Wie die sozialen Bewegungen das staatliche Bildungssystem herausfordern
Wenn im März in Argentinien das neue Schuljahr beginnt, bedeutet das nicht nur für Kinder und Jugendliche, dass sie nun wieder die Schulbank drücken müssen, sondern auch für eine zunehmende Zahl von Erwachsenen. Mittlerweile mehr als 30 bachilleratos populares – von linken Organisationen initiierte Bildungseinrichtungen für Erwachsene – machen seit sieben Jahren im ganzen Land Bildung zu einem zentralen Thema ihres Engagements. Durch ehrenamtlichen Abendunterricht helfen Studierende und LehrerInnen jungen und alten Erwachsenen ihren Schulabschluss nachzuholen. Doch bei informellen Schulen von unten soll es nicht bleiben: Mit dem Kampf um Anerkennung der Schulen und Lohn für die LehrerInnen fordern sie den Staat und seine Konzeption von Bildung heraus. Für sie ist dies ein Schritt auf dem Weg zum angestrebten sozialen Wandel.
Bachillerato nennt sich der allgemeine
argentinische Schulabschluss, der nach zwölf vollendeten Schuljahren
vergeben wird. Anders als in Deutschland gibt es in Argentinien kein
mehrgliedriges Schulsystem – die Entscheidung zwischen Hauptschule oder
Gymnasium ist nicht nötig. Nach erfolgreicher Vollendung der
Schullaufbahn haben alle den gleichen Abschluss in der Tasche, so dass
im Kindesalter keine Selektion mit lebenslangen Konsequenzen
stattfindet. Diese scheinbar gleichberechtigte Ausgangslage ist aber nur
die Fassade der Bildungslandschaft. Die gesellschaftliche Realität
offenbart ein anderes Bild. Neben der sich verschärfenden sozialen
Schieflage durch die immer größer werdende Anzahl von Privatschulen
existieren in den öffentlichen Schulen ernsthafte Schulabbruch-Probleme.
Das sozialpolitische Forschungsinstitut Barómetro de la Deuda Social hat
kürzlich eine Studie veröffentlicht, die zeigt, dass insgesamt 35
Prozent der Jugendlichen zwischen 13 und 17 Jahren ein Bildungsdefizit
haben. Das bedeutet, sie nehmen entweder nicht am Schulunterricht teil
oder sie liegen weit hinter den ihrem Alter entsprechenden Schulklassen
zurück. Die Quote der Schuldesertion, also des vorzeitigen
Schulabbruchs, ist besonders in den letzten drei Jahren der
Schullaufbahn alarmierend. Aktuell liegt sie in diesem Zeitraum bei 17
Prozent – das sind 900.000 Jugendliche. Deswegen wird nicht zu Unrecht
im Hinblick auf die Bildung von einer „verlorenen Generation“
gesprochen.
Zurückzuführen sind die Abbrüche vor allen Dingen auf die ökonomische
Ausgangslage der SchülerInnen – die Korrelation zwischen Armut und
Schulabbruch ist sehr deutlich. Staatliche Stellen geben an, dass 6,5
Prozent oder 200.000 der Kinder zwischen fünf und 13 Jahren arbeiten.
Ungefähr die Hälfte dieser Kinder besucht keine Schule. Bei den
Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren liegt die Zahl der Erwerbstätigen
bereits bei 20 Prozent und in ländlichen Regionen ist der Anteil um
weitere zehn Prozent höher. Angesichts dieser offiziellen Zahlen, deren
Dunkelziffer mit Sicherheit weitaus höher liegt, scheint es nicht
verwunderlich, dass Millionen von ArgentinierInnen niemals das
bachillerato erlangen.
Neben den zugrunde liegenden individuellen Aspekten trägt der
neoliberale Umbau des Schulsystems in den 1990er Jahren auf negative
Weise seine Früchte. Im Zuge der marktwirtschaftlichen Umorientierung
und Deregulierung des Bildungssystems wurden die Lehrpläne und -formen
dahingehend verändert, dass sich die Ausbildung der Heranwachsenden
stark am Erlernen von partiellen und praktischen Fähigkeiten einer
fordistischen Arbeitswelt orientiert. „Lernen, um zu machen“ bezeichnet
Roberto Elisalde, einer der Gründer des bachillerato popular in der
selbstverwalteten Metallfabrik IMPA und Forscher im CEIP, einem
Zusammenschluss von kritischen BildungsforscherInnen, die Formel der
offiziellen Bildung. „Anstelle eines fundamentalen Rechts auf Bildung
hat die veränderte Konzeption dem Wissen einen zunehmend
marktorientierten Charakter im Sinne einer Dienstleistung verliehen“,
analysiert Elisalde die Verschiebungen auf diesem Gebiet. Jener
Schulform, die durch Exklusion geprägt ist, setzen die bachilleratos
populares eine offene Konzeption des „Lernens zum Sein“ entgegen, betont
der Lehrer. Er führt aus, dass es dabei vor allem darum geht, die
Lernenden zum autodidaktischen Selbsterlernen zu befähigen und verweist
auf die lange Tradition der educación popular, welche sich gegen die
weit verbreitete Vorstellung der linearen und als hierarchischer Prozess
verlaufenden Wissensübertragung stellt. Ziel dieser „befreienden“
Volksbildung ist es, durch eigenständige Erarbeitung von Problemen und
Aneignung von Lösungsmöglichkeiten kritische Individuen zu schaffen.
