›Mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede‹

Über das Wiederaufleben der Religion und die Haltung der Linken zum Islam.

Der britische Publizist und Aktivist Tariq Ali (Jg. 1943) glaubt an keinen Gott. Dennoch hat er, der sich in seiner Jugend gegen die religiöse Erziehung wandte, in den vergangenen fünfzehn Jahren sich die Mühe gemacht, den Islam - den Glauben seines Herkunftslandes Pakistan - intensiv zu studieren. Anlass war für ihn der Golfkrieg von 1990, der nicht nur einher ging mit einer grotesken antiarabischen Propaganda. Der Krieg brachte vor allem auch zutage, wie groß die Unkenntnis über die islamische Welt im Westen ist. 2002 erschien Alis Buch The Clash of Fundamentalisms - verfasst, um die Ereignisse des 11.September 2001 in eine historische Perspektive zu stellen. Mit Tariq Ali sprachen Alex de Jong und Paul Mepschen von der linken niederländischen Zeitung Grenzeloos.
Der Grund dafür, dass der Islam in den Niederlanden so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist natürlich der Mord an Van Gogh und die Drohungen gegen Ayaan Hirsi Ali. Genau wie sie bist du ein Ungläubiger, der aus der islamischen Welt stammt. Hast du dich je bedroht gefühlt?

Nein, nie. Ich reise viel, sowohl innerhalb der muslimischen wie auch der nichtmuslimischen Welt, aber ich habe mich noch nie bedroht gefühlt. Der Grund dafür ist wohl, dass auch Menschen, die mit mir in Bezug auf die Religion nicht übereinstimmen, wissen, dass ich ein Gegner des Imperialismus bin. Oft kritisiere ich den Imperialismus und seine Auswirkungen besser als die Gläubigen. Aber Hirsi Ali und Menschen wie sie in den USA und Europa haben einen Beruf daraus gemacht, den Islam anzugreifen. Es gibt andere wichtige Fragen auf der Welt. Warum konzentrieren sich diese Menschen unaufhörlich auf den Islam? Durch die Art und Weise, wie sie den Islam angreifen, nähren sie die bestehenden Vorurteile. Und deshalb werden sie gehasst. Es gibt keinerlei Rechtfertigung oder Entschuldigung für Gewalttaten gegen diese Menschen. Man muss mit ihnen diskutieren. Aber es ist ein Zeichen der Verzweiflung, dass Menschen so erregt werden, dass sie Gewalt anwenden.

Glaubst du nicht, dass Gewalt und Drohungen gegen diese Menschen auch bedrohlich sind für Menschen mit einem muslimischen Hintergrund, die nicht der Norm entsprechen? Für Ungläubige, Feministinnen, Homosexuelle?

Sicher. Aber man muss wissen, dass die islamische Gemeinschaft sehr verschieden ist. Die Leute wissen sehr wenig über die muslimische Welt. Ihr Bild von ihr wird zum größten Teil bestimmt durch Migrantengemeinschaften in Europa, und selbst diese unterscheiden sich untereinander sehr. Das Leben in der muslimischen Welt ist nicht einförmig; es gibt Gläubige, Ungläubige, Atheisten. Ob die Ungläubigen sich frei äußern können, ist offensichtlich eine andere Frage. Oft können sie das nicht, aber das heißt nicht, dass es sie nicht gibt. Wie dem auch sei, Religion ist nicht das zentrale Element in der Existenz von Muslimen. Menschen arbeiten, essen, machen Liebe, bilden Familien. Manche gehen in die Moschee, andere nicht. Genau wie in anderen Teilen der Welt. Der Unterschied ist allein, dass es in einigen Ländern verboten ist, den Islam zu kritisieren. Aber in der Türkei ist das z.B. nicht so. In anderen Ländern war es möglich, aber es ist nun schwieriger geworden.

Die Religion erhält wohl eine größere Bedeutung. Für junge Muslime im Westen ist der Islam in zunehmendem Maße ein zentrales Element ihrer Identität.

Das glaube ich auch. Es ist eine Folge verschiedener Faktoren, aber vor allem von der Leere des heutigen Kapitalismus. Es gibt keine wirklichen Alternativen. Viele Menschen fühlen dies und wenden sich der Religion zu, nicht nur Muslime. Menschen, die sich vor zwanzig, dreißig Jahren überhaupt nicht als religiös betrachteten, wenden sich nun dem Islam, dem Christentum, dem Buddhismus usw. zu. Warum? Weil der Kapitalismus wie eine Dampfwalze alles plattmacht und die Menschen für sich einen Ort der Zuflucht schaffen wollen. Weil viele keine politischen und sozialökonomischen Alternativen mehr sehen, kommen sie auf die Religion zurück. Darum betrachten Menschen in Migrantengemeinschaften ihre Identität in rein religiösen Begriffen, und darin sehe ich keine gute Entwicklung. Aber ich meine auch, dass sich dies in den folgenden Generationen verändern wird. Man kann jetzt in dem Ausmaß, in dem die Leute religiös sind, alle Varianten sehen. Ich glaube nicht, dass der Rückfall in die Religion universell ist.

Ein Aspekt der heutigen orientalistischen Darstellung von Muslimen ist, dass sie als Menschen geschildert werden, die mit dem Koran nur unkritisch und dogmatisch umgehen können, während andere Gläubige, vor allem die Christen, als fähig betrachtet werden, eine moderne Interpretation ihres heiligen Buches zu liefern.

Das ist in der Tat eine irrsinnige, aber weit verbreitete Vorstellung. Deshalb betone ich die Diversität in der muslimischen Welt. In Polen spielte die Kirche seinerzeit eine bedeutende Rolle im Kampf gegen das stalinistische Regime. Im Westen wurde ihre Rolle enthusiastisch begrüßt. Warum wird mit zweierlei Maß gemessen? Viele Menschen in der muslimischen Welt betrachten einen Angriff auf den Islam als unannehmbar. Viele, und ich kenne einige von ihnen, die durchaus nicht religiös sind, sagen: "Ja, ich bin ein Muslim." Das ist eine Folge davon, wie die USA es zum Teil unakzeptabel gemacht haben, ein Muslim zu sein.
Ihr lebt selbst in einem Land, in dem die Religion äußerst dominierend war. Der protestantische Fundamentalismus ist eine der schlimmsten Formen des Fundamentalismus. Protestantische Fundamentalisten aus England und den Niederlanden haben in Nordamerika einen Genozid begangen; sie haben die einheimische Bevölkerung im Namen des Fortschritts ausgerottet - etwas, was Muslime noch nicht getan haben.

Überall, wo man das Wiederaufleben der Religion, von der du sprichst, sieht - unter Muslimen im Westen, unter amerikanischen ChristenÂ… -, stellt man fest, dass konservative Vorstellungen über Sexualität eine große Rolle spielen.

Das ist immer so gewesen. Ich glaube nicht, dass der Kapitalismus die Menschen dazu treibt, konservative Vorstellungen von Sexualität zu haben, doch der Kapitalismus will, dass sie in Kernfamilien, von einander isoliert, aufwachsen. Wenn die Religion zu einem zentralen Bestandteil der Identität eines Menschen wird, dann will er anders sein als seine Umgebung. Er kann dies, indem er eine konservative sexuelle Moral predigt, sich gegen Homosexualität ausspricht, indem er behauptet, dass Frauen minderwertig seien. Bei der Bildung der eigenen Identität spielt die Frage der Sexualität eine große Rolle. Die Menschen sind ständig auf der Suche nach Unterscheidungen, und die trifft man am bequemsten in der Religion.

Gibt es in der muslimischen Welt eine Zukunft für die feministische Bewegung und in den muslimischen Gemeinschaften hier im Westen?

Sicher. Es hat bspw. eine sehr effektive Bewegung in Pakistan gegeben gegen die islamische Gesetzgebung, die 1977 während der Diktatur eingeführt wurde. Im ganzen Land organisierten sich Frauen, machten Demonstrationen und kritisierten die Sharia. Ägypten, Marokko, Nigeria und Tunesien kannten feministische Bewegungen. Die Staaten reagierten hierauf dadurch, dass sie entweder selbst fundamentalistische Bewegungen schufen, wie in Pakistan, oder mit solchen zusammenarbeiteten, wie in Ägypten. Im Tausch gegen eine konservative und frauenfeindliche Politik versprachen die Fundamentalisten, den Staat nicht länger anzugreifen.
Im Westen müssen in Zukunft feministische Strömungen entstehen, die gleichzeitig explizit antiimperialistisch sind. Dann wird es möglich sein, junge muslimische Frauen für den Feminismus zu gewinnen. Leider existiert der Feminismus im Westen kaum als eine politische Bewegung.

Im Rahmen der Betonung von Unterschieden sprichst du in The Clash of Fundamentalisms von einem "offiziellen Multikulturalismus".

