Ein Ausbildungszentrum für Waisenmädchen in Kamerun sorgt für mehr Chancengleichheit: Viviane Tassi Bela hat ein emanzipatorisches Bildungsprojekt initiiert.
Ohne Französischkenntnisse geht der Name nur schwer über die Lippen: Institut Professionnel Romaine pour les Orphelins au Cameroun (IPROC) – so heißt jenes Berufsausbildungszentrum, in dem am 9. September 2009 in Obala die ersten Schülerinnen eine Berufsausbildung zur Textilverarbeitung starten. Obala ist eine Kleinstadt mitten in Kamerun, keine Stunde Fahrzeit von der Hauptstadt Yaoundé entfernt.
Selbsterhalt und Selbstbestimmung
. Was ist hier das Spezielle? IPROC richtet sich an elternlose Mädchen und junge Frauen im Alter von etwa 15 bis zwanzig Jahren aus strukturell benachteiligten Schichten. Der Lehrplan beschränkt sich nicht auf die Berufsausbildung, sondern umfasst auch Unterrichtseinheiten zur Sensibilisierung in Fragen von Selbstbestimmung, der Stellung der Frau in der Gesellschaft, Frauen- und Menschenrechten sowie Schwangerschaftsprävention und Gesundheitsvorsorge (Schwerpunkt: HIV/AIDS). Gleichzeitig gilt es, die lokalen Traditionen und Kulturen zu beachten. Damit hat auch die Entscheidung für den Textilbereich zu tun. Hier können die Absolventinnen realistische Erwerbsmöglichkeiten erwarten. Ziel ist aber nicht nur, den jungen Frauen den Weg in eine ökonomisch unabhängige Zukunft zu ebnen, überdies soll auch ein Solidaritätsnetzwerk unter den Absolventinnen aufgebaut werden, sodass diese ihr erworbenes Know-how später an andere Waisenmädchen und Frauen weitergeben. Überhaupt ist Umverteilung im Kleinen ein wichtiges Stichwort in dem bislang ausschließlich durch Spenden finanzierten Projekt, das Solidarität mit den Jugendlichen, nicht aber Mitleid, in den Mittelpunkt stellt und sich auf das in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgehaltene Recht auf Bildung beruft.
In Kamerun ist lediglich die fünfjährige Grundschule kostenfrei für alle. Danach wird Schulgeld zum Ausschlussmechanismus für Kinder aus ökonomisch schwachen Verhältnissen. Doch auch wenn die Grundschule Pflicht ist, ist deren Abschluss längst nicht Selbstverständlichkeit. Fehlen ausreichend Erwachsene in der Familie, die die Existenzsicherung gewährleisten, müssen die Kinder ihren Beitrag leisten. Hier doppelt sich der Teufelskreis in einem Land, in dem der mangelnde Zugang zu leistbarer medizinischer Versorgung für eine niedrige Lebenserwartung und in der Folge für eine hohe Zahl an Waisenkindern sorgt. Laut UNAIDS leben in Kamerun um die 240.000 Waisenkinder. Fehlen die Eltern als Betreuungspersonen, liegt die weitere Zukunft der Kinder meist in der Hand der Verwandten.
Realitäten und das Recht auf Bildung.
Viviane Tassi Bela, Initiatorin des Bildungsprojekts in Wien, kennt diese Situation aus eigener Erfahrung. Ihr Vater und wenig später ihre Mutter (einst Lehrerin – das Ausbildungszentrum IPROC trägt ihren Vornamen, Romaine) sind in Kamerun gestorben, als die jüngsten Geschwister gerade einmal 14 und 15 Jahre alt waren. Sie selbst lebte zu diesem Zeitpunkt seit kurzem in Europa und war noch mit ihrem Studium und Praktikum beschäftigt. In der Folge unterstützte sie die weitere Schulbildung ihrer Geschwister. Doch längst nicht alle Waisen haben Verwandte in den reicheren Ländern des Nordens, die Geld nach Kamerun schicken können. „Waisen sind im Allgemeinen alleinegelassen. Wenn die Eltern sterben, entscheiden bestimmte Verwandte, wo die Kinder leben werden. Dort bekommen sie zu essen und ein Dach über dem Kopf. Aber dadurch, dass der Zugang zur Schule kostenpflichtig ist, können sich viele Familien so etwas nicht leisten. Sie haben schon ihre eigenen Kinder, ihre eigenen Sorgen“, schildert Viviane Tassi Bela die Lebensrealitäten. „Steht eine Familie vor der Entscheidung, wer eine Ausbildung bekommt, fällt die Wahl meistens auf die Buben. Aber: Was mache ich in dieser kompetitiven kapitalistischen Welt nur mit einem Grundschulabschluss?“ Gerade in der Pubertät fehlen oft eine gute Betreuung und Zukunftsperspektiven für Waisenmädchen. „Es kommt der Zeitpunkt, wo diese Kinder in die Großstädte fliehen, doch dort sind sie anonym und werden ohne Skrupel ausgebeutet.“ Sie landen nicht selten in einer Spirale von Missbrauch und Gewalt, berichtet Tassi Bela: „Diese Mädchen sind dann auf sich gestellt. Einige sind mit 15 schon schwanger, einige auch schon schwer krank, andere total verzweifelt.“
Hier aktiv zu werden, war Tassi Bela wichtig. Die konkrete Idee zu einem Ausbildungszentrum ist letztes Jahr entstanden, im Oktober 2008 folgte die Vereinsgründung in Wien, im Dezember die ersten Spendenaufrufe, im März 2009 der erste Arbeitsplatz in Obala: Dort ist Mireille Nga Bela mit intensiver Vorarbeit beschäftigt, damit das IPROC termingerecht den Schulbetrieb aufnehmen kann. Ihr steht in Obala ein ehrenamtliches Team zur Seite.