Diese Form der emanzipatorischen Bildung wird seit vielen Jahrzehnten
auf verschiedene Weise von linken Organisationen, Stadtteilgruppen und
Bildungskollektiven betrieben und bildet den Hintergrund für das
Phänomen bachillerato popular.
In einem dieser Bildungskollektive ist Diana Hernández organisiert. Die
27-jährige Aktivistin engagiert sich zum einen in der Frente Popular
Darío Santillán (FPDS), welche bundesweit neben Arbeitslosengruppen
auch Stadtteilinitiativen und Organisationen von ArbeiterInnen sowie
Studierenden vereint. Gleichzeitig unterrichtet die Literaturstudentin
Kunst und Literatur im Bachillerato Popular Roca Negra, welches sich in
Lanús, einem der einwohnerreichsten und gleichzeitig ärmsten Vororten
von Buenos Aires, befindet. Dort teilt die Schule sich ein drei
Wohnblocks umfassendes, zunächst besetztes und jetzt legalisiertes
Grundstück mit vielen anderen Projekten der FPDS.
Hernández erzählt, wie seit der Gründung ihrer Organisation diverse
wöchentliche Workshops auf verschiedenen Gebieten, darunter Kunst,
Handwerk oder Kommunikation, durchgeführt wurden. „In diesem Rahmen
tauschten sich die Leute aus der Nachbarschaft aus und eigneten sich
gemeinsam Wissen an“, betont sie. „Vor diesem Hintergrund entstand die
Idee, so etwas wie eine Schule für diejenigen Organisationsmitglieder
aufzubauen, die keinen Schulabschluss gemacht haben. Für sie, für ihre
Verwandten und ihre Nachbarn.“ Hernandez macht eine kurze Pause und
fährt fort: „Eigentlich ist es wie so oft im Leben gewesen: Die Lust hat
sich da mit der Notwendigkeit gepaart.“ Das „Bachi“, wie es von vielen
liebevoll genannt wird, existiert seit dem Jahr 2007 und ist eines von
vielen alternativen Erwachsenenbildungszentren, die in den letzten
Jahren vor allem im Großstadtgebiet Buenos Aires entstanden sind.
Gemeinsam ist ihnen trotz aller Unterschiede die Formalisierung der
früheren Volksbildungsansätze. Aus unregelmäßigen Workshops und
Gesprächskreisen ist somit eine verbindliche Schule entstanden. Das Ziel
ist aber das gleiche geblieben, betont Hernández: „Wir versuchen einen
anderen Bildungsvorschlag zu entwickeln, der auf ein Subjekt abzielt,
das aus seiner Alltäglichkeit heraus widerständig ist und das sich
aktiv, nicht passiv, den tagtäglichen Problemen stellt.“
Zurzeit gibt es in Argentinien über 30 solcher alternativer Schulen mit
mehr als 3.000 SchülerInnen und 350 LehrerInnen – Tendenz steigend. Alle
sind durch die Initiative sozialer Bewegungen entstanden und nutzen oft
die Räumlichkeiten von selbstverwalteten Projekten. Der Unterricht
findet zumeist an vier Wochentagen zwischen 18 und 22 Uhr statt. Die
ehrenamtlichen LehrerInnen sind größtenteils Studierende oder Graduierte
der lokalen Universitäten. Sie bilden immer Zweierteams, welche die
Unterrichtseinheiten leiten. Die Arbeit im Team ist, ebenso wie der
horizontale und gleichberechtigte Austausch aller Teilnehmenden,
zentraler Bestandteil des Bildungskonzepts. Die SchülerInnen, die
meistens schon mehrere Nachholversuche hinter sich haben, sind zwischen
16 und 75 Jahren alt und in der Mehrzahl Frauen, nicht selten Mütter. Im
Fall von Roca Negra werden „Philosophie für Kinder“ und andere Themen
zur Kinderbetreuung angeboten, wodurch der regelmäßige Schulbesuch für
viele Schülerinnen erst möglich wird.
Die Unterrichtsfächer gleichen denen von herkömmlichen Schulen, es
werden unter anderem Naturwissenschaften und Mathematik, Literatur,
Sozialwissenschaften und Kunst unterrichtet. Da die meisten
bachilleratos populares von Stadtteilaktiven gegründet wurden,
fokussieren sie sich auf den berufsbildenden Schwerpunkt
Gemeindeorganisation.
