Bolivien: Die Macht lag auf der Straße

Kaum ein Land in Lateinamerika ist so exemplarisch für die Probleme der postkolonialen Staaten des Kontinents wie Bolivien. 200 Putsche und Putschversuche in 180 Jahren Geschichte, Ausplünderung ...

Kaum ein Land in Lateinamerika ist so exemplarisch für die Probleme der postkolonialen Staaten des Kontinents wie Bolivien. 200 Putsche und Putschversuche in 180 Jahren Geschichte, Ausplünderung (zunächst durch die Kolonialmächte, jetzt durch die internationalen Konzerne), innerer Rassismus und extrem ungerechte Einkommensverhältnisse - das sind die Grundlagen für den Massenaufstand, der in den Mai- und Juniwochen zu einer vorrevolutionären Situation führte.

Ginge es nach den vorhandenen Bodenschätzen, so müsste Bolivien eigentlich zu den reichsten Ländern des Kontinents zählen - tatsächlich gehört es neben Haiti zu den ärmsten. Bei Potosí wurde bereits von den Inkas Silber abgebaut und ein ganzer Berg bestand dort aus Silbererz - er ist heute weitgehend abgetragen.
Aber so wie damals die Kolonialmacht Spanien die indigene Bevölkerung in den Minen schuften ließ (wahrscheinlich der einzige Grund, warum in Bolivien die indigene Bevölkerung überlebt hat, ist, dass weder Weiße noch schwarze Sklaven unter den Bedingungen der extremen Höhe diese Arbeit leisten konnten) und das Silber nach Europa schaffte, und so wie nach der Unabhängigkeit die internationalen Minenkonzerne im Verein mit der korrupten - weißen - bolivianischen Bourgeoisie auch weiter die im Land geschaffenen Werte ins Ausland transferierten, so geschieht dies unter den Bedingungen der neoliberalen Ideologie heute mit den anderen Reichtümern Boliviens.
Bolivien hat die zweitgrößten Erdgaslager Südamerikas, aber die Erdgas- und Erdölvorkommen werden von einer ganzen Phalanx internationaler Ölgesellschaften - Repsol-YPF (Spanien), Petrobras (Brasilien), British Gas (Großbritannien), Chevron (USA) und andere - ausgebeutet, während die Bolivianer für ihr eigenes Gas ein Mehrfaches von dem bezahlen müssen, was die bolivianische Regierung den Konzernen abverlangt. Und die haben munter in die Förderanlagen investiert, bisher etwa 3,5 Milliarden Dollar. Und so ist es nicht verwunderlich, dass sich der Volkszorn an diesem Ausverkauf der Reichtümer Boliviens entzündete - nicht zum ersten Mal.

Wasser und Coca
Im April 2000 wollte ein multinationaler Konzern (Aguas des Tanari) die privatisierte Wasserversorgung in Cochabamba übernehmen. Die Wasserpreise sollten erhöht werden und es wurde eigens ein Gesetz erlassen, das die Sammlung und Nutzung von Regenwasser unter Strafe stellte, um dem Konzern seine Profite zu garantieren. Das hätte bedeutet, dass die 65% der Bewohner, die unter der Armutsgrenze leben, von der Wasserversorgung abgeschnitten worden wären. Nach Massendemonstrationen, Straßenblockaden und bewaffneten Auseinandersetzungen mit Armee und Polizei musste die Regierung einlenken und den Verkauf der Wasserrechte stoppen.
Auch Evo Morales, der führende Kopf des MAS (Bewegung für den Sozialismus), war damals an dem Kampf ums Wasser beteiligt. Bekannt wurde er allerdings als Führer der Cocabauern, die sich unter anderem mit der Bildung von Selbstverteidigungskomitees gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage wehren. Coca war lange vor der Kolonisierung, gekaut oder als Tee, ein traditionelles Genussmittel, und die indigenen Bauern erwirtschaften auf ihren kargen Böden im Hochland auch heute noch kein nennenswertes Mehrprodukt, sondern leben im Wesentlichen unter Subsistenzbedingungen. Die mit massiver US-amerikanischer Militärhilfe und direkter logistischer Unterstützung betriebene systematische Ausrottung des Cocaanbaus vernichtet ihre Existenz: Alternativen gibt es nicht und werden ihnen auch nicht geboten. Was ihnen bleibt, ist nur der Widerstand.

