In Argentinien tobt eine Debatte darum, ob die Adoptivkinder der Direktorin des grössten Medienkonzerns Clarín Kinder von Verschwundenen sind
Während der letzten Militärdiktatur in Argentinien (1976 bis 1983) wurden nicht nur Tausende entführt, gefoltert und ermordet, sondern auch systematisch Kinder von Verschwundenen illegal adoptiert. In den meisten Fällen wissen die Kinder bis heute nichts von ihrer ursprünglichen Identität. Ein Fall steht zurzeit besonders im öffentlichen Interesse. Es geht um die Adoptivkinder der Hauptaktionärin der Clarín-Gruppe, dem mächtigsten Medienunternehmen des Landes.
Nach Schätzungen der Organisation Großmütter der
Plaza de Mayo wurden während der Zeit der Militärdiktatur (1976 bis
1983) rund 500 Kinder geraubt. Bis heute haben nur gut hundert von
ihnen ihre Herkunft erfahren. Diese Kinder, die zusammen mit ihren
Eltern verschleppt wurden oder nach heimlichen Schwangerschaften
während der Gefangenschaft geboren wurden, galten als Teil der
„Kriegsbeute“. Sie wurden an Familienangehörige von Mitgliedern der
verschiedenen Repressionsorgane weitergegeben, die sie dann als eigene
Kinder registrieren ließen oder unter Vortäuschung falscher Tatsachen
adoptierten. Einige landeten auch in Heimen. Wegen dieses Kindesraubs
können TäterInnen erneut angeklagt werden, die ursprünglich von den
Amnestiegesetzen und Begnadigungen profitiert hatten.
Der Fall von Marcela und Felipe Herrera Noble, die 1976 adoptiert
wurden, ist an sich vergleichbar mit jedem anderen Fall unrechtmäßig
adoptierter Kinder. Dennoch hat er ein ungewöhnlich großes öffentliches
Interesse sowie ethische, politische und wissenschaftliche Debatten
ausgelöst. Denn es handelt sich bei den beiden um die Adoptivkinder von
Ernestina Herrera de Noble, Hauptaktionärin der Clarín-Gruppe, dem
wichtigsten Medienkonzern des Landes. Dieser hatte die Militärdiktatur
unterstützt und liegt permanent im Clinch mit der aktuellen Regierung
von Cristina Kirchner. Die jüngste Phase des Verfahrens fällt mit einer
harten öffentlichen Auseinandersetzung zwischen der Clarín-Gruppe und
der argentinischen Regierung zusammen, die vor allem auf das 2009
erlassene Gesetz über audiovisuelle Medien zurückgeht. Das Gesetz sieht
vor, die Sendefrequenzen zu je einem Drittel zwischen Konzernen, Staat
und kommunitären Medien aufzuteilen. Es zielt somit auf die Kontrolle
von Medienmonopolen ab und betrifft die Clarín-Gruppe in ganz direkter
Weise. In dieser aufgeheizten Atmosphäre bezog sich Präsidentin
Cristina Fernández de Kirchner, wenn auch nicht namentlich, auf den
Fall Noble, als sie am 24. März dieses Jahres an einer
Gedenkveranstaltung in Erinnerung an den Beginn des letzten
Staatsstreichs teilnahm. Bei der Veranstaltung sagte sie, nach langen
Jahren der „Straflosigkeit der Medienmacht“ glaube sie daran, dass „es
schließlich Gerechtigkeit geben wird, trotz dieser geradezu
erpresserischen Macht über Politiker, Unternehmer und Richter“.
Die Äußerungen der Präsidentin beantworteten Marcela und Felipe mit
einer bezahlten Anzeige und einem Video. „Unsere Mutter ist die
Direktorin von Clarín“, so die Adoptierten, „einer Zeitung, die derzeit
einer heftigen Kampagne staatlicher Angriffe ausgesetzt ist.“ Sie
sprachen von der Befürchtung, ihre Geschichte werde politisch benutzt,
und fragten: „Interessiert man sich für uns oder besteht die politische
Notwendigkeit, dass wir Kinder von Verschwundenen sind?“
Der Fall reicht bis in die ersten Jahre der Demokratie zurück. Damals
hatten die Großmütter der Plaza de Mayo Hinweise über die Herkunft der
Kinder Noble Herrera erhalten. Zu einem Prozess kam es jedoch erst vor
zehn Jahren, als die Familienangehörigen zweier verschwundener Paare,
Gualdero-García und Miranda Lanouscou, die Verwandtschaft zu den zwei
jungen Menschen erklärten. Die Anzeige wurde gestützt durch zahlreiche
Unregelmäßigkeiten bei den Adoptionen. Felipe soll von seiner
leiblichen Mutter an ein Jugendgericht in dem Ort San Isidro übergeben
und von der amtierenden Richterin sofort und ohne Prüfung der
Direktorin von Clarín zugesprochen worden sein. Zusätzlich zu diesem
ohnehin ungewöhnlichen Vorgehen stellte der in dem Fall ermittelnde
Bundesrichter Roberto Marquevich fest, dass die angebliche biologische
Mutter gar nicht existierte und die angegebene Ausweisnummer in
Wirklichkeit zu einer männlichen Person gehörte. Im Falle von Marcela
wurde von Ernestina Herrera de Noble vorgebracht, sie habe sie im
Garten ihres Anwesens gefunden, was von einer Nachbarin und dem
Hausmeister bestätigt wurde.
Im Laufe der Ermittlungen stellte sich dann heraus, dass Herrera de
Noble niemals unter der angegebenen Adresse gewohnt hatte, sondern dass
diese gewählt worden war, um unter einen für sie günstigen
Gerichtsstand zu fallen. Auch die als Zeugin auftretende Nachbarin
hatte dort nicht gelebt, und bei dem Hausmeister handelte es sich
tatsächlich um den Chauffeur Roberto Nobles und später seiner Witwe.
Die adoptierten Kinder erhielten den Nachnamen des Gründers der
Tageszeitung Clarín, der mit Ernestina Herrera verheiratet gewesen und
1969 verstorben war.
All dies veranlasste den Richter Marquevich dazu, Herrera de Noble am
17. Dezember 2002 wegen Verschleierung der Identität und
Personenstandsfälschung festnehmen zu lassen und die Abgabe einer
Genprobe ihrer Adoptivkinder anzuordnen. Damit begann ein langer Weg,
der auch heute noch nicht abgeschlossen ist.
Anfang 2003 verlieh Herrera de Noble in einem in der Tageszeitung
Clarín abgedruckten offenen Brief ihrem Misstrauen gegenüber dem
Richter Marquevich Ausdruck. Darin behauptete sie, ihre Verhaftung sei
Bestandteil eines von Teilen der Politik vorbereiteten Plans, mit
Unterstützung von RichterInnen, ehemaligen BeamtInnen, UnternehmerInnen
und Medienleuten. Der Plan ziele darauf ab, „nach und nach das Feld zu
bereinigen, um die gesamte Macht zu übernehmen. Ihr erster Schritt ist
die Zerschlagung der unabhängigen Medien und damit die Auslöschung des
ganzen Weges der Freiheit, den die Journalisten und die Bürger seit der
Rückkehr zur Demokratie gebahnt haben“. In derselben Zeitung war zu
lesen, die Verhaftung der Direktorin sei ein Komplott von
Menem-AnhängerInnen, mit dem die Berichterstattung des Blattes über
illegale Waffenverkäufe an Ecuador und Kroatien abgestraft würde. Der
frühere Präsident hatte wegen des Falls fast ein halbes Jahr in Haft
verbringen müssen. In einem Ende 2002 in der Zeitung veröffentlichten
Artikel hieß es, dass „die Situation der Kinder der Clarín-Direktorin
während der Regierungszeit Carlos Menems mehrmals zur politischen und
ökonomischen Erpressung benutzt wurde“.
In dem offenen Brief gestand die Clarín-Direktorin ein, dass ihre
Adoptivkinder Kinder Verschwundener sein könnten: „Oft habe ich mit
meinen Kindern über die Möglichkeit gesprochen, dass es sich bei ihnen
und ihren Eltern um Opfer der illegalen Repression handeln könnte.
(...) Was auch immer der Grund für den Verlust ihrer biologischen
Eltern ist, Marcela und Felipe haben das Recht zu erfahren, wer sie
waren. Es handelt sich dabei um ein Recht, keine Verpflichtung.“
Gleichzeitig räumte sie ein, das Bedürfnis der Großmütter der Plaza de
Mayo nach Wahrheit sei ein legitimer Wunsch.
