Die Sicherheit in der Flexibilität

Erfolgsmodell "Flexicurity"?

In der nimmermüden Diskussion um Grenzen und Deregulierung des Sozialstaats steht der "Dauerbrenner" Arbeitsrecht seit Jahrzehnten auf der Reformagenda.

Dies verwundert jedenfalls dann nicht, wenn das Arbeitsrecht als ein entscheidender Steuerungsfaktor begriffen wird, der die sozialen Missstände, primär die Massenarbeitslosigkeit, mitverursacht hat, wie es die herrschende, interdisziplinäre Meinung nach wie vor behauptet.1 Die durch das Arbeitsrecht verursachten unnötigen Kosten senkten dieser Ansicht nach die Einstellungsbereitschaft, vernichteten daher Arbeitsplätze. Insbesondere der Kündigungsschutz verkehre sich in sein Gegenteil, schließe die Outsider zugunsten der Insider von der Teilhabe am Arbeitsmarkt aus. Folglich sollten soziale ArbeitnehmerInnenschutzstandards auf ein "vernünftiges Maß" zurückgefahren bzw. flexibilisiert werden. Zudem müssten die Realitäten des Arbeitsmarktes, der Strukturwandel hin zu einer flexiblen Dienstleistungsgesellschaft anerkannt und das zugunsten der atypischen Beschäftigungsverhältnisse erodierende "Normalarbeitsverhältnis" flexibilisiert werden. Daneben erforderten auch die Arbeitsbedingungen eine weitreichende Flexibilisierung. Während die Arbeitszeit bereits durch das Arbeitszeitgesetz von 1994 und durch tarifvertragliche Arbeitszeitkonten umfassend flexibilisiert wurde, betrafen die jüngsten "Reformen" - vor allem die Agenda 2010 - eine Flexibilisierung der Beschäftigungsformen und der Beendigungstatbestände von Arbeitsverhältnissen. Dies folgt der Logik, dass weniger bzw. "flexibleres" Recht zu mehr Beschäftigung führen soll.2 Allerdings zeigte sich, dass der einseitige Abbau von ArbeitnehmerInnenrechten schwer durchsetzbar ist und es vielmehr eines "ausgewogenen" und in anderen Ländern "erfolgreich" praktizierten "Modells" bedürfe. Als solche kamen die Modelle aus den Nachbarländern, vor allem aus Dänemark und den Niederlanden, gerade recht, die vermeintlich einen Interessenausgleich anstrebten, der seither unter "Flexicurity" firmiert.

Inhalt und Bedeutung von Flexicurity

Dem aus Flexibilität und Sicherheit zusammengesetzten Begriff liegt die Vorstellung zugrunde, beide Punkte gerecht auszubalancieren. Kernpunkte sind ein extrem flexibler Arbeitsmarkt und ein dereguliertes Arbeitsrecht mit einem hohen Niveau an sozialer Sicherung. Während auf der einen Seite die im internationalen Vergleich relativ schwach ausgeprägten Kündigungsschutzregelungen und eminent flexible atypische Beschäftigungsverhältnisse stehen, die einen sehr weiten betrieblichen Handlungsspielraum eröffnen, befinden sich die staatlichen Transferleistungen wie Arbeitslosengeld und die staatlichen Weiterbildungs-, Qualifizierungs- sowie Eingliederungsmaßnahmen auf der anderen Seite auf sehr hohem Niveau. Jedoch stehen diesen substantiellen Rechten und Leistungen auch umfangreiche aktive Mitwirkungspflichten der Erwerbslosen und repressiv durchsetzbare Elemente des Forderns gegenüber.3 Damit sollen die völlig gegensätzlichen Interessenlagen von ArbeitnehmerInnen nach Sicherheit und Stabilität der Beschäftigung und damit guten Arbeitsbedingungen und der ArbeitgeberInnen nach Flexibilität ausgeglichen werden.4 Ferner solle die schwindende Einstellungsbereitschaft der ArbeitgeberInnen, das damit korrelierende Ausweichverhalten hin zu atypischen Beschäftigungsverhältnissen sowie die mangelnde Dynamik am Arbeitsmarkt durch eine Flexibilisierung des rigiden Normalarbeitsverhältnisses erheblich verbessert werden. Flexicurity findet viele prominente FürsprecherInnen: Die Europäische Kommission ("Grünbuch zum Arbeitsrecht"), Bundeswirtschaftsminister Glos, die Bertelsmann-Stiftung, das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung und selbst gewerkschaftsnahe WissenschaftlerInnen. Wenngleich die Inhalte teilweise sachlich konträre Wege einschlagen, haben sie viele Gemeinsamkeiten, die nicht nur in ihrer Anknüpfung an die vermeintlichen "Beschäftigungswunderländer" bestehen.5

Die "Erfolgsmodelle" Niederlande und Dänemark

Nach offiziellen Statistiken hat sich in diesen Ländern sowohl das Wirtschaftswachstum als auch der Beschäftigungs- und Arbeitslosenstand "vorbildlich" infolge der seit Mitte der neunziger Jahre durchgeführten tiefgreifenden Reformen des Arbeits- und Sozialrechts entwickelt. Jedoch beruhte dieser vermeintliche Erfolg weitestgehend auf einer großangelegten Statistikmanipulation, wie Klaus Schrader vom Kieler Institut für Weltwirtschaft für beide Länder eindrucksvoll unter Heranziehung der "breiten Arbeitslosigkeit" der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) belegen konnte.6 So habe die Arbeitslosenquote in den Niederlanden etwa 1997 nicht wie offiziell verkündet bei 5,2 %, sondern bei 25,3 % gelegen. Auch in Dänemark zeigt sich ein ähnliches Bild: Während die offizielle Arbeitslosenquote 1998 lediglich 6,6 % auswies, kam die "erweiterte Arbeitslosigkeit" der OECD auf 15,1 %. Ursächlich für diese erhebliche Diskrepanz von zum Teil fast dreimal so hohen Quoten sei, dass die "erweiterte Arbeitslosigkeit" der OECD im Gegensatz zur standardisierten Statistik auch die sog. "versteckte Arbeitslosigkeit" erfasse. Personen im arbeitsfähigen Alter, die "Erwerbsunfähigkeitsrenten" und andere "Transfereinkommen" wie Sozialhilfe beziehen oder einer staatlich subventionierten Arbeit nachgehen, würden trotz des in den anderen Ländern anderslautenden Arbeitslosenbegriffs nicht als arbeitslos gelten. Zwar darf nicht verkannt werden, dass auch nicht alle in der OECD-Statistik Erfassten als arbeitslos geführt werden dürften, da sie nicht alle per se vollumfänglich arbeitsfähig sind. Zudem relativiert sich die Kritik, da der nicht unerhebliche Anteil der amtlich überhaupt nicht registrierten Personen übersehen wird. Im Übrigen wird auch in Deutschland die Statistik der Bundesagentur für Arbeit mittlerweile einer immer extensiveren "kreativen Buchführung" unterzogen.7 Dennoch ist Schrader insofern zuzustimmen, dass die arbeitsmarktpolitischen Erfolge der Niederlande und Dänemark im internationalen Vergleich zu hoch bewertet werden.

Flexicurity - dennoch unterstützenswert?

Glaubte man also, dass Flexicurity sich damit als Erfolgsmodell erledigt hat - weit gefehlt.8 Vielmehr sei dies ein unterstützenswertes Modell, welches aber sozial auszugestalten sei. Die Unternehmen, die ein berechtigtes "Flexibilitätsbedürfnis" hätten, seien aufgefordert, Formen der internen (flexible Arbeitszeit) denen der externen (wie Kündigung) Flexibilität vorzuziehen. Dies verlange von ihnen allerdings einen vorausschauenden Umgang mit der Beschäftigungsfähigkeit und den Arbeitsbedingungen der Beschäftigten. Weiter müssten bislang benachteiligte Gruppen wie Ältere und Frauen vermehrt in Arbeit gebracht werden, notfalls über öffentliche Beschäftigungsprogramme. Schließlich dürfe niemand dauerhaft in Arbeitslosigkeit und prekären Arbeitsverhältnissen verharren. Daher müssten atypische Beschäftigungsverhältnisse begrenzt und dürften nicht auch noch staatlich gefördert werden.9 Diese Intention, die an ein einseitig unternehmerInnenfreundliches Konzept anknüpft, um es sozial auszugestalten, ist nicht nur für den sozialen Frieden völlig kontraproduktiv. Vielmehr würde dies auch die eindeutigen Forschungsergebnisse zum deutschen Kündigungsschutz ignorieren und die Stabilität des Normalarbeitsverhältnisses grundlegend infrage stellen. Der Kündigungsschutz wirkt sich weder auf das Niveau, noch auf die Struktur der Beschäftigung bzw. Arbeitslosigkeit sowie die Dynamik des Arbeitsmarktes negativ aus. Des Weiteren zieht das Kündigungsschutzgesetz nur relativ geringe Belastungen der ArbeitgeberInnen in Form von Klagequoten und extrem kurze Prozesse nach sich. Die Beschäftigten erhalten nur in etwa 15 % aller arbeitgeberInnenseitigen Beendigungen eine Abfindung.10 Zu dem zwingt es den/die ArbeitgeberIn in gewissem Umfang zu einer sozialen Reflektion des Sachverhalts vor dem Ausspruch einer Kündigung und hat insofern eine sinnvolle Präventionsfunktion.11