Gas und Öl
Im Februar 2003 kam es erstmals zu massiven Erhebungen, bei denen es 35 Tote und über 200 Verletzte gab. Im Oktober desselben Jahres ließ Präsident Lozada abermals schießen - auch damals ging es erneut ums Gas. 70 Tote und über 500 Verletzte waren die Folge, aber die Empörung war so groß, dass Lozada sich in die USA absetzen musste. Allerdings ließ sich auch sein Nachfolger Mesa nicht vom neoliberalen Kurs abbringen. Und somit war die nächste Runde vorprogrammiert.
Zusätzlich hatten dann auch noch die Oligarchen aus den Regionen, in denen die Gasvorkommen liegen, ein neues Autonomiestatut im Parlament eingebracht, das die Bewohner des Altiplano (Hochland, in dem hauptsächlich die indigene Bevölkerung lebt), von den Einnahmen der Bodenschätze weitgehend abgeschnitten hätte. Und so kam es zu einer kompletten Blockade von La Paz (Regierungs- und Parlamentssitz, in der nominellen Hauptstadt Sucre hat lediglich das Verfassungsgericht seinen Sitz) und der Nachbarstadt El Alto. Das Parlament musste zwischenzeitlich schließen, die teilweise mit Dynamitstangen bewaffneten Minenarbeiter und die Campesinos strömten aus dem Hochland in die Stadt und besetzten Zufahrtsstraßen und Plätze.
Eine einheitliche Leitung gab es nicht: Die Nachbarschaftsorganisationen aus den Städten, die Gewerkschaftszentrale COB unter Jaime Solares, die allerdings durch den Verfall der Wirtschaft ihre alte Stärke längst eingebüßt hat, und die Indioorganisation Pachacuti von Felipe Quispe, führten die Bewegung im Wesentlichen an. Hauptforderung war die Verstaatlichung der Öl- und Gasreserven und der Rücktritt des Präsidenten. Nachdem Mesa zunächst versucht hatte, sich mit dem Vorschlag der Einberufung einer verfassunggebenden Volksversammlung aus der Affäre zu ziehen, blieb ihm schließlich nur der Rücktritt: Das Land war lahmgelegt.
Evo Morales, der mit seinem MAS im Parlament sitzt und bei der letzten Präsidentenwahl die Stichwahl nur knapp verfehlte, betrieb eine Schaukelpolitik: Einerseits unterstützte er die Volksbewegung und die Rücktrittsforderung, andererseits tritt er gegen die Verstaatlichungsforderung ein, weil er sie für unrealistisch hält und schlägt eine 50%ige Steuer für die Ölkonzerne vor. Außerdem unterstützte er auch die Idee einer verfassunggebenden Versammlung, die vom radikalen Flügel der Aufstandsbewegung abgelehnt wurde, weil in dieser Versammlung nur wieder die üblichen Verdächtigen sitzen würden und sie völlig richtig als Manöver der Mesa-Regierung betrachtet wurde.

Neue Atempause
Nach dem Rücktritt von Mesa wurde nun Eugenio Rodríguez, der Präsident des Verfassungsgerichts, zum Präsidenten ernannt. Die Bewegung hat ihm nun eine Atempause gewährt. Zwar waren in den letzten Wochen in einzelnen Städten Volkskomitees gebildet worden, die die Machtfrage stellten, doch die Bewegung erschöpfte sich zusehends - es war sowieso bewundernswert, wie lange die Blockierer durchgehalten hatten.
Letztendlich mangelte und mangelt es der Bewegung an einer einheitlichen politischen Führung und, vor allem, an einer Perspektive, die über die Verstaatlichungsforderung wesentlich hinausgehen würde. Was der Präsident der COB, Jaime Solares, im Oktober 2003 nach dem Sturz Sánchez de Lozadas sagte, trifft auch heute noch zu: "Wir, die wir uns als Revolutionäre betrachten, können uns nicht selbst belügen. Kein Anführer und keine Partei stand an der Spitze dieses Aufstandes. Weder Evo [Morales] noch Felipe [Quispe, von der Indígena-Organisation Pachacuti] noch wir führten die Rebellion an. Dieser Konflikt hatte leider keine einheitliche Richtung." Im jetzigen Fall kam noch hinzu, dass sich Evo Morales eindeutig auf den institutionellen Weg festgelegt hat.
Und so bleibt die Machtfrage in Bolivien ungeklärt. Die Volksbewegung hat zwar keine Niederlage erlitten und die vorwiegend weiße Politoligarchie hat sich mit dem neuen Präsidenten zunächst eine Atempause verschafft. Aber der Konflikt wird von dieser Regierung nicht gelöst werden können, solange die Gründe dafür nicht beseitigt werden: Ausplünderung des Landes durch das ausländische Kapital, extreme Ungleichheit innerhalb des Landes verbunden mit innerem Rassismus und anwachsende Massenarmut aufgrund dieser Verhältnisse.