er verschrieb sich der lateinamerikanischen
Integration und ging in fundamentale Opposition zu den USA sowie
internationalen Finanzorganisationen. Gemeinsam mit anderen
Schlüsselakteuren wie seinen Amtskollegen Hugo Chávez aus Venezuela und
Lúiz Inácio Lula da Silva aus Brasilien gelang es ihm auf dem 4. Gipfel
der Amerikas 2005 im argentinischen Mar del Plata, die von den USA
forcierte gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA zu verhindern. Seit
Mai dieses Jahres war Kirchner zudem der erste Generalsekretär der
Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR).
Neben der Stärkung des internen Marktes setzte er jedoch weiterhin auf
die hemmungslose Plünderung von Bodenschätzen und den großflächigen
Anbau genveränderten Sojas in Monokultur. Auch war seine
Wirtschaftspolitik nicht frei von Skandalen wie etwa der Manipulierung
der Inflationsrate beim Nationalen Statistikamt INDEC. Nicht zuletzt
bleibt die Vermehrung des eigenen Vermögens während Kirchners Amtszeit
als Makel, er selbst erklärte dies mit dem Verkauf von in der
Vergangenheit billig erworbenen Gütern wie Immobilien. Rechte
KritikerInnen warfen ihm indes einen populistischen und autoritären
Regierungsstil vor, der sich durch eine ausgeprägte Nutzung
präsidentieller Dekrete kennzeichnete.
Dennoch wird langfristig in breiten Teilen der Bevölkerung ein
positives Bild des Ex-Präsidenten haften bleiben. Das liegt vor allem
auch an Kirchners entschlossenem Eintreten für die Menschenrechte. Als
erster Präsident gestand er offiziell die Verantwortung des Staates an
den Verbrechen der letzten Militärdiktatur (1976 bis 1983) ein. In
einem symbolischen Akt ließ er die Porträts der ehemaligen Juntachefs
Jorge Videla und Reynaldo Bignone abhängen, die 2004 immer noch die
Eingangshalle der Mechanikerschule der Marine (ESMA) schmückten.
Kirchner zwang das Militär, das Gelände der ESMA zu räumen, die während
der Diktatur eines der größten geheimen Folterzentren war. Heute
beherbergt das Areal ein Museum der Erinnerung sowie verschiedene von
Menschenrechtsorganisationen geleitete Kulturzentren. Während seiner
Präsidentschaft wurden zudem die Amnestiegesetze annulliert, was den
Weg für eine juristische Aufarbeitung der Verbrechen frei machte.
Seitdem wird im ganzen Land den militärischen und zivilen
Verantwortlichen in zahlreichen Verfahren der Prozess gemacht.
So wuchs Kirchners Popularität stetig an und sein Kurs wurde 2005 an
den Wahlurnen abgesegnet. Nach dem dünnen Antrittsergebnis von 2003,
erlangte sein Wahlbündnis Front für den Sieg (FpV) bei den
Teilkongresswahlen eine sichere Mehrheit in beiden Kammern des
Parlaments. Obwohl er fortan mit einer stabilen Mehrheit regierte, ließ
er sich 2007 überraschend nicht als Präsidentschaftskandidat für die
peronistische Partei (PJ) aufstellen, sondern schickte seine Frau
Cristina Fernández ins Rennen. Diese gewann die Wahl deutlich. Néstor
Kirchner selbst blieb als enger Berater der Präsidentin und ihrer
Regierung jedoch stets an der Macht beteiligt. Der Ex-Präsident war
zudem als Vorsitzender der PJ und Abgeordneter im Parlament nach wie
vor eine der zentralen politischen Figuren Argentiniens.
Was Kirchners Tod für die Politik des Landes bedeutet, ist noch nicht
absehbar. 2011 finden in Argentinien Präsidentschaftswahlen statt.
Bisher war noch nicht klar, wer von den beiden Kirchners für das
peronistische Regierungsbündis FpV antreten würde. Vieles deutete
jedoch auf Néstor Kirchner hin. Nach seinem Tod und den spontanen
Mobilisierungen zur Unterstützung seiner Frau, bei denen besonders die
massive Präsenz junger Menschen ins Auge fiel, ist eine andere
Kandidatin als Cristina Fernández kaum denkbar. In der Woche nach
Kirchners Ableben sprachen sich alle wichtigen Verbündeten des
Kirchnerismus für ihre Kandidatur 2011 aus. Auch der größte Konkurrent
der Kirchners innerhalb des Regierungslagers, der Gouverneur der
Provinz Buenos Aires Daniel Scioli, stellte sich deutlich hinter die
Präsidentin. Die zahlreichen gemeinsamen Auftritte der beiden nach
Kirchners Tod, könnten darauf hindeuten, dass Scioli eine Kandidatur
als Vizepräsidentschaftskandidat anstrebt.
Dabei schien vor einem guten Jahr bereits das politische Ende der
Kirchners absehbar zu sein. Nachdem die Regierung in einem heftigen
Streit mit der mächtigen Agrarlobby um höhere Exportzölle den Kürzeren
gezogen hatte, büßte sie bei den Teilkongresswahlen im Juni 2009 in
beiden Kammern ihre Mehrheit ein.
Dank der zerstrittenen Opposition blieb die Regierungsfähigkeit jedoch
weitgehend gewahrt. Nach den Wahlen gelang es der Regierung sogar,
durch einige progressive und polarisierende Entscheidungen die
politische Initiative zurück zu gewinnen. Mit wechselnden, teilweise
überparteilichen Mehrheiten konnte sie ein umfassendes Kindergeld, ein
Mediengesetz, das die Übermacht des Medienkonzerns Clarín beschneidet,
und ein Gesetz zur Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe
durchsetzen.
Doch sowohl die parteiinterne als auch die nicht-peronistische
Opposition scharren bereits mit den Füßen, um nach dem Tod des
populärsten argentinischen Politikers der letzten Jahrzehnte Terrain
gut zu machen. Nur wenige Tage nach Kirchners Beerdigung versammelte
sich die Spitze des sogenannten Peronismo Federal, die
Anti-Kirchner-Riege der PJ, um ihre Differenzen mit der Regierung zu
bekräftigen. Präsidentschaftskandidat der peronistischen DissidentInnen
könnte Eduardo Duhalde werden, der Kirchner einst zur Präsidentschaft
verhalf. Der nicht peronistischen Opposition mangelt es bisher noch an
Geschlossenheit und einem aussichtsreichen Kandidaten. Intern wurde
zwar längst mit der Suche begonnen, entscheidend wird jedoch sein, ob
sich die zahlreichen Parteien im kommenden Jahr auf eine gemeinsame
Kandidatur einigen können. Innerhalb der Traditionspartei Radikale
Bürgerunion (UCR) bewerben sich Ricardo Alfonsín, der Sohn des ersten
Präsidenten nach der Militärdiktatur, Raúl Alfonsin, sowie Julio Cobos,
der derzeit amtierende Vizepräsident. Cobos kam ursprünglich aus der
UCR und kehrte im Zuge des Agrarkonfliktes 2008 in deren Reihen zurück.
Zwischenzeitlich war er wegen seiner Kandidatur als Vizepräsident von
seiner Partei ausgeschlossen worden. Da er auf dem Wahlzettel gemeinsam
mit Cristina Fernández gewählt wurde, kann die Präsidentin ihn nicht
entlassen. Der rechte Unternehmer und Bürgermeister von Buenos Aires,
Mauricio Macri, ist mit seiner Wahlallianz Republikanischer Vorschlag
(PRO) nach einer Reihe politischer Skandale derzeit geschwächt. Das
kleine linke Bündnis Proyecto Sur, das im Parlament in der Regel
gemeinsam mit der rechten Opposition gegen das Kirchner-Lager stimmt,
wird den Filmemacher Fernando „Pino“ Solanas ins Rennen schicken.
Cristina Fernández hat derweil ihren politischen Arbeitsalltag wieder
aufgenommen. In ihrer ersten Fernsehansprache fünf Tage nach dem Tod
ihres Mannes sagte sie, dies sei der „schmerzvollste, nicht aber der
schwierigste Moment“ ihrer Präsidentschaft. Sie versprach, die Politik
wie gehabt fortzuführen und „das Erbe ihres Mannes“ zu verteidigen. Zu
der anstehenden Wahl und einer möglichen Kandidatur hat sie sich noch
nicht offiziell geäußert. Sollte ihre Popularität bis zur Wahl
anhalten, muss die Opposition innerhalb wie außerhalb des Peronismus
bis 2015 warten, um eine ernsthafte Chance zu haben. Denn zumindest
eines ist nach dem Tod Néstor Kirchners sicher: Die Möglichkeit, dass
das Ehepaar Kirchner über Jahrzehnte abwechselnd regiert, existiert
nicht mehr.
Ausgabe: Nummer 438 - Dezember 2010