Die Schwächen der Linkspartei und warum man sie dennoch wählen sollte
Die Linke sieht erhebliche Mängel in dem Projekt der Linkspartei. Diese Kritik trifft zu. Sie dürften aber kein Grund sein, der Linkspartei die Stimme zu versagen.
Conrad Schuhler
Bundestagswahlen 2005
Die Schwächen der Linkspartei und warum man sie dennoch wählen sollte
I. Gibt es einen Umbruch in der Wählerschaft?
Der Neoliberalismus, sagen WASG (Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit) und PDS und nicht wenige politische Kommentatoren aus allen Lagern, befände sich in einer Legitimierungskrise. Dies wäre nicht verwunderlich. Nicht nur erweist sich seine rot-grüne Variante als zutiefst asozial, ohne dass sie Wirtschaftskonjunktur und Beschäftigung in Schwung bringen könnte. Auch die im Wochen-Takt erfolgenden Meldungen über Korruption und Selbstbedienung in den höchsten Vorstandsetagen bis dato renommierter Unternehmen - u.a. bei Commerzbank, Rewe, Skoda/VW, Infineon - führen Arbeitern, Angestellten und Arbeitslosen stets von Neuem vor Augen, dass ihre Opfer, ihre Verarmung auf der anderen Seite der Gesellschaft die hemmungslose Gier der Sieger füttern.
Dennoch sollte man das Wort von der Legitimierungskrise nicht überstrapazieren. Bleibt man bei den Zahlen der Wählerforschung, dann hat die Zustimmung zur SPD gegenüber den letzten Bundestagswahlen um rund 20% abgenommen, die zur CDU/CSU ist um 20% gestiegen. Das SPD-Modell der Neoliberalisierung hat an Attraktion verloren, aber die noch skrupellosere Version der Union findet entsprechend mehr Zulauf. "Schwarz-Gelb" - Union und FDP - fänden nach der Wählerstimmung Ende Juli eine absolute Mehrheit im Deutschen Bundestag.
Zwischen den Groß-Lagern der alten Parteienlandschaft ist demnach keine Verschiebung auszumachen, die auf eine Legitimierungskrise des neoliberalen Systems hindeuten würde. Das wirklich Neue ist das Auftauchen der Linkspartei, die sich offen gegen die Große Neoliberale Koalition von Regierung und Opposition im alten Bundestag stellt, und die nach Umfragen der letzten Wochen klar über 10% der Mandate erringen kann.
Natürlich hat ihr Erfolg mit sich neu ausprägenden Grundstimmungen in der Wählerschaft zu tun. Aber die erste Voraussetzung ist eine wahlarithmetische: Durch das Zusammengehen von PDS und WASG ist klar, dass die neue Partei die 5%-Hürde locker überspringen wird. Nun bleibt den von Regierung wie von Opposition enttäuschten Wählern nicht mehr bloß der Rückzug ins Nichtwählen (oder der stete Wechsel vom größeren zum kleineren Übel und zurück). Vor allem für ehemalige SPD-Wähler ist dies ein Anreiz, mit dem Wahlzettel gegen die SPD-Politik zu stimmen, und nicht durch Nichtwahl die reaktionäre Union zu stärken, der als Partei mit den meisten Stimmen die Nichtwähler am meisten zugute kommen.
II. In welcher Krise steckt der Neoliberalismus?
In den Augen der großen Mehrheit der Wählerinnen und Wähler hat nicht der Neoliberalismus versagt, sondern das rot-grüne Konzept einer angeblichen Harmonisierung von Sozialstaat und "Modernisierung". Bei den "Reformen" der Agenda 2010 handelte es nach Schröders Worten um "die Veränderungen.., die notwendig sind, um wieder an die Spitze der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Europa zu kommen". In Wahrheit ging es um eine Umverteilung von Rechten und Einkommen von unten nach oben und um die Entsorgung der "Überflüssigen". Der frühere SPD-Bundesgeschäftsführer und heutige Vordenker der SPD, Peter Glotz, hatte die Agenda 2010 als die dem digitalen Kapitalismus angemessene soziale Strategie begrüßt: "Die Wissensgesellschaft erweist sich als eine Gesellschaft des bewussten Ausschlusses vieler aus der modernen Arbeitswelt ... Wir werden auf Dauer mit einer neuartig zusammengesetzten Unterklasse leben müssen, die wissensintensive Jobs entweder nicht bekommt oder wegen der stark verdichteten Arbeit nicht will."
