Ecuador nach dem Putschversuch: Geschwächte Regierung, gespaltene Linke und gestärkte Militärs
Der Putschversuch gegen Ecuadors Präsident Rafael Correa vom 30. September ist gescheitert, doch Ecuador kommt nicht zur Ruhe. Präsidentenpalast und Parlament werden nun von Militärs bewacht, und dies soll noch zwei Monate lang so bleiben. Die Staatsanwaltschaft hat 58 Haftbefehle gegen Rädelsführer der Ereignisse des 30. September erlassen, 57 Polizeiangehörige sitzen Disziplinarstrafen ab. Die Hintergründe des Putsches erhellen sich mehr und mehr und werfen ein Schlaglicht auf die instabile politische Lage.
Er gibt das Unschuldslamm: Lucio Gutiérrez, 2005 von der Bevölkerung aus dem Amt gejagter Staatspräsident, der von der Regierung als Hintermann des Putschversuchs dargestellt wird, ist wieder aus Brasilien zurückgekehrt und streitet jegliche Verantwortung ab. Derweil befindet sich ein Funktionär von Gutiérrez’ Oppositionspartei Sociedad Patriotica, Fidel Araujo, in Untersuchungshaft, weil er gefilmt wurde, als er vor der Kaserne mit dem Handy telefonierte und im Fernsehinterview bestätigte, er sei hier, um den legitimen Aufstand der Polizei zu unterstützen. Der Anwalt von Lucio Gutiérrez, Pablo Guerrero, wurde gefilmt, als er die gewaltsame Besetzung des staatlichen Fernsehsenders Ecuador TV am 30. September anführte, in deren Verlauf erheblicher Sachschaden angerichtet wurde. Nach ihm wird gefahndet.
Ferner wurde bekannt, dass Gilmar Gutiérrez – der Bruder von Lucio – und
einige Abgeordnete der rechten Opposition am vergangenen
Donnerstagnachmittag, als Präsident Correa noch im Polizeihospital
festgehalten wurde, im Parlament bereits eine generelle Amnestie für
alle an der Revolte beteiligten Polizisten und Militärs beantragen
wollten. Ein seltsamer Umstand, da zu diesem Zeitpunkt der Ausgang des
Konflikts, der im Nachhinein mindestens acht Tote und gut 200 Verletzte
gekostet hat, noch völlig unklar war und der Präsident in Lebensgefahr
schwebte.
An der Absicht, Correa an diesem Abend zu ermorden, kann kein Zweifel
bestehen: Es wurde nicht nur auf das Fahrzeug scharf geschossen, in dem
er schließlich aus dem Hospital befreit wurde, sondern es existieren
auch Mitschnitte des Polizeifunks an diesem Abend, in denen wiederholt
zum Präsidentenmord aufgefordert wird.
Präsident Correas Popularität ist nach dem Putschversuch um fünf bis
zehn Prozent in die Höhe geschnellt, und liegt jetzt je nach Umfrage
zwischen 58 und 75 Prozent. 92 Prozent der Bevölkerung sprechen sich für
die Demokratie aus, gleichzeitig finden jedoch 73 Prozent, dass die
Regierung ihren Kurs ändern muss.
Anfang Oktober wurde die Besoldung für vier hohe Dienstgrade in Polizei
und Militär rückwirkend erhöht, um die in Ecuador beträchtliche Summe
von durchschnittlich 500 Dollar monatlich. Die Regierung erklärte, diese
Maßnahme sei ohnehin fällig gewesen und habe nichts mit den
Vorkommnissen der vergangenen Tage zu tun, man habe sich
selbstverständlich nicht unter Druck setzen lassen. Von Repressalien
gegen die Angehörigen der Luftwaffe, die den Flughafen von Quito besetzt
gehalten hatten, wurde bisher nichts bekannt.
Die einheitlich solidarische und schnelle internationale Reaktion am 30.
September und am 1. Oktober, die der Regierung Correa politischen
Rückhalt nicht nur von Seiten der politisch befreundeten Regierungen
gab, war entscheidend und mit ausschlaggebend dafür, dass es nicht zu
Schlimmerem gekommen ist. Sie zeigt, dass Lateinamerikas Regierungen und
die internationale Linke aus den Ereignissen von Honduras gelernt
haben.
Soweit die Fakten. Darüberhinaus gibt es viele mögliche Lesarten dessen,
was am 30. September in Ecuador vorgefallen ist. Es ist auffällig, wie
sehr einige international veröffentlichte Analysen sich von den Debatten
im Land selbst unterscheiden. International wird meistens, streng nach
antiimperialistischem Lehrbuch und aus einer rein geopolitischen
Perspektive, die einen genaueren Blick auf die ecuadorianischen
Verhältnisse gar nicht erst versucht, den USA und der CIA die Schuld für
den Putschversuch gegeben, die Parallele zu Honduras hergestellt, und
die Regierung Correa als sozialistische Regierung dargestellt, die es
bedingungslos zu verteidigen gelte. Auch wird beschrieben, dass die
massive, spontane Mobilisierung der ecuadorianischen Bevölkerung an
diesem Tag, die Standhaftigkeit von Correa und die internationale
Solidarität den Putsch zum Scheitern gebracht hätten.
In Ecuador streiten verschiedene politische Strömungen gerade darum, wie
die Ereignisse des 30. September in die Geschichte eingehen werden: Als
Putschversuch, oder aber als mediale Inszenierung der Regierung im
eigenen Interesse. Am wahrscheinlichsten ist die These, dass es in
Ecuador selbstverständlich politische Kräfte gibt, die an einem
Staatsstreich interessiert sind und auch daran arbeiten – mit
Unterstützung reaktionärer Kräfte aus dem Ausland. Ebenso wahrscheinlich
ist auch, dass der 30. September kein Tag war, an dem bereits ein
fertiges Drehbuch für einen Putsch umgesetzt wurde, sondern tatsächlich
spontane Proteste des öffentlichen Diensts am Vormittag langsam
übergingen in einen politisch motivierten Aufstand der Polizei.
Im Gegensatz zu manchen internationalen Darstellungen erscheint im Land
selbst auch die massive Mobilisierung der EcuadorianerInnen zugunsten
der Demokratie in anderem Licht: Auf der Straße waren in Quito cirka
20.000 Leute, verteilt auf verschiedene Orte. Allerdings hatten viele
staatlichen Institutionen geschlossen und ihre Angestellten angewiesen,
demonstrieren zu gehen. Andere wurden von den Munizipien in Bussen aus
den ländlichen Gebieten in die Hauptstadt gebracht. Die meisten
Demonstranten waren Angehörige der städtischen Mittelschicht, die sich
am ehesten durch die Regierung repräsentiert fühlen. Diejenigen
Organisationen jedoch, die aufgrund ihrer Mobilisierungsfähigkeit
historisch bekannt sind, haben am 30. September nicht zur Verteidigung
der Demokratie aufgerufen, sondern verharrten eher in einer Art
zweifelnder Starre.
Dieser Umstand ist mehr als Besorgnis erregend. Er zeigt, dass die
Massenorganisationen der Linken sich nicht mehr als Teil des
Transformationsprozesses fühlen, ja dass sie nicht einmal geschlossen
bereit sind, die Verfassung von 2008 als ihre historische Errungenschaft
zu verteidigen. Er zeigt auch, wie tief die Gräben innerhalb der
Rest-Linken in der Regierung und der außerparlamentarischen Linken
mittlerweile sind. In diesem Sinne hat der 30. September der Regierung
Correa die Rechnung für ihre politischen Fehler präsentiert. Die
Bürgerrevolution hat sich immer mehr zu einem Reformprozess ohne
BürgerInnen verwandelt, in dem der Autoritarismus und der Personenkult
regieren. Die Regierung zeigte gegenüber Banken, wirtschaftlichen
Oligopolen und Militärs in der Vergangenheit trotz linker Rhetorik große
Kompromissbereitschaft und ließ deren Besitzkonzentration und
Privilegien unangetastet. Dadurch hat sie sich von ihrer eigentlichen
sozialen Basis, die in den 90er Jahren und bis 2006 mit ihren
Mobilisierungen den Weg für den Wandel bereitet hatte, immer weiter
entfernt, bis hin zur offenen politischen Verfolgung, wie im Fall der
fadenscheinigen Terrorismusvorwürfe gegen indigene Anführer.
Die Transformation findet in Ecuador von oben statt und so, wie Rafael
Correa es entscheidet. Es gibt keine plurale Debatte über die
Ausrichtung des Transformationsprozesses, über die Inhalte des
Sozialismus des 21. Jahrhunderts, darüber, wie der übernommene
Staatsapparat reformiert werden sollte.
Ecuador leidet in den letzten Jahren unter einem manifesten Defizit an
Demokratie. Daher der – politisch völlig verfehlte – Reflex vieler
Linker, am 30. September zu fragen: „Welche Demokratie sollen wir denn
verteidigen, wenn es hier keine Demokratie mehr gibt?“ Es besteht
keinerlei Zweifel daran, dass Rafael Correa seit Jahrzenten der
ecuadorianische Präsident ist, der am meisten politisches Potenzial für
einen Wandel mitbringt und den fortschrittlichsten Diskurs hat.
Sozialistisch ist seine Regierung dennoch nicht zu nennen – und es ist
umso dringender, dass sie ihre Fehler erkennt und den Aufbau der neuen
Gesellschaft gemeinsam mit den historisch legitimierten
gesellschaftlichen Akteuren in Angriff nimmt. Dies würde auch im
Ergebnis politisch wesentlich radikalere Reformen gegen die
traditionellen Machtgruppen im Land durchsetzbar machen.
In diesem Zusammenhang ist es notwendig, auf den aktuellen Zustand der
ecuadorianischen Linken einzugehen. War diese aufgrund der „Enteignung”
des Transformationsprozesses durch eine autoritär agierende, aber
gleichzeitig sehr populäre Regierung ohnehin schon geschwächt, so
durchzieht sie jetzt eine unüberwindbar erscheinende Spaltung entlang
der deprimierenden Frage: War es richtig, die Demokratie gegen die
Rechte zu verteidigen, oder hätte man den Tag nutzen müssen, um den
Tyrannen zu verjagen? Diese tiefe Polarisierung mag aus dem Ausland zwar
grotesk erscheinen, sie ist aber tatsächlich ein tragisches Resultat
des 30. Septembers. War es noch Anfang dieses Jahres denkbar, dass
Gewerkschafter, Studenten und Indigene die Regierung Correa durch
gemeinsame Proteste an den Verhandlungstisch zwingen, so sind
mittlerweile alle diese Kräfte jeweils von diesem Riss durchzogen, und
an ein gemeinsames Handeln ist nicht zu denken. Derzeit finden sich eher
zaghaft Gruppen von Gleichgesinnten zusammen, um die Lage zu erfassen.
Und die Repression gegen diejenigen Linken, die am 30. September mit zum
Sturz der Regierung aufgerufen haben, rollt gerade erst an.
In diesem Sinn ist in Ecuador nach dem 30. September politisch absolut
alles möglich. Umso notwendiger ist es, dass InternationalistInnen
wachsam bleiben und den Transformationsprozess weiter verteidigen. Im
Sinne der kritischen Solidarität darf der Transformationsprozess
Ecuadors nicht mit der Regierung von Rafael Correa gleichgesetzt werden.
Gleichzeitig muss auch klar sein, dass eine Alternative zu ihm nicht in
Sicht ist – jeder politische Wechsel wäre derzeit ein riesiger
Rückschritt in die „lange neoliberale Nacht” oder in quasi-feudale
Verhältnisse.
Ausgabe: Nummer 437 - November 2010