Ja, darin liegt die Ursache für die Suche nach Unterschieden. Wenn man nach Großbritannien schaut, stellt man fest, dass die Religion gefördert wird - durch die Regierung und vor allem durch Blair. Selbst nach dem 11.September wird die Bildung religiöser Körperschaften, bspw. religiöser Schulen, gefördert. Innerhalb des "offiziellen Multikulturalismus" werden Unterschiede zwischen den Menschen als Tugend angesehen. Zum Teil ist dies ja auch so - die Menschen sind verschieden. Aber als Sozialist weiß ich auch, dass es sich lohnt, sich zu vereinigen. Ich glaube, dass unter jungen Menschen mehr Übereinstimmungen als Unterschiede bestehen. Ich bin optimistisch: Die Betonung der religiösen Trennlinien wird in Europa nicht lange dauern, vielleicht dreißig oder vierzig Jahre.

Warum?

Zynisch ausgedrückt: weil der Kapitalismus blind ist gegenüber Geschlecht, Hautfarbe oder Religion. In dem Maße, wie er wächst und sich ausbreitet, wird er alle Kennzeichen der Menschen beseitigen. So ist es stets gelaufen.

Ist die Linke fähig, eine Alternative aufzeigen?

Die Linke ist gegenwärtig sehr schwach. Was die radikale Linke betrifft, so bin ich nicht optimistisch. In Großbritannien gehöre ich [dem linken Bündnis] Respect nicht an. Ich habe in einigen Punkten Differenzen mit ihnen. Die Art und Weise, in der Respect vorgeht, ist reiner Opportunismus. Ich bin gewiss für die Zusammenarbeit mit muslimischen Gruppen, aber Ziel von Sozialisten muss es sein, religiöse Menschen für den eigenen Standpunkt zu gewinnen und nicht in ihr Lager überzugehen.

Man sollte also auf weniger unkritische Weise zusammenarbeiten?

Allerdings. Wie es Respect macht, wird es nicht funktionieren. Man muss ein neutrales Terrain finden, das als Basis für eine Diskussion dienen kann. Man darf nicht schon von vornherein den eigenen Standpunkt aufgeben oder verschleiern. Viele der Gruppen, mit denen eine Zusammenarbeit besteht, haben sehr konservative und reaktionäre Wurzeln. In den Ländern, aus denen sie kommen, wie z.B. Ägypten oder Indonesien, sind sie stets Gegner der Linken gewesen.

Zu den Problemen, vor denen Antirassisten und Sozialisten stehen, gehört, dass wir einerseits Solidarität mit diskriminierten Minderheiten üben wollen, andererseits aber konservativen Denkmustern, die z.T. von diesen Minderheiten vertreten werden, kritisch gegenüberstehen.

Die Aufgabe für Sozialisten ist klar: Die muslimischen Gemeinschaften müssen verteidigt werden gegen Dämonisierung und Repression, gegen die weit verbreitete Vorstellung, dass der Terrorismus dem Islam eigen ist. Dies muss alles heftig bekämpft werden. Aber gleichzeitig darf man über den sozialen Konservatismus in diesen Gemeinschaften nicht hinweggehen und ihn nicht verschweigen. Man muss versuchen, diese Menschen für die eigenen Ideen zu gewinnen.
Ich möchte ein Beispiel geben: Das letzte Kapitel in meinem Buch ist ein offener Brief an junge Muslime. Nachdem ich diesen Brief geschrieben hatte, etwa ein Jahr später, erhielt ich einen Brief von einigen jungen Muslimen. Diese dachten, dass sie der Anlass für diesen Brief gewesen wären, weil sie Bemerkungen gemacht hatten, die in dem Brief erwähnt werden. Sie waren erstaunt, dass sie ernst genommen worden waren, und hatten auch viel untereinander diskutiert. Das führte dazu, dass zwei von ihnen Mitglieder der Scottish Socialist Party wurden.
Ziel muss sein, die Stellung der Jüngeren, die progressiv und säkular ausgerichtet sind, zu stärken. Das ist sehr wichtig. Es sind viele progressive Menschen in den muslimischen Gemeinschaften zu finden, aber infolge der Atmosphäre dort können sie begreiflicherweise nicht nach außen treten. Das sind die Menschen, die die säkularen Kräfte bilden müssen und die man unterstützen muss. Vor allem unter jungen Frauen kann man diese Menschen finden. Wir können sehr viel dabei gewinnen, wenn wir sie nicht ignorieren, wozu aber die extreme Linke in Frankreich neigt. Die französische extreme Linke ist das Spiegelbild zum britischen Opportunismus. Sie hat kaum nennenswerten Kontakt zur muslimischen Gemeinschaft und betrachtet dies nicht als Priorität. Beide Richtungen irren sich - wir müssen einen Mittelweg finden.

Aus: Grenzeloos (Rotterdam), Nr.80, März/April 2005 (www.grenzeloos.org) (Übersetzung: Hans-Günter Mull).