Trotz Niederlagen Aufbruchstimmung

6.Konferenz der Gewerkschaftslinken.

Die Gewerkschaftsführungen haben die nach der Großdemonstration des 1.November 2003 und dem Aktionstag vom 3.April 2004 zum Greifen naheliegende Zuspitzung der gesellschaftspolitischen Kämpfe gegen Hatz IV nicht nur verspielt, sie haben sie auch nicht gewollt. Mit dieser Feststellung sprach der Geschäftsführer des Stuttgarter Ver.di-Bezirks Bernd Riexinger den Anwesenden gleich zu Beginn der sechsten bundesweiten Konferenz der Gewerkschaftslinken am Wochenende vom 14./15.Januar aus der Seele. Die Enttäuschungen über das letzte dreiviertel Jahr waren auch hier in Stuttgart allgegenwärtig. Trotzdem - oder gerade deswegen? - waren immerhin 350 Interessierte gekommen, mehr als doppelt soviel wie von den Organisatoren zuvor erwartet. Und was verhalten begann, sollte mit einem ordentlichen Hauch Aufbruchsstimmung enden.

Blick nach Nordamerika
Es begann am Freitag Abend mit einem Vortrag von Heiner Köhnen (TIE - Transnationals Informations Exchange), der am Beispiel der nordamerikanischen Automobilarbeitergewerkschaften UAW (USA) und CAW (Kanada) aufzeigte, wie strukturell anders Gewerkschaften auf vergleichbare Herausforderungen zu reagieren imstande sind, wenn sie entsprechend gewillt sind.
Die UAW war Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre die Gewerkschaft, die mit ihrer Konzessionspolitik - zuerst lohnpolitische Nullrunden, dann immer weitere Zugeständnisse auch bei den Arbeitsbedingungen und Sozialleistungen; zuerst bei Chrysler, dann auch bei Ford - entscheidend zur erfolgreichen Durchsetzung der neoliberalen "Reagan-Revolution" beigetragen hatte.
Auch damals war das wichtigste Argument das der Beschäftigungssicherung. Doch davon könne, so Köhnen, keinerlei Rede mehr sein. Hatte General Motors 1979 noch 468000 Beschäftigte, seien es heute, nach zweieinhalb Jahrzehnten der "Standortsicherung", gerade noch 150000. Dieses schlagende Beispiel für den Unsinn einer gewerkschaftspolitischen Orientierung an der betriebswirtschaftlichen Effