Staatlichkeit und emanzipatorische Politik

Eine Zeit lang sah es so aus, als könnten auch
in der Sozialdemokratie jene politischen
Denk ansätze an Einfl uss gewinnen, die den
Staat als Akteur im Kampf für fortschrittliche Politik
abgeschrieben hatten. „Privat vor Staat“ war
auch innerhalb der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion
keine unbekannte Parole. Weitere Privatisierungen
und Deregulierungen gerade auch im
Bereich der Öffentlichen Daseinsvorsorge waren
die Folge. Diese Entwicklung hat sich seit einiger
Zeit zumindest auf der Ebene der politischen Verlautbarungen
wieder verändert. Auch das „Hamburger
Programm“ versucht, staatliche Handlungen
wieder als ein Element gesellschaftlicher Steuerung
und Gestaltung zu beschreiben.

Im intellektuellen Umfeld der Sozialdemokratie
melden sich wieder Stimmen zu Wort, die eine
stärkere Rolle des Staates im politischen Geschehen
befürworten. Hans Peter Bull, Professor für Öffentliches
Recht in Hamburg und für die SPD u.a. Innenminister
von Schleswig-Holstein Anfang der 1990er
Jahre, unternimmt mit seinem Buch „Absage an
den Staat? Warum Deutschland besser ist als sein
Ruf“ den Versuch, die Debatten über die Handlungsfähigkeit
von Staatlichkeit in Deutschland zu mäßigen.
Bull erhebt dabei nicht den Anspruch, eine
tiefer schürfende Analyse der Grundstrukturen
von Staatlichkeit an sich zu liefern.
In seinem Buch beschreibt er vielmehr vor allem,
wie politisches Handeln nach wie vor gesellschaftliche
Gestaltungs möglichkeiten besitzt. Im Gegensatz
zu Staatsver ächtern wie dem Speyerer Professor
Hans Herbert von Arnim geht es Bull darum,
die Möglichkeiten, die die Staatsorganisation des
Grundgesetzes bietet, für soziale und demokratische

Veränderungen zu nutzen. Theoretisch
schließt er dabei an die sozial-liberale Staatslehrertradition
der Bundes republik an. Bezüge zu einer
marxistischen Interpre tation des Grundgesetzes,
wie sie etwa Wolfgang Abendroth geliefert hat,
fi nden sich nicht, sind aber auch nicht Anspruch
des Autors.

Der Staat als soziales Verhältnis

Dass es „den Staat“ nicht gibt, ist eine Binsenweisheit.
Neben intellektuell einfachen
Darstellungen, die den Staat als einen monolithischen
Block und schlichtes Instrument in
den Händen einer herrschenden Klasse sahen, hat
sich innerhalb der an Marx orientierten Debatte
schon sehr früh eine vielschichtige Diskussion um
die Beschaffenheit von Staatlichkeit – vor allem
im Kontext kapitalistischer Wirtschaftsordnungen
– entwickelt.

Fast ein kleines Lehrbuch zur Einführung in
die marxistische Staatstheorie ist das Buch „Herrschaft
im Wandel“ von Andreas Fisahn, Professor
für Öffentliches Recht in Bielefeld. Forschungsleitbild
für Fisahn ist nicht die abstrakte Frage, was
„der Staat“ ist, sondern wie sich gesellschaftliche
Herrschaft im Kontext kapitalistischer Wirtschaftsund
Gesellschaftsordnungen vermittelt. Ausführlich
grenzt er dazu seine Überlegungen von einem
wirkungsmächtigen Diskussionsstrang in der (vor
allem deutschen) Rechtswissenschaft ab, der den
Staat unabhängig von seiner konkreten Ausgestaltung
und seinem gesellschaftlichen Kontext
zu begreifen versucht. Staatlichkeit wird in einer
ersten Annäherung als „Ensemble von Strukturen
und Institutionen mit unterschiedlichen, mehr oder
weniger gut aufeinander abgestimmten Kompetenzen,
Aufgaben und Funktionen“ beschrieben.
Diese Institutionen sind von „unterschiedlichen
Kräfteparallelogrammen“ durchzogen und gleichzeitig
selbst „Elemente des Kräfteparallelogramms
im staatlichen Feld“. Hier schließt Fisahn sehr deutlich
an die Arbeiten von Nicos Poulantzas an. Intensiv
widmet sich der Autor sodann dem Verhältnis
von Demokratie und Herrschaft. Für Fisahn bleibt das völlige Absterben von Herrschaft in der sozial
is tischen Utopie ein „mystisches Moment“. Mit
dem Wegfall ökonomischer Ausbeutung – der
„Herrschaft über Menschen“ – und der Einführung
einer gemeinschaftlichen Verwaltung des Produktionsprozesses
werde zwar Demokratie im eigentlichen
Sinne möglich. Allerdings sei zu vermuten,
dass mit der gemeinschaftlichen Herrschaft über
Sachen dann doch wieder auch eine Art Herrschaft
über Menschen verbunden sein würde. Am Begriff
von Staatlichkeit in der „Assoziation der Freien und
Gleichen“ sei mithin noch zu arbeiten. Auszugehen
sei aber zumindest von einer „Rücknahme des
Staates in die Gesellschaft“.

Ausführlich setzt sich Fisahn mit der Diskussion
über die genaue Funktion von Staatlichkeit im
Kapitalismus auseinander. In diesem Sinne fungiere
der Staat als Garant der kapitalistischen
Produktion insgesamt. Zugleich durchdringe der
Staat aber nicht alle Gesellschaftsbereiche gleichermaßen.
Dies öffnet die Perspektive dafür, auch
andere gesellschaftliche Machtverhältnisse in den
Blick zu nehmen. Ein letzter Abschnitt des Buches
nimmt die „neoliberalen Verschiebungen“ im fl exiblen
Kapitalismus in der Beschaffenheit von Staatlichkeit
in den Blick. Fisahn stellt dabei die Thesen
auf, 1. eine Tendenz zur Entdemokratisierung oder
Oligarchisierung staatlicher und gesellschaftlicher
Entscheidungsprozesse, 2. die Entfl echtung staatlicher
und ökonomischer Funktionen, 3. eine Umstellung
der Logik staatlicher Apparate auf die
ökonomische Logik. Insgesamt schlägt das Buch
eine gut lesbare Schneise durch die marxistische
Staatsdiskussion der letzten einhundertfünfzig
Jahre. Mit dem Blick auf die Veränderungen der
letzten Jahrzehnte wird zudem ein Bogen zu aktuellen
Diskussionen geschlagen.

Der Staat in der
Bürgerlichen Gesellschaft

Im Sammelband „Der Staat der Bürgerlichen
Gesellschaft“ werden weitere Facetten marxistischen
Staatsverständnisses diskutiert.

Die Herausgeber Joachim Hirsch, John Kannankulam
und Jens Wissel skizzieren in ihrer Einleitung
zentrale Elemente einer an Marx orientierten
Staats theorie. Dazu zählt, Staatlichkeit als Ausdruck
gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse
zu begreifen, die es zu überwinden gilt, und die
für die bürgerliche Gesellschaft charakteristische
Trennung von Staat und Gesellschaft zu überwinden.
Der Staat müsse als integraler Bestandteil
der kapitalistischen Produktionsverhältnisse verstanden
werden. Leitfrage sei, welches die Prozesse
sind, mittels derer sich die politische Form der
kapitalistischen Gesellschaft durch soziale Auseinandersetzungen
und Kämpfe hindurch erhalte, wie
vor diesem Hintergrund politische Herrschaft als
die Einheit von Zwang und Konsens hergesellt
werden könne. In einem weiteren Artikel gehen
sie vor allem auf die Bedeutung von Louis Althusser
und Nicos Poulantzas ein. Dabei plädieren sie dafür,
nicht nur ökonomische Kräfteverhältnisse in
den Blick zu nehmen. Im Anschluss an Poulantzas
wird für einen „relationalen“ Staatsbegriff plädiert.
Die Beschaffenheit von Staatlichkeit hängt damit
von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen ab, die
sich in die Materialität des Staates einschreiben.
Josef Esser, bereits seit den 1970er Jahren mit
Arbeiten zur materialistischen Staatstheorie präsent,
gibt abschließend einen Überblick über das
Schwarze Loch einer tatsächlichen Auseinandersetzung
mit materialistischer Staatstheorie in der
deutschen Politikwissenschaft. Als Kontrast dazu
verweist er auf die Debatten in angelsächsischen
Ländern, die unter der Überschrift „Bringing the
State back in“ wieder stärker auch marxistische
Arbeiten in der Diskussion rezipierten.