Nach sieben Jahren praktischer Erfahrung mit Rot-Grün haben viele Mitglieder der neuartig zusammengesetzten Unterklasse verstanden, wohin die Reise mit ihnen gehen soll. Andere, nicht selbst Opfer der "Wissensgesellschaft", wollen einer Politik nicht ihre Hand leihen, die den Ausschluss vieler zum Programm macht. Es ist also die SPD-Propaganda von einer Versöhnung neoliberaler Reformen mit einem "modernen Sozialstaat", die weithin Schiffbruch erlitten hat.
Dies ist nicht identisch mit einer allgemeinen Delegitimierung des Neoliberalismus. Man kann den SPD-Ansatz nämlich von zwei Seiten kritisieren. Zum einen ist ersichtlich geworden, dass Neoliberalismus und Sozialstaat einander ausschließen. Dieser Kritik von links steht auf der radikalen Rechten der Vorhalt gegenüber: Neoliberale Reformen müssen viel rücksichtsloser durchgeführt werden, sonst können die Maßnahmen nicht greifen. Wo die SPD-geführte Regierung beispielsweise eine schrittweise Aushöhlung des Flächentarifs betrieb, will die Union an der Regierung nun sofort den Flächentarif beseitigen. Nur Neoliberalismus Pur, so die Propaganda, erbrächte die segensreichen Wirkungen von mehr Wachstum und mehr Arbeit.
Es ist zu befürchten, dass eine solche Propaganda auch bei größeren Teilen der ArbeiterInnen und Angestellten ankommt. Der in den Betrieben gelernte "Sachzwang", der angeblich unauflösliche Zusammenhang von Kostensenkung, Marktbehauptung und Beschäftigung, der auch von vielen Betriebsräten legitimiert wird, lässt sich relativ leicht auf den gesellschaftlichen Kontext übertragen - insbesondere im Rahmen der Globalisierungsthese vom "nationalen Wettbewerbsstaat", der auf dem globalen Markt nur durch rigorose Kostensenkungen von den Löhnen bis zu den Sozialleistungen bestehen könne.
Die Wahlstrategen der Union scheuen sich angesichts des allgemeinen Wählerverdrusses, so unumwunden Neoliberalismus Pur und die entsprechenden sozialen Einschnitte zu propagieren. Aber die unterschwellige Botschaft wird sehr wohl verstanden, und sie wird um so eher angenommen, als viele Menschen aus Angst vor einer ungewissen, ungesicherten Zukunft bereit sind, heute noch größere Opfer zu bringen, wenn ihnen dafür ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit für morgen verhießen wird. Jede Kritik von links im Wahlkampf muss sich deshalb gerade so entschlossen mit Union und FDP wie andererseits mit der in Konkurs gegangenen Koalition von Rot-Grün auseinandersetzen.
Teile der WASG pflegen die Illusion, die SPD sei nun, nach ihrer Demaskierung als neoliberale Partei, eine "Partei ohne Projekt". Das Projekt ist ganz das alte, wie das SPD-Wahlprogramm deutlich macht. Wieder wird die Formel propagiert, die SPD stehe für Modernisierung plus soziale Gerechtigkeit. Modernisierung ist die Chiffre für die neoliberale Zurichtung der Gesellschaft nach den Bedürfnissen des global operierenden Kapitals. Die Schröder-Müntefering-Partei bleibt also beim Kurs der Agenda 2010 und offeriert sich schon heute als das "kleinere Übel" für den Zeitpunkt, da die WählerInnen über die Regierungsleistung der Marktradikalen zu entscheiden haben (bzw. wenn die Diskussion über eine Große Koalition von Union und SPD anhebt). Motto: Schmerzliche Eingriffe sind nötig, aber mit uns so sozial wie möglich. Angesichts der im Fall einer schwarz-gelben Koalition zu erwartenden schlimmen Erfahrungen der Deutschen mit Neoliberalismus Pur hat der alte Kreislauf "Größeres Übel - Kleineres Übel" Chancen auf ein stattliches Revival. Für den Fall einer Großen Koalition aus Union und SPD wird die SPD mit einigem Erfolg für sich die Rolle des Sozialhelfers im Bremserhäuschen eines andernfalls wahnsinnig dahinrasenden D-Zugs in den sozialen Kahlschlag reklamieren, ohne dass sie die Richtung ändern wollte.