Dass das Vorhaben bei den zuständigen Behörden auch Skepsis hervorruft, konnte Tassi Bela während ihres Aufenthalts in Kamerun im Februar dieses Jahres erleben. Wozu Frauen eine solche Ausbildung bräuchten, sie könnten doch ebenso gut heiraten und wären versorgt, entgegnete etwa ein Beamter. Ob das Ausbildungszentrum etwa wolle, dass die Frauen mit ihrem Wissen um Verhütung nachher auf der Straße stehen?
Solchen Kurzschlüssen konstruktiv zu entgegnen, erfordert eine gewisse Sensibilität. Wichtig sei gegenüber den Behörden stets zu betonen, dass auch sie einen Beitrag leisten müssten. Mit dem IPROC möchte die Initiatorin auch der „Passivität der Regierung gegenüber dem Recht auf Bildung“ ein positives Beispiel entgegensetzen. Dass etwa nach der Grundschule in Kamerun die Schulgebühren für alle gleich hoch sind, während die ökonomischen Hintergründe der Kinder und Jugendlichen nicht miteinander verglichen werden können, müsste nicht sein.
15.000 Euro und zehn Schülerinnen.
Der Behördenmarathon gestaltete sich zwar mühsam und zeitaufwändig, aber durchwegs erfolgreich. Strenge Auflagen bei spendenfinanzierten Vorhaben sind auch eine Folge negativer Erfahrungen, erklärt Tassi Bela. Hoffnungen sind schnell geschürt, viele Projekte in der Vergangenheit aufgrund mangelnder Seriosität und finanzieller Mittel aber ebenso schnell wieder verschwunden. Und so grundsätzlich das IPROC ein Recht auf Bildung auch formuliert, so überschaubar ist umgekehrt die Größe des Projekts: Mit gerade einmal zehn Schülerinnen wird der Anfang gemacht, mit 15.000 Euro jährlich wird dies möglich sein (Projekttage, Impfungen, Mittagessen, Schulwegkosten inklusive) – ein Betrag, mit dem sich das Team nicht übernehmen will. Sobald der Verein bekannter ist und eine höhere Spendenakquisition machbar scheint, soll die Zahl der Ausbildungsplätze erhöht werden.
Aktuell steht die Aufnahme der Teilnehmerinnen an. Anfang Juni fand ein erster Informationsvormittag statt. 17 der etwa 35 angemeldeten Mädchen und Frauen im Alter zwischen 14 und 22 Jahren sind gekommen. Nur fünf der Interessentinnen verfügten über einen Grundschulabschluss – ein solcher wäre jedoch als Voraussetzung für eine Teilnahme am Ausbildungsprogramm definiert. Während der Abschluss Lese-, Schreib- und Rechenkenntnisse nachweisen soll, stellt sich gleichzeitig die Frage, wie viel Sinn ein solches Aufnahmekriterium macht, wenn dieses an der Zielgruppe offenbar vorbeigeht. Fehlen den Schülerinnen tatsächlich die notwendigen Kenntnisse aus der Grundschule, müssten diese allerdings parallel zur Ausbildung nachgeholt werden. Doch hier kommen die realistischen zeitlichen Ressourcen der Schülerinnen ins Spiel. Viele sind bereits Mütter (von ein bis drei Kindern), und gerade denjenigen, die Kinderbetreuungspflichten haben, fehlt der Grundschulabschluss. Ein kontinuierlicher Schulbesuch, drei Jahre lang bis zum Abschluss, wird für all jene, die bislang auf kleine Jobs zum Überleben angewiesen waren und Kinder zu betreuen haben, keine einfache Sache. Dass sie es trotzdem schaffen können und dabei auch Unterstützung erhalten, demonstrierten einige Bewerberinnen auch damit, dass Großmütter und Tanten zum Infotag mitkamen.
In weiteren Gesprächen wird IPROC-Koordinatorin Mireille Nga Bela nun mit den Interessentinnen abklären, welche konkreten Schwierigkeiten bestehen, welche Unterstützung notwendig und möglich ist. Parallel steht im Austausch mit dem Projektteam in Wien das Erarbeiten von Lösungsvorschlägen im Rahmen des Projekts an, sodass nicht gerade diejenigen, die am meisten benachteiligt sind, von einem Ausbildungsplatz ausgeschlossen werden müssen.
Daniela Koweindl ist Damenoberbekleidungsmacherin und in Wien im Projektteam für das Berufsausbildungszentrum IPROC (Obala/Kamerun) aktiv.
Info:
www.education-obala.org
Spenden für das IPROC:
Verein Bildung und Zukunft für Waisenkinder
Erste Bank, BLZ: 20111,
Kontonummer: 29122533500
BIC: GIBAATWW,
IBAN: AT302011129122533500
Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin, www.anschlaege.at