Breite Demokratiedebatte entfachen

Wie weiter nach dem französischen Nein zur EU-Verfassung?

Ein Gespräch mit Yves Salesse, einer der Vorsitzenden der Fondation Copernic, die den "Appell der 200" für ein Nein zur EU-Verfassanung mitinitiiert hat.

Das französische und niederländische Nein zur EU-Verfassung haben die Union in eine tiefe Krise gestürzt. Wie würdest du sie beschreiben?

Keineswegs. Die Krise, die wir jetzt erleben, ist die, die wir seit langem beschreiben: Mit einer wirtschaftsliberalen Ausrichtung, mit der heutigen Struktur und dem derzeitigen institutionellen Gefüge der EU kann Europa nicht aufgebaut werden. Ich habe immer diese beiden Aspekte kritisiert: die wirtschaftliberalen Grundlage und ein System von Regierungsabsprachen, das nationalen Kalkülen der Regierungen den Vorrang vor dem europäischen Gemeinschaftsinteresse gibt. Der EU-Gipfel Mitte Juni war nur eine spektakuläre Manifestation dieser beiden Aspekte.
Nicht das Nein hat die EU in die Krise gestürzt, sondern ein europäisches System, das unfähig ist, ein wirkliches Projekt für Europa zu entwickeln, das sich mit kleinen Händeln zwischen Regierungen zufrieden gibt, und nicht die Kraft hat, weitere Fortschritte in der europäischen Integration anzustreben. Das wiegt umso schwerer, als es eine Erweiterung der Union gegeben hat, welche die Impotenz des institutionellen Gefüges noch verstärkt und seine Unangemessenheit deutlich zum Audruck bringt.

Unter den europäischen Eliten gibt es jetzt ein starkes Bedürfnis, über die Zukunft Europas zu diskutieren. Dabei kommen unterschiedliche Optionen zum Vorschein.

Sie haben ein großes Problem. Die Briten und andere Länder in ihrem Gefolge haben ein extrem reduziertes Verständnis vom Aufbau der EU; sie beharren auf der alten Vorstellung von der EU als einer Freihandelszone, die nur eine minimale institutionelle Ausstattung kennt. Demgegenüber haben die anderen Länder, Frankreich und Deutschland vor allem, kein strategisches Projekt für einen EU-Aufbau.
Wir vertreten, dass wir aus dieser Sackgasse heraustreten müssen, um eine Lösung zu finden. Das Nein bei den Referenden hat offen kundgetan, dass Europa nicht aufgebaut werden kann, wenn die Völker nicht beteiligt sind. Diese Frage rückt jetzt immer stärker ins Zentrum. Die Regierungen haben für den weiteren Aufbau Europas weder ausreichend Kraft, noch die Projekte noch den politischen Willen dazu. Eine politische Union geht nur, wenn die Bevölkerungen in der EU sie wollen. Das erfordert aber eine demokratische Debatte um die großen Fragen der EU-Verfassung, wie wir sie in Frankreich begonnen haben. Dabei werden unterschiedliche Ansichten vertreten werden, aber es gibt kein anderes Mittel herauszufinden, was die Bevölkerungen in dieser Sache tun wollen und was nicht.

Die offiziellen Stellen haben die Resultate der Referenden etwa so interpretiert: Die Völker wollen weniger Europa und mehr nationale Souveränität, sie wollen mehr auf nationaler Ebene entscheiden. (Allerdings wurde die Wirtschafts- und Währungsunion dabei von den Themen, über die national entschieden werden sollte, ausgenommen.) Tony Blair stand mit dieser Lesart nicht allein da, er bekam Unterstützung vom niederländischen Premier Balkenende, aber auch von der CDU in Deutschland.

Es gibt zwei Aspekte darin. Großbritannien steht mit seiner minimalistischen Vision vom Aufbau der EU nicht allein - das ist der eine. Der andere ist: Die von dir beschriebene Interpretation ist falsch. Aus der französischen Kampagne für das Nein ergeben sich zwei Dinge: Wir wollen, dass Europa nur dann interveniert, wenn seine Intervention notwendig ist, wenn dadurch ein Nutzen hinzukommt. Zum Beispiel sehe ich überhaupt nicht, worin das öffentliche Interesse an der Richtlinie über die Liberalisierung der Verkehrssysteme liegen soll, die der zuständige französische EU-Kommissar gerade vorbereitet, womit die regionalen Verkehrsnetze für den allgemeinen Wettbewerb geöffnet werden. Das ist ein weiterer Schritt der Liberalisierung, es ist aber auch ein Beispiel dafür, wo die EU nichts beiträgt zur Verbesserung der lokalen und regionalen Transportnetze.
Europa sollte sich nicht um Dinge kümmern, wo es keinen Nutzen bringt. Doch es sollte absolut dort über Mittel verfügen, eine europäische Politik zu machen, wo es Nützliches und Notwendiges beitragen kann. Wir haben z.B. gefordert, dass es eine echte europäische Sozialpolitik gibt. Wir fordern auch eine Harmonisierung der Steuersysteme - das ist nicht weniger Europa, sondern mehr Europa.
Die Interpretationen des französischen Nein, die du zitiert hast, sind ein taktisches Manöver, sie benutzen das Nein, um Wasser auf die eigenen Mühlen minimalistischer Europa-Vorstellungen zu lenken. Das hat mit dem französischen Nein nichts zu tun.

Schlagen die Befürworter des Nein in Frankreich eine andere EU-Verfassung vor?