Risikoverlagerung zulasten der ArbeitnehmerInnen

Bereits jetzt sind die negativen Konsequenzen der jüngsten Flexibilisierungen unschwer zu erkennen.12 Diese lassen sich nicht einfach durch ein hohes und langes Arbeitslosengeld und eine "effizientere" Vermittlungspraxis vor allem für Ältere und Jüngere beheben. Arbeit ist als Lebensmittelpunkt Grundvoraussetzung sozialer Anerkennung und integrativer Teilhabe öffentlichen Leben und kann folglich nicht allein monetär durch Arbeitslosengeld oder temporal durch eine erneute rasche Vermittlung ersetzt werden. Ferner wird das unternehmerische Risiko zunehmend auf die Beschäftigten und den Staat übertragen, ohne eine angemessene, etwa steuerliche Kompensation durch die Unternehmen.13 Die Instabilität der Beschäftigungsverhältnisse zerstört jede langfristige Lebensplanung, konterkariert nicht selten die individuellen Ansprüche an die sozialen Sicherungssysteme, unterminiert zunehmend die Institutionen selbst und wirkt sich negativ auf die Binnennachfrage aus.14 Während der/die UnternehmerIn eigentlich das Risiko der Tätigkeit tragen und der/die Beschäftigte sein/ihr "Humankapital" lediglich der Weisung des Ersteren unterstellen sollte, droht dieses Verteilungsmodell in sein Gegenteil verkehrt zu werden: Die Unternehmen können ihr angebliches Flexibilitätsbedürfnis befriedigen und die Beschäftigten und der Staat übernehmen auch noch die Risiken. Lediglich an die soziale Verantwortung der Unternehmen sanktions- und damit folgenlos zu appellieren, hat angesichts der eindeutigen Erfahrungen in der Vergangenheit nicht nur keine Aussicht auf Erfolg, sondern meist schlicht das Gegenteil bewirkt.15

Alternativen zu Deregulierung und Flexicurity

Die atypischen Beschäftigungsformen und die Arbeitszeitregelungen sollten stattdessen eminent eingeschränkt und auf die ursprünglich vorgesehene Funktion - etwa den Einsatz in Auftragsspitzen sowie zum Zwecke der Vereinbarung von Beruf und Familie - zurückgeführt und dem zunehmenden Missbrauch Einhalt geboten werden.16 Insbesondere sollte die sachgrundlose Befristung und die Leiharbeit sowie geringfügige Beschäftigung gestrichen oder eingeschränkt bzw. nicht auch noch staatlich gefördert werden, da dies einer unkontrollierten Grauzone Tür und Tor geöffnet hat, ohne einen verlässlichen Weg in die reguläre Beschäftigung gebahnt zu haben. Ferner ist die "freie UnternehmerInnenentscheidung" bei der betriebsbedingten Kündigung durch eine gesetzliche Missbrauchskontrolle, die prozessual von Sachverständigen überprüft werden kann, zu ergänzen. Zudem müsste die Sozialauswahl mit ihren mittlerweile zahlreichen Ausnahmen wieder erheblich strikter gefasst werden, insbesondere müssten die Aussichten auf dem Arbeitsmarkt explizit berücksichtigt werden. Auch die starken Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats bei "Outsourcing" in Schweden sind ein erwähnenswerter Gesichtspunkt gegen das in Deutschland vermehrt von den Unternehmen ausgenutzte "Erpressungspotenzial" durch die Ankündigung der Verlagerung der Produktion ins Ausland. Des Weiteren ließe sich der Flexibilisierung der Arbeitszeit durch einen wie in der Weimarer Republik eingeführten staatlichen Genehmigungsvorbehalt mit Strafandrohung oder durch Aberkennung der steuerlichen Absetzbarkeit als Betriebsausgaben begegnen.17 Zudem wäre an eine qualitative anstatt der bisherigen quantitativen Betrachtung der Arbeitszeit zu denken, da ersichtlich nicht jede Arbeitstunde gleich ist. Ferner ist die Idee aufzugreifen, dass in wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht nur den ArbeitnehmerInnen abverlangt wird, den Gürtel enger zu schnallen, sondern auch dem Vorstand und AnteilseignerInnen.