Aufgabe der Linken und der Linkspartei wäre es demnach, der von beiden traditionellen Lagern gepflegten Marktideologie eine prinzipiell andere Gesellschaftskonzeption entgegenzustellen - nicht "Gesetze des Marktes" sollen entscheiden, sondern die Bedürfnisse und Ansprüche der Menschen. Eine Linke, die sich bloß einließe auf das "heute Machbare", also auf ein soziales Optimum mit dem "Markt" als letztem Regulator der gesellschaftlichen Beziehungen, würde das Fundament der Neoliberalen stärken. Reformen gegen den Neoliberalismus und der Kampf darum sind daran zu messen, ob sie an einen Bruch mit der "Logik des Marktes" heran führen.
III. Woher rührt die relative Stärke der Linkspartei?
Der Zuwachs der PDS im Osten beruht zu einem guten Teil auf "traditionellen" Faktoren des dortigen Wählerverhaltens. SPD und CDU haben sich nacheinander oder auch nebeneinander in den Regierungen von Bund und Ländern blamiert. Dem Osten geht es schlecht, und die PDS steht als "Volkspartei" wie auch Partei des Protests gegen West-Kolonialismus zur Verfügung. Dass die PDS als Linkspartei sicher in den Bundestag kommen wird, dass sie nun im Westen erstmals auf solche Resonanz stößt, stärkt ihr Ansehen und ihre Anziehungskraft. Wohl zum ersten Mal haben die Menschen in den neuen Ländern das Gefühl, ihre Sicht auf das neue Deutschland würde auch von einem nennenswerten Teil der WählerInnen im Westen geteilt. Dies stärkt ihr Selbstvertrauen und ihre Bereitschaft, sich zur eigenen "Firma" im Geschäft von Wahlen und Politik zu bekennen. Dementsprechend war die PDS/Linkspartei Ende Juli mit 33 Prozent die Nr. 1 in der Gunst der WählerInnen in Ostdeutschland.
Wie aber erklärt sich der Aufstieg der Linkspartei im Westen? Die PDS blieb bei den bisherigen Wahlen zuverlässig unter einem Prozent. Nun erklären im Westen 7%, sie würden sich bei den Bundestagswahlen für die Linkspartei entscheiden. Grundlage für diesen Wandel sind die vielfältigen und schmerzlichen Erfahrungen mit der neoliberalen Politik von Rot-Grün. Doch gibt den quantitativen Ausschlag der "Lafontaine"-Faktor. Zu der Gewissheit, seine Stimme nicht zu "verschenken", da die linke Alternative den Sprung ins Parlament nach aller Voraussicht schaffen wird, tritt die Vorstellung, sich dabei mit Lafontaine in guter Gesellschaft zu befinden. Der frühere Kanzlerkandidat und Parteivorsitzende der SPD symbolisiert für einen Teil der ehemaligen rot-grünen Wählerschaft die wahre Qualität des alten Bündnisses, als sie selbst mehr oder weniger aktiv dabei waren und sich emotional zu Hause fühlten. Wenn Müntefering Lafontaine einen "Verräter" nennt, so sehen diese alten Mitstreiter in Lafontaine den Rächer, der die wirklichen Verräter jetzt zur Rechenschaft zieht, und sie schließen sich willig bis begeistert dieser Kampagne an.
