Die EU kann viel gewinnen!

Eine glaubwürdige Europäische Politik braucht den pünktlichen Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei

Der 3. Oktober steht nun als Termin, um in Luxemburg die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu beginnen. Das ist wichtig und richtig, da jede andere Entscheidung die Glaubwürdigkeit der EU stark erschüttert, nationalistische Kräfte in der Türkei gestärkt und die Lösung vieler europa- und außenpolitischer Probleme erschwert hätte.
Österreichs Last-Minute-Obstruktion mit dem Ziel, die Aufnahme der EU-Türkei-Verhandlungen zu verhindern, war unseriös. Kanzler Schüssel konnte nicht erklären, warum er das Verhandlungsziel EU-Beitritt relativieren will, dem er im Dezember 2004 wie alle anderen Staats- und Regierungschefs der EU zugestimmt hat.
Wien`s Verweigerung gegenüber dem Verhandlungsrahmen zwang die EU-Außenminister zu einem kurzfristigen Rettungstreffen in Luxemburg. Dabei ging es letztlich um die Glaubwürdigkeit der EU und des gesamten europäischen Integrationsprozesses. Jedes Ergebnis, das den Beschluss der Staat- und Regierungschefs vom Dezember 2004 substantiell verändert, hätte zum Abbruch der 42-jährigen europäischen Integrationspolitik gegenüber der Türkei - wahrscheinlich sogar durch Ankara selbst - geführt.
Dies hätte, nach der Verfassungs- und Finanzkrise, ein neues Desaster für die EU bedeutet. Wenn dann in der Folge die Reform-Regierung Erdogan scheitern und die Türkei sich von Europa eher abwenden würde, stünde die Europäische Integrations- und Sicherheitspolitik, aber auch die Türkei selbst, vor einem Scherbenhaufen.

In der Türkei herrscht immer noch eine Aufbruchstimmung, der überwiegende Teil der Bevölkerung will nach wie vor eine eindeutige Orientierung des Landes nach Europa. Aber es gibt auch Kräfte, die jeden Wandel ablehnen und die Verhandlungen am 3. Oktober als innenpolitische Niederlage betrachten. Dies sind vor allem nationalistische Kräfte, deren Argument, die Türkei würde zu viele Zugeständnisse an die EU machen, ohne wirklich eine erste Chance auf einen Beitritt zu erhalten, durch jedes Abrücken der EU vom Verhandlungsziel an Gewicht und Anhängerschaft gewinnen.

Die diskutierten Probleme, die es auszuräumen gilt, lassen sich jedoch nur durch ein ernsthaftes und von Vertrauen getragenes Zusammenspiel der EU und der Türkei lösen.

Ein Beispiel, immer wieder von Türkei - Gegnern ins Feld geführt, ist die Aufarbeitung der Verbrechen an Armeniern im Ersten Weltkrieg.
Allein die Tatsache, dass vor kurzem eine Wissenschaftlerkonferenz in Istanbul dazu stattfand, war ein positives Signal. Erstmals wurde in der Türkei offen und wissenschaftlich über das Thema debattiert. Genau dies wollten die Reformgegner verhindern, doch die türkische Regierung hat sich mit Bürgerrechtlern und kritischen Geistern solidarisiert.
Die EU sollte dies nicht nur als deutlichen Fortschritt in der Türkei, sondern auch als Erfolg ihrer eigenen Politik begreifen, die die Reformen in der Türkei unterstützt.
Sie sollte nicht den Fehler machen, die Gegner des Reformprozesses in der Türkei als Grund für immer neue Hürden in den Beitrittsverhandlungen anzuführen und sie somit letztendlich zu stärken. Beitrittgegner in der EU und Reformgegner in der Türkei, die vor allem im Polizei- und Justizapparat agieren, gehen somit eine unsägliche politische Allianz ein.

Ein anderes wichtiges Beispiel ist die Zypern-Frage. Dort hat die Türkei bis jetzt alles getan, was die EU verlangt hat. Sicher, die Anerkennung Zyperns steht noch aus, und ein Beitritt der Türkei wird ohne eine solche Anerkennung sicher nicht erfolgen.
Aber die türkische Regierung hat gegen massive Widerstände im eigenen Land ernsthafte Gespräche mit der griechischen Seite durchgesetzt - mit dem Ergebnis, dass 65 Prozent der türkischen Inselbewohner für die Einheit stimmten, anders die Griechen im Süden, die die Union ablehnten. Die EU muss nun aber stärker begreifen, dass das "Zypernproblem" in erster Linie mit den Zyprioten gelöst werden muss, dass die EU eine neue Initiative zur Wiedervereinigung der Insel ergreifen muss. Würden endlich in Nordzypern die von der Europäischen Union in Aussicht gestellten Wirtschaftshilfen und Handelserleichterungen einsetzen und die Gemeinschaft so zu ihren eigenen Zusagen stehen, würde dies den gegenwärtig bestehenden Druck bei der Frage der formalen Anerkennung unnötig machen. Der Türkei würde es erleichtert, den Verpflichtungen aus dem Zollabkommen nachzukommen, insbesondere der Ermöglichung des Zugangs von zypriotischen Schiffen und Flugzeugen zu türkischen See- bzw. Flughäfen.
Die Gegner der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen argumentieren unredlich, denn das, was ihnen unter dem Begriff "Privilegierte Partnerschaft" vorschwebt, hat das NATO-Land Türkei - Mitglied des Europarats und der Zollunion - schon lange. Es geht letztlich im Grundsatz darum, ob die Türkei zur EU-Wertegemeinschaft gehören kann - nicht morgen, nicht übermorgen, sondern in 10 oder 20 Jahren. Dann wird entschieden, ob die Türkei die selben Werte hat, wie wir sie heute in Deutschland als unabdingbar voraussetzen - die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Trennung von Staat und Kirche sowie die Stellung von Minderheiten. Wenn die Türkei das erfüllen kann, gehört sie zur EU, wenn nicht, wird der Betritt scheitern.
Die Türkei ist heute auch wirtschaftlich noch nicht auf EU-Niveau, aber auch dieses Kriterium wird die sie erfüllen, wenn am Ende die Beitrittsgespräche erfolgreich verlaufen. Die Türkei wird in den kommenden Jahrzehnten EU-Recht im Umfang von 75.000 Seiten Gesetzestext umsetzen müssen - vom Strafrecht bis zu Hygienevorschriften. Wenn die Türkei diesen Kraftakt meistert, wird sie eine Bereicherung für Europa sein.
Deshalb gibt es für die EU auch kein Risiko bei den Beitrittsverhandlungen - nur die Chance, viel zu gewinnen.