Vom Blick auf den Staat zur Rechtsform

Einen der entscheidenden Beiträge zur
Weiterentwicklung marxistischer Staatstheo
rie hat Antonio Gramsci geleistet. Mit
dem Buch „Hegemonie gepanzert mit Zwang“ versuchen
Sonja Buckel und Andreas Fischer-Lescano,
einen Überblick über aktuelle Konzepte von Staatlich
keit im Anschluss an Gramsci zu geben. Der
Focus richtet sich auf die Frage, wie sich Staatlichkeit
jenseits des klassischen Nationalstaates entwickelt
hat. Deutlich wird, dass sich bereits von
„frag mentierter“ Staatlichkeit auf internationaler
Ebene sprechen lässt. Die Frage, was sich alles unter
Zivilgesellschaft auf internationaler Ebene fassen
lässt, welches Verhältnis zwischen National staaten
und globalen Kräfte- und Klassen ver hält nissen
besteht, bietet viel Stoff für weitere Diskussionen.
Die bereits oben angesprochene Herausforderungen,
Recht in seinem – herrschaftsgebundenen
- gesellschaftlichen Kontext zu betrachten, ohne
die möglichen Eigendynamiken der Rechtsform
aus den Augen zu verlieren, versucht Sonja Buckel
in ihrem Buch „Subjektivierung und Kohäsion“
nachzugehen. Bereits mit dem Titel werden die
zwei Hauptzwecke der Rechtsform deutlich: Subjektivierung
des Menschen auf der einen, Kohäsion
der gesellschaftlichen Verhältnisse auf der
anderen Seite. Dabei versucht sie eine Verbindung
von Systemtheorie als der Theorie, die der Vorherrschaft
funktionaler Differenzierung in modernen
Gesellschaften nachspüre, und marxistischer Gesellschaftstheorie,
die den kapitalistischen Charakter
der Gesellschaft in den Blick nehme. Recht
ist nötig, um gesellschaftliche Hegemonie zu organisieren.
Gesetze wirken hier als juridische Machttechnologie.
Somit kommt dem Recht einerseits
eine Funktion als Kohäsions- und Konsensfi ktion
der Gesellschaft zu, als Scharnier zwischen den
Vereinzelten Individuen und der Gesellschaft. Als
verselbstständigte Form sozialer Verhältnisse erhalte
sich die Rechtsform aber zugleich eine „relationale
Autonomie“. Rechtsform und politische
Form können sich demnach unabhängig von einander
entwickeln.

Aus dieser Analyse leitet Buckel auch Emanzipationspotentiale
des Rechts her. Mit der formalen
Anerkennung von Rechten gehe ein Aufschub
an Macht einher, Kräfteverhältnisse könnten sich
nur „relational“ – also im Verhältnis zu anderen
Einfl ussfaktoren – ins Recht einschreiben. Rechte
könnten daher auch als „Waffen“ in gesellschaftlichen
Konfl ikten eingesetzt werden. Mit dem Buch
Buckels gelingt eine Erweiterung der Perspektive
der neuern marxistischen Diskussion über Staatlichkeit.
Mit der Rechtsform wird eine der entscheidenden
Handlungsformen gesellschaftlicher
Steuerung auch auf seine emanzipatorischen Potentiale
hin untersucht.

Diskussion von Staatlichkeit und manzipatorische Politik

Die eingangs vorgestellten Bücher zeigen,
dass die marxistisch inspirierte Diskussion
über Staat, Recht, und die Bedingungen
emanzipatorischer Politik weiter an Substanz gewonnen
hat. Klar ist, dass diese Diskussion weder
den politikwissenschaftlichen noch den sozialdemokratischen
Mainstream in Deutschland erreicht
hat. „Den Staat“ als Akteur zu rehabilitieren bzw.
wieder in die innersozialdemokratische Debatte
– siehe Hamburger Programm – zu bringen, ist als
Haltelinie gegen ein weiteres Abrutschen in eine
Politik, die sich immer weiter ihrer Handlungsmöglichkeiten
beraubt oder berauben lässt, sinnvoll.
Hinzutreten muss aber auch ein Diskussion
darüber, wie weit ein allzu einfaches rekurrieren
auf staatliche Maßnahmen ins Leere läuft, wenn
sie nicht die gesellschaftlichen Hintergründe und
Rahmen von Staatlichkeit mit in den Blick nimmt.
Bei der Lektüre der oben angeführten Bücher wird
zudem deutlich: Ohne ein fundiertes Gesellschaftsverständnis
schwebt jede Vorstellung vom Staat
im freien Raum. Es lohnt sich, auch diese Impulse
in die sozialdemokratische Debatte zu tragen.

Literatur
Buckel, Sonja: Subjektivierung und Kohäsion. Zur Rekonstruktion
einer materialistischen Theorie des Rechts, Vellbrück Wissenschaft,
Weilerswist 2007, 360 Seiten, 38,00 Euro
Buckel, Sonja/Fischer-Lescano, Andreas: Hegemonie gepanzert mit
Zwang. Zivilgesellschaft und Politik im Staatsverständnis Antonio
Gramscis, Nomos-Verlagsges., Baden-Baden 2007, 209 Seiten, 29,00
Euro.
Bull, Hans Peter: Absage an den Staat? Warum Deutschland besser
ist als sein Ruf, Vorwärts Buch, Berlin 2005, 293 Seiten, 24,80 Euro.
Fisahn, Andreas: Herrschaft im Wandel. Überlegungen zu einer krit ischen
Theorie des Staates, PappyRossa Verlag, Köln 2008, 410 Seiten,
22,90 Euro.
Hirsch, Joachim/Kannankulam, John/Wissel, Jens: Der Staat der Bürgerlichen
Gesellschaft. Zum Staatsverständnis von Karl Marx, Nomos-
Verlagsges., Baden-Baden 2008, 223 Seiten, 29,00 Euro.