Eine ähnliche, wenn auch nicht so dramatische Rolle spielen die Gewerkschafter von IG Metall und Ver.di , die das Gesicht der WASG auf den mittleren Ebenen prägen. Sie helfen dabei, die überkommenen Bindungen von Gewerkschaftern an die SPD aufzulösen. Wenn altgediente Gewerkschaftsfunktionäre, die jahrzehntelang den gemeinsamen Karren mitgezogen haben, sich nun als Alternative zur SPD präsentieren, dann ist es hoch an der Zeit, die Faust, die man bisher in der Tasche geballt hatte, offen zu zeigen. In den Reihen vieler aktiver Gewerkschafter sind WASG und Linkspartei zunehmend positiv besetzte Begriffe.
IV. Die Schwächen der Linkspartei
1) Die WASG, im gesamten Deutschland der Juniorpartner, im Westen aber die Kraft mit der größeren "Massenbasis", ist alles andere als der "politische Arm" der sozialen Bewegungen. Sie ist vielmehr bislang ein reiner Wahlverein, der nach der eigenen Direktive "top to bottom", also von Oben nach Unten entstehen und organisiert werden sollte. "Unten" ist man noch nicht angekommen, jedenfalls wenn man unter "unten" das sich entwickelnde Netz von Sozialforen und politischen Basisbewegungen versteht. Im Wahlmanifest werden solche Bewegungen zwar erwähnt. Es ist die Rede davon, dass man eine starke Linkspartei wolle, " die nicht nur auf Parlamentsbänken, sondern breit in der Bevölkerung verankert ist" (Verankerung auf Parlamentsbänken ist einerseits ein merkwürdiges Bild, das andererseits aber vielleicht etwas über die Entschlossenheit der WASG-Strategen hinsichtlich ihrer parlamentarischen Ambitionen verrät). In der Aufzählung der Gruppen und Betroffenen, denen man im Parlament eine Stimme verleihen wolle, werden als letzte "ökologische, soziale und friedenspolitische Bewegungen" angeführt.
Doch in der Praxis ist man bisher von diesem Anspruch weit entfernt. Die WASG ist ein zentralistisch geführter Apparat, wo gerade solche aus der Riege der Gewerkschafter ihre Routine und Verbandsmacht einsetzen, um Vertreter linker Organisationen und Bewegungen von der WASG selbst und auch von Kandidatenlisten der Linkspartei fern zu halten. Es ist eher die Ausnahme, wenn profilierte Aktive der Bewegungen in den Reihen der WASG Platz finden. Wer links von der Vorstellungswelt beispielsweise des WASG-Sprechers Klaus Ernst angesiedelt ist, kann noch froh sein, wenn er mit dem Schmähtitel "Spinner" davon kommt. Es liegt auf der Hand, dass, soll die WASG/Linkspartei wirklich die parlamentarische Stimme der sozialen Bewegungen werden, diese sowohl ihre eigene Kraft wie ihre Entschlossenheit im Zugehen auf die Linkspartei erhöhen müssen.
2) Im Osten gilt die PDS zwar als Anwalt der Ostdeutschen, was sich aber keineswegs in einer umfassenden Abwehr neoliberaler Zumutungen (und Ideologie) ausdrückt. Vielmehr ist die PDS Mitglied zweier Landesregierungen - Berlin und Mecklenburg-Vorpommern - wo sie neoliberale Gesetze und Ansprüche auf Länderebene auch zur Zufriedenheit der SPD-Partner exekutiert. In der Partei selbst wird die Kommunistische Plattform konsequent an den Rand gedrängt. Das Image und Tätigwerden als "Anwalt" der Menschen im Osten liefert (auch wenn in oft wichtigen Einzelfragen Positives heraus kommt) in der Kernfrage politischer Emanzipation ein Problem: das selbständige Tätigwerden der Betroffenen in eigener Sache wird nicht oder nur wenig befördert.