Ein Spiegel der Machtverhältnisse

Durch einen gesetzlichen Mindestlohn wie in Frankreich, den USA und England ist eine angemessene Vergütung der Beschäftigten dort zu gewährleisten, wo keine oder nur Tarifverträge mit Minimalentgelt existieren. Ein solcher lässt sich auch auf Art. 3 Abs. 2 S. 2 Grundgesetz stützen, wonach eine mittelbare Diskriminierung von Frauen ausgeschlossen werden soll. Frauen sind bislang jedoch überdurchschnittlich in Beschäftigungsmöglichkeiten mit den schlechtesten Arbeitsbedingungen zu finden. Schließlich ist ein gesetzlicher Wiedereinstellungsanspruch nach betriebsbedingter Kündigung denkbar, der dann eingreift, wenn das Unternehmen seine Krise überwunden hat. Da indes selbst in "kritischen Wissenschaftskreisen" Modelle, die nicht zu vereinbarende Interessenlagen auszubalancieren suchen, viel populärer sind, wird freilich eine Veränderung der Machtverhältnisse notwendig sein, um eine Verteilungsgerechtigkeit der nicht nur am Arbeitsmarkt sehr einseitig zugewiesenen Risiken herzustellen. Philipp Rügemer promoviert in Köln zum Thema "Bestandsschutz und Arbeitsmarkt". 1 Rüthers, Bernd, Der Geltende Kündigungsschutz - Beschäftigungsbremse oder Scheinproblem?, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2006, 1640 ff.; Bauer, Jobst-Hubertus, Arbeitsrechtlicher Wunschkatalog für mehr Beschäftigung, in: Neue Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht (NZA) 2005, 1046 ff. 2 Seifert, Hartmut, Was hat die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes gebracht?, in: WSI-Mitteilungen (WSI-Mitt) 2006, 601 ff.; Hohendanner, Christian / Bellmann, Lutz, Interne und Externe Flexibilität, in: WSI-Mitt 2006, 241 ff. 3 Eichhorst, Werner / Konle-Seidl, Regina / Lüdeke, Britta, Reformen der Arbeitsmarktpolitik und der Arbeitsmarktregulierung - Ein internationaler Vergleich, in: Empter, Stefan / Frick, Frank (Hrsg.), System Arbeitsmarkt. Chancen für eine Reform des Arbeitsrechtes, 2006, 142 ff. 4 Dingeldey, Irene, Zehn Jahre aktivierende Arbeitsmarktpolitik in Dänemark, in: WSI-Mitt 2005, 18 ff.; Pfarr, Heide, Flexicurity - Ein Konzept für das Arbeitsrecht der Zukunft?, in: WSI-Mitt 2007, 416 ff. 5 Pfarr, (Fn. 4), 418; Eichhorst/Konle-Seidl/Lüdeke (Fn. 3), 143 ff. 6 Schrader, Klaus, Die Weltwirtschaft, 2000, 89 ff. 7 Rügemer, Werner, Raus aus der Statistik, in: Junge Welt v. 29.5.2007, 10 f. 8 Pfarr (Fn. 4), 419; Eichhorst / Konle-Seidl / Lüdeke (Fn. 3), 187 ff. 9 Ebda 10 Ullmann, Karen, Arbeitsrechtspolitik ohne Tatsachengrundlage, in: Kritische Justiz 2006, 26 ff.; Kimmich, Martin, in: Menze, Holger u.a. (Hrsg.), Recht auf Arbeit - Recht auf Faulheit, 2006, 228 ff. 11 Kittner, Michael, in: Otto-Brenner-Stiftung (Hrsg.), Muss der Kündigungsschutz reformiert werden?, 2003, 83 f. 12 Erlinghagen, Marcel, Beschäftigungsunsicherheit in Europa, in: WSI-Mitt 2007, 127 ff., Seifert (Fn. 2), 601 ff. 13 Butterwegge, Christoph, Krise und Zukunft des Sozialstaates, 282 f.; Thielemann, Ulrich, Radikales Management und soziale Marktwirtschaft, in: Arbeitsrecht im Betrieb 2007, 1 ff. 14 Huber, Günter, Beschäftigungsfördernder Wunschkatalog, in: NZA 2005, 1340 ff.; Zachert, Ulrich, Die Deutschen sterben aus - na und?, in: NJW 2006, Editorial. 15 Keller, Bernd / Seifert, Hartmut, Atypische Beschäftigung - Flexibilisierung und soziale Risiken, 2007. 16 Ebda. 17 Däubler, Wolfgang, Die Zukunft des Arbeitsrechts, in: Arbeit und Recht 2005, 1 ff.; Huber (Fn. 14), 1340 ff.; Klenner, Christina / Schmidt, Tanja, Familienfreundlicher Betrieb - Einflussfaktoren aus Beschäftigtensicht, in: WSI-Mitt 2007, 494 ff.