Alle sind damit einverstanden, dass es in allen europäischen Ländern eine breite Debatte über die großen Linien des Aufbaus der EU geben soll. Meiner Meinung nach - es gibt andere - müßte dies die Voraussetzung für einen verfassungsgebenden Prozess sein, der in eine gewählte Konstituierende Versammlung mündet, die ihrerseits einen Grundlagentext erarbeitet. Andere Kräfte wie die KP fordern lieber Neuverhandlungen - unter dem Druck der Debatte in der Bevölkerung zwar, aber geführt von den aktuellen Regierungen. Ich finde, das ist keine gute Idee. Europa ist eine zu ernste Sache, als dass man sie den Staatsoberhäuptern überlassen sollte. Ich habe auch den Eindruck, dass die erste Position in Europa an Boden gewinnt.

Nun sind die politischen Traditionen in Europa sehr unterschiedlich. In Deutschland z.B. hat man uns einen konstituierenden Prozess stets vorenthalten - mit Ausnahme der Weimarer Verfassung, die aus der Novemberrevolution hervorging.

Sicher, aber die Debatte über Europa wird eine Gelegenheit bieten, alle diese Fragen neu aufs Tapet zu bringen. Das muss Teil der Demokratiedebatte sein, die wir in ganz Europa verbreiten wollen. Die Frage, die sich uns allen stellt, lautet: Sind die Bevölkerungen bereit, in Europa ein politisches Machtzentrum zu errichten, das einer demokratischen Kontrolle unterworfen ist, oder ziehen sie das ohnmächtige Geschacher zwischen den Regierungen vor, zum Preis des Verzichts auf europäische Handlungsfähigkeit? Wollen wir ein Europa ohne Haushalt, ohne Wirtschaftspolitik, ohne Sozialpolitik, ohne Steuerpolitik, das bei jeder größeren Gelegenheit sein politisches Unvermögen unter Beweis stellt?
Ich befürworte den Sprung hin zu einem europäischen politischen Machtzentrum. Aber ich weiss nicht, was das französische oder deutsche oder dänische Volk denkt. Nur die politische Debatte kann das zeigen.

Eine solche Debatte lässt sich leichter führen, wenn man das Recht hat, über die Verfassung abzustimmen. Besteht nicht die Gefahr dass dort, wo eine Bevölkerung dieses Recht nicht hat, die Debatte reichlich abstrakt wird? Zumal jetzt, wo die ausstehenden Volksabstimmungen auf Eis gelegt wurden?

Nein. Ich glaube nicht, dass es möglich ist, eine umfassende Debatte in der Bevölkerung über die EU zu entfachen, wenn diese sich allein um institutionelle Fragen dreht. Das sind Spezialistenfragen. Man muss umgekehrt ausgehen von den Aufgaben, die eine EU haben soll. Wenn wir z.B. sagen, wir brauchen eine europäische Politik zur Bekämpfung der Erwerbslosigkeit, wir brauchen europaweit soziale Rechte, dann sind das praktische Dinge, über die die Menschen diskutieren können. Die institutionellen Kompetenzen der EU ergeben sich aus ihren Aufgaben. Wenn die Regierungen sich aussuchen können, welche soziale Regelungen sie übernehmen wollen, dann passiert es wie in Großbritannien, als die Grundrechtecharta diskutiert wurde. Damals sagte Premier John Major: "Ich werde die Charta nicht unterzeichnen. Dann habt ihr die sozialen Regelungen und ich die Arbeitsplätze."
Eine europäische Gemeinschaft und mehr noch eine europäische politische Union lassen sich nicht aufbauen, wenn die Länder dieselben Rechte auf Zugang zum Gemeinsamen Markt haben, aber nicht dieselben Verpflichtungen. Ich bin dafür, dass wir die britische Regierung zur Einhaltung sozialer Regelungen verpflichten. Dasselbe gilt für die Steuerharmonisierung. Dazu braucht es Zuständigkeiten, die es heute nicht gibt. Dazu muss man in diesen Bereichen den Zwang zur Einstimmigkeit aufgeben und zu Mehrheitsentscheidungen kommen.

Was meinst du, was das Europäische Sozialforum in dieser Situation tun kann?

Ich bin nicht ausreichend an diesem Prozess beteiligt. Ich habe es sehr bedauert, dass 2003 in Paris die Debatte über Alternativen so dürftig war. In der Hauptsache hat man sich in Kritik geübt. Dasselbe gilt im Übrigen für den größten Teil der französischen Publikationen über die EU-Verfassung. Es ist höchste Zeit, dass wir jetzt mit den Alternativen anfangen.
Die Sensibilität dafür wächst. In einer Erklärung, die der Generalsekretär des EGB, John Monks, zum EU-Gipfel vorbereitet hatte, fordert er neben dem sozialen Europa auch eine breite öffentliche Debatte, welches Europa wir wollen. Als am Donnerstag vor dem EU-Gipfel die französische Delegation nach Brüssel reiste, wurde sie vom luxemburgischen Außenminister, stellvertretend für den EU-Ratschef Junker, empfangen und informiert, auch er wolle diese Forderung unterstützen.* Unter diesen Umständen hätte ein Europäisches Sozialforum die Aufgabe, als stärkstmöglicher Verstärker für konkrete Vorschläge für Alternativen zu dienen.

*Zeitgleich demonstrierten in Paris an die 5000 Menschen, in mehreren anderen französischen Städten jeweils einige hundert, in Luxemburg 300-400. In Brüssel organisierte das Kollektiv für das Nein abends eine Kundgebung.