3) Neben diese ernsten organisationspolitischen Schwächen treten gravierende programmatische Mängel. Im Wahlmanifest der WASG wird eine lange Liste linkskeynesianischer, fortschrittlich-reformistischer Forderungen aufgestellt, vom Kampf gegen die Arbeitslosigkeit über "Hochwertige Bildung für alle" bis zur Mahnung, Völkerrecht und Genfer Konvention zu beachten. Doch kommen in dem immerhin siebenseitigen Manifest die beiden entscheidenden und miteinander verwobenen Fragen der politischen Auseinandersetzung überhaupt nicht vor: dass sich nämlich erstens in der neoliberalen Phase des Kapitalismus die Bedingungen für einen "Klassenkompromiss" qualitativ verändert haben; und dass zweitens jede politische Strategie in Deutschland, einem durch Waren- und Kapitalexport und -import hochgradig global vernetzten Land, die globalen Aspekte der Auseinandersetzung mitberücksichtigen muss.
Im "Sozialstaat" alter Prägung stützten sich Wachstum von Umsätzen und Gewinnen der Unternehmen ganz erheblich auf den Binnenmarkt. Die Mobilität des Kapitals war eingeschränkt, die Verfügbarkeit qualifizierter Arbeit regional begrenzt. Der "soziale Frieden" galt aus vielerlei Gründen, nicht zuletzt wegen der Konkurrenz mit dem sozialistischen Weltsystem, als wichtiger Produktionsfaktor. Die Anerkennung als Sozialpartner entsprach der Interessenlage des Kapitals, die Erhöhung der Masseneinkommen erhöhte die für das weitere Wachstum notwendige Kaufkraft. Selbstverständlich war das Ausmaß der Verfügungs- und Mitbestimmungsrechte wie der Arbeitsbedingungen und -einkommen auch damals ein Streitpunkt, der nach Maßgabe der jeweiligen Kräfteverhältnisse geklärt wurde. Doch war der Spielraum des Kapitals für Zugeständnisse in diesem Klassenkompromiss deutlich größer als heute.
Heute ist die herrschende Fraktion des Kapitals eindeutig transnational orientiert. Die führenden Konzerne erzielen mehr Umsätze und auch mehr Gewinne im Ausland als in Deutschland selbst. Da sie Anbieter auf einem globalen Markt sind, brauchen sie aus ihrer Perspektive in Deutschland die günstigsten Kostenbedingungen, vor allem möglichst geringe Personal- und Sozialkosten und eine möglichst frei verfügbare Arbeitskraft. Deutschland ist nach dieser Logik ein nationaler Wettbewerbsstaat, wo alles darauf hinaus zu laufen hat, die Unternehmen in eine optimale Wettbewerbssituation am globalen Markt zu bringen.
Das neoliberale Konzept mit seiner Orientierung auf minimale Kosten der Unternehmerseite ist also nicht irgendein radikales Konzept, das sich zufällig in der politischen Auseinandersetzung durchgesetzt hat und auch quasi ebenso "zufällig" wieder zurückgedreht werden könnte. Der Neoliberalismus ist vielmehr der politisch-ideologische Überbau für die Interessen des transnationalen Kapitals, das in dieser Phase die beherrschende Fraktion auf der Kapitalseite ist. Ein Klassenkompromiss, der nach den Forderungen der WASG u.a. "gerechte Steuern", einen "solidarischen Sozialstaat", "deutliche Arbeitszeitverkürzungen", "Beteiligung der Beschäftigten am Produktivvermögen" u.ä. beinhalten soll, übersteigt bei weitem den Spielraum, den das Transnationale Kapital zur Verfügung hat.
Da hilft auch nicht der Verweis auf das Kräfteverhältnis, von dem alles abhinge. Dieser Satz ist immer richtig. Wichtiger ist die Einsicht, dass, würde das Transnationale Kapital zu diesen Zugeständnissen gezwungen, es sich selbst, jedenfalls seinen Standort Deutschland, aufgeben würde. Reformistische Forderungen wie die von der WASG erhobenen führen heute unmittelbar an die "Systemfrage". Sie sind nur durchzusetzen, wenn die politisch-wirtschaftliche Macht des Transnationalen Kapitals nicht mehr der bestimmende gesellschaftliche Faktor ist.
Nun kann man angesichts der bestehenden Kräfteverhältnisse in Wirtschaft, Politik, Medien und Kultur nicht mit der Losung "Überwindung der Macht des Transnationalen Kapitals" beginnen. Dieser Kampf wird über viele Etappen laufen müssen, und wir stehen gerade erst am Anfang, wo es vor allem darum geht, die schon sturmreif geschossenen Stellungen (Flächentarif, Kündigungsschutz u.ä.) zu halten. Doch wenn die Abwehrkämpfe und der Einsatz für Reformen jemals an die eigentliche Frage führen soll, nämlich das Ablösen globaler Marktlogik durch humane Prinzipien der Organisation von Wirtschaft und Gesellschaft, dann muss dieser Kern des Problems in den Auseinandersetzungen klar benannt werden. Der Gegenseite ist dieser prinzipielle Aspekt der Auseinandersetzung völlig bewusst. Eben deshalb ist ihr Kurs entschlossen konfrontativ und skrupellos. Die Arbeiterklasse wie der sich entwickelnde Block gegen den Neoliberalismus müssen diese Entschlossenheit ebenfalls entfalten, wollen sie sich in den Abwehr- und Reformkämpfen behaupten. Deshalb ist das völlige Fehlen dieser Frage in der Wahlprogrammatik der WASG (der "Programmparteitag" der PDS/Die Linke steht noch bevor) auch hinsichtlich der unmittelbar anstehenden Kämpfe ein schwerer Fehler.
Das fast völlige Nichtbeachten der Tatsache, dass wir es mit der Bundesrepublik mit einem Teil des globalen Kapitalsystems zu tun haben, ist ein Mangel ähnlichen Kalibers. Wer Reformen wie die im Wahlmanifest geforderten durchsetzen will, muss sich darüber im Klaren sein, dass damit erstens die Bundesrepublik aus dem Verbund des globalen Kapitalismus heraus gelöst würde, und dass zweitens dieses Herauslösen nicht stattfinden kann, ohne dass bestehende internationale Regularien und Abhängigkeiten zuvor geändert werden. Begriff und Konzept der "Globalisierung" kommen im Wahlmanifest nicht vor. Unter dem Punkt "Kapitalmacht begrenzen" ist die Rede davon, dass Wechselkurse und Kapitalströme "stabilisiert und kontrolliert werden" müssten. Da ist Oskar Lafontaine in seinem jüngsten Buch "Politik für alle" schon weiter, der u.a. fordert, eine global wirkende Kartellbehörde zur Einschränkung der multinationalen Konzerne zu schaffen. Zu dem eigentlichen Punkt, dass der Konzentrationsprozess der internationalen Monopole so weit fortgeschritten ist, dass sie sich nur noch im globalen Maßstab verwerten können und dass sie deshalb den ganzen Globus als Profitfeld ausrichten, stößt auch Lafontaine nicht vor. Wer sich gegen die Auswirkungen des Neoliberalismus und der neoliberalen Globalisierung zur Wehr setzen will, muss sich aber in einem sehr grundsätzlichen Sinn mit dem Monopolkapital anlegen. Gerade in Wahlzeiten sollte er davon nicht schweigen.
V. Warum der linke Wähler dennoch die Linkspartei wählen sollte
Wenn auch die Erörterung der Schwächen der Linkspartei gezwungenermaßen den meisten Raum einnimmt, so muss in Abwägung aller Faktoren doch erkannt werden, dass bei der Bundestagswahl 2005 linke Wähler, wenn sie ihre Sache voran bringen wollen, die Linkspartei wählen müssen.
1) Mit der Linkspartei kommt eine Stimme gegen den Neoliberalismus ins Parlament und damit in den öffentlichen Diskurs
Bisher hatten wir im Parlament eine Große Koalition aller Bundestagsparteien, die nur geringe Varianten der generellen neoliberalen Konzeption anboten. Diese Allparteienkoalition fand sich wieder in den Medien, die die neoliberalen Glaubenssätze in die Köpfe hämmerte und deren "Flaggschiffe" die Politik ständig zu noch schärferer Gangart anhielten. Von einem öffentlichen Diskurs, wo die BürgerInnen Konzepte und Alternativen erörtern und bewerten, kann in der Bundesrepublik seit vielen Jahren keine Rede mehr sein. Mit dem Auftreten einer Fraktion der Linkspartei, die wahrscheinlich rund siebzig Köpfe zählen wird, mit Rede- und Antragsrecht, Mitgliedschaft in Ausschüssen des Bundestags usw. wird der Widerspruch zur neoliberalen Propaganda zur Normalität im parlamentarischen Betrieb. Er wird dort die neoliberalen Parteien nicht zum Umdenken bringen. Aber er wird in der medialen Berichterstattung nicht zu übergehen sein, er wird die Argumente für eine andere gesellschaftliche Regulierung in die öffentliche Debatte bringen, die bisher völlig beherrscht wird von der neoliberalen Propaganda.
2) Die parlamentarische Debatte wird bald an den Punkt führen: ohne öffentliche Mobilisierung ist nichts auszurichten
So tapfer und konsequent die Abgeordneten der Linkspartei im Bundestag die Anliegen der Bevölkerung auch vertreten mögen, sie und die Öffentlichkeit werden binnen kurzem an den Punkt gelangen, da offensichtlich wird: Auch die eindruckvollsten Reden, die besten Argumente im Parlament ändern nichts daran, dass die neoliberale Mehrheit mit ihrer Politik fortfährt. Den Beteiligten auf der Linken, der Linkspartei wie der linken Öffentlichkeit, wird sozusagen täglich die Erfahrung zuteil, dass nur der öffentliche Druck, die Mobilisierung von Gewerkschaftern, sozialen Bewegungen usw. eine andere, eine Politik in Richtung Reformen bewirken kann. Lafontaine schließt sein Buch mit dem richtigen Satz: "Die Profiteure der Umverteilung von unten nach oben werden aber erst zurückweichen, wenn das Volk aufbegehrt." Die Ohnmachtserfahrung einer Linkspartei-Fraktion im Bundestag wird dieses Aufbegehren befördern. Die parlamentarische Vertretung und gerade auch ihre relative Ohnmacht kann so ein Faktor der Stärkung der außerparlamentarischen Bewegungen sein, auf kurze wie auf lange Sicht die wesentliche Größe im Kampf gegen den Neoliberalismus.
3) Die relative Ohnmacht der Linkspartei im Parlament, die wachsende Stärke der außerparlamentarischen Bewegungen führt zu einem veränderten Kräfteverhältnis auf der Linken: die Linkspartei kann wirklich zur Stimme der "Basis" werden
Wenn die Linkspartei sich heute den sozialen Bewegungen nur ungenügend öffnet, so hat dies sehr viel mit der Schwäche dieser Bewegungen zu tun. Sie greifen wichtige Fragen auf, sie entfalten großen Einsatz, aber ihre allgemeine Wirksamkeit wie auch ihre Fähigkeit, auf politische Agenturen Druck auszuüben, sind noch relativ gering. Wenn sich in der Praxis der parlamentarischen Arbeit herausstellt, dass die Linkspartei nur so viel Raum hat, wie er ihr von den außerparlamentarischen Bewegungen verschafft werden kann, dann verändern sich auch die Gewichte zwischen diesen beiden Kräften. Die Linkspartei im Parlament kann die Bewegungen vitalisieren. Diese können "im Gegenzug" größeren Druck auch auf die Linkspartei selbst entfalten und um so eher der Gefahr entgegen wirken, dass die Linkspartei sich weiter bürokratisiert und/oder zu einer neuen SPD wird.
Und was wird aus der sozialistischen Perspektive, die der Linkspartei heute fehlt? Nun, das ist heute nicht die vorrangige Frage. Die lautet vielmehr: Werden von der neuen Partei wichtige Forderungen der Bevölkerung gestellt, die zu einer offenen Konfrontation mit dem neoliberalen Regime führen? Dies tut die Linkspartei. Mit einer Parlamentsfraktion kann sie dies noch nachhaltiger tun. Dies ist eine Chance zur Stärkung eines gesellschaftlichen Blocks gegen den Neoliberalismus. Mit jeder Stimme mehr wird die Chance größer.