Ein wesentlicher Unterschied zu den staatlichen Schulen ist die
Gestaltung des Lehrplans, welcher zwar durch die Lehrenden vorgeschlagen
wird, aber letztlich von allen debattiert, verändert und ergänzt werden
kann. Inhaltlich setzen die alternativen Bildungszentren vor allem bei
den sogenannten weichen Wissenschaften eigene Akzente: Hier wird etwa
Sarmientos Gaucho-Roman „Facundo“ oder ähnliche argentinische
Gründungsliteratur durch die Erzählungen des zapatistischen
Subcomandante Marcos ersetzt. In den Naturwissenschaften wird der
Versuch unternommen, praktischere und stärker alltagsrelevante Fragen zu
behandeln, wobei sich auf diesen Gebieten das Ausbrechen aus den
traditionellen Bildungsinhalten in der Regel schwieriger gestaltet.
Aktuell werden lediglich die Titel von elf Schulen staatlich anerkannt
und berechtigen wie die an formellen Schulen erworbenen Abschlüsse zum
Universitätsstudium. Staatliche Subventionen existieren anders als in
vielen Privatschulen nicht. Stattdessen müssen SchülerInnen und
LehrerInnen gemeinsam für die laufenden Kosten aufkommen. Dies stellt
ebenso wie die Bewältigung der Instandhaltungs- und Reinigungsaufgaben
einen zusätzlichen Aufwand für die TeilnehmerInnen dar. Viele der
Klassenräume befinden sich in einem prekären Zustand, besonders die
kalten Wintermonate sind eine Herausforderung. Allen Beteiligten ist
klar, dass weder die Zahlung der laufenden Kosten, noch die
ehrenamtliche Arbeit, die neben der Lohnarbeit zu einer ermüdenden
Doppelbelastung wird, eine langfristige Perspektive darstellen.
Um sich gemeinsam für ihre Ziele einzusetzen, sind die meisten der
Schulen in der Koordination „Bachilleratos Populares im Kampf“
zusammengeschlossen. In unregelmäßigen Abständen veranstaltet das
Bündnis Demonstrationen, an denen die „Bachis“ geschlossen teilnehmen,
um den Verhandlungen mit dem Bildungsministerium Nachdruck zu verleihen.
Den spektakulärsten Protest des Zusammenschlusses gab es im vergangenen
Jahr bei der Eröffnung der Buchmesse in Buenos Aires, als SchülerInnen
und LehrerInnen durch Rufe und mit Transparenten die Eröffnungsfeier
störten. Ihre vier zentralen Forderungen waren die Anerkennung aller
Schulen, die Finanzierung von Gehältern für die LehrerInnen, die Vergabe
von Stipendien für SchülerInnen und die Bereitstellung und
Instandhaltung der Infrastruktur sowie des täglichen Lehrmittelbedarfs.
Ihre zentrale Bedingung ist dabei die Beibehaltung der Autonomie der
Projekte durch vollkommene organisatorische, politische und pädagogische
Unabhängigkeit vom Staat.
Das Eindringen des Bachilleratos in staatliches Terrain ist mit der
Hoffnung verbunden, dem Gegenentwurf zur offiziellen Bildung Legitimität
zu verleihen. Die Idee ist, somit in der Lage zu sein, als
Bildungsalternative in Konkurrenz zu treten und „die traditionellen
Praktiken der öffentlichen Schulen zu überschwemmen“ (aus einem
Diskussionspapier der FPDS). Mit Hilfe der educación popular geht es
darum, den Staat und dessen Monopolstellung herauszufordern, die
schulische Bildung zu reglementieren und deren Formen und Inhalte zu
bestimmen.
Dass der eingeschlagene Weg kein leichter ist, erscheint allen klar. Ein
Blick in die jüngere Geschichte offenbart die Fallstricke
herrschaftlicher Vereinnahmungsversuche und den daraus resultierenden
Unabhängigkeitsverlust sozialpolitischer Organisationen. Warnendes
Beispiel ist die Instrumentalisierung von einigen
Arbeitslosenorganisationen durch die linksperonistische Regierung, der
es durch politische Anerkennung und finanzielle Unterstützung dieser
Vereinigungen gelingt Wahlklientel zu sichern. Dennoch bewegen sich die
AktivistInnen bewusst mit der Forderung nach staatlicher Anerkennung und
Subventionen in das komplexe Konfliktfeld zwischen Staat und sozialer
Bewegung. Laut dem Grundsatzpapier des Bachillerato im IMPA haben sie
dabei ein großes Ziel vor Augen: „Die Schaffung einer selbstverwalteten
Gesellschaft, deren Institutionen, wie die Schule, die individuelle und
kollektive Autonomie begünstigen und ermöglichen sollen.“
Ausgabe:
Nummer 429 - März 2010