Infolge seines als unparteiisch beschriebenen, Vorgehens in dem Fall
wurde Roberto Marquevich der schlechten Amtsführung bezichtigt. Im Juni
2004 wurde er entlassen. Daraufhin wurde der Fall an ein anderes
Gericht verwiesen und dem Richter Conrado Bergesio übertragen. Auch
diesem wurde im April dieses Jahres der Fall entzogen, nachdem er sich
geweigert hatte, die DNA-Analyse für Marcela und Felipe Noble Herrera
anzuordnen. Während der fast sechsjährigen Bearbeitung des Falls durch
Bergesio waren die Genproben immer wieder durch Einsprüche der Nobles
verschoben worden.
Im August 2003 hatten sich die Adoptivkinder zur Blutabnahme für die
Analyse bereit erklärt, unter der Bedingung, dass diese nicht von der
nationalen Gendatenbank BNDG, sondern einer Einrichtung der Judikative
vorgenommen würde. Außerdem verlangten sie, dass der Abgleich nur mit
der DNA der beiden Beschwerde führenden Familien erfolgen dürfe.
Seitdem hatte es ein Tauziehen um das Vorgehen gegeben, bis vor einigen
Monaten das Gericht entschied, die Proben seien mit dem gesamten
BNDG-Material abzugleichen.
Schon im Dezember 2009 war die Übergabe von persönlichen Gegenständen,
wie Kleidung, Bettwäsche und Zahnbürsten, angeordnet worden, um DNA von
Marcela und Felipe Noble Herrera zu erlangen. Diese übergaben die
Gegenstände jedoch erst nach mehreren Stunden unter intransparenten
Bedingungen. Infolge dessen konnte kein verwertbares Gen-Material
gewonnen werden. Die jetzt mit dem Fall betraute Richterin, Sandra
Arroyo Salgado, ordnete dann im Mai eine Hausdurchsuchung in den
Wohnungen der Adoptierten und der Clarín-Chefin an, nachdem diese sich
geweigert hatten, neues Material freiwillig herauszugeben. Gleichzeitig
wurde verfügt, dass die gewonnenen Daten zunächst mit der DNA der
Beschwerde führenden Familien abgeglichen werden sollen. Bei mangelnder
Übereinstimmung dann mit der aller 1976 Geborenen und schließlich mit
der verbliebenen Datenbank-DNA. Das durch die Hausdurchsuchung erlangte
Gen-Material wurde ab dem 7. Juni untersucht, während die Familie Noble
und die Opposition begannen, die BNDG politisch und wissenschaftlich in
Frage zu stellen. Gegen diese Angriffe stellten sich
Menschenrechtsorganisationen und WissenschaftlerInnen: Erstere
organisierten eine Menschenkette, letztere stellten sich in dem
Verfahren als Sachverständige zur Verfügung.
Nach mehrjährigen Verzögerungen begannen am 7. Juni die genetischen
Untersuchungen zur Klärung der Frage, ob es sich bei Marcela und Felipe
Noble Herrera, um Kinder von Verschwundenen handelt. Doch auch jetzt,
so stellte sich Ende Juni heraus, konnte die Frage nicht beantwortet
werden. Nach Angaben der BNDG, die mit der DNA-Analyse und dem Abgleich
mit dem vorhandenen DNA-Material beauftragt ist, konnte mit den Ende
Mai eingereichten Proben kein genetisches Profil erstellt werden, da
diese mit DNA-Spuren mehrerer Personen verunreinigt waren.
Sollte sich herausstellen, dass Felipe und Marcela Herrera de Noble
Kinder von Verschwundenen sind, würde eine lange verheimlichte und
totgeschwiegene Problematik sichtbar werden: Es geht darum, wie groß
die Zustimmung und Mittäterschaft bestimmter Teile der Gesellschaft
während der Militärdiktatur war sowie um die Nähe zwischen
Militärführung und Medien.
Andererseits hat die zwangsweise Beibringung der DNA-Proben eine neue
Ebene der Auseinandersetzung eröffnet. Die Adoptierten und ihre
AnwältInnen, ebenso wie Medien und Opposition, empfanden diese als
quälend. Damit wurde eine Debatte darüber eröffnet, wo die Grenzen des
Anspruchs auf Wahrheit liegen, was der Unterschied zwischen
individueller Entscheidung und gesellschaftlichem oder kollektivem
Bedürfnis ist. Unabhängig davon, welche Entscheidung Marcela und Felipe
Noble Herrera nach Bekanntgabe der Ergebnisse treffen: Wahrheit und
Gerechtigkeit sind bislang noch unerfüllt, ein Recht darauf hat aber
die gesamte Gesellschaft.
Übersetzung: Sebastian Henning
Text: // Valeria Durán
Ausgabe: Nummer 433/434 - Juli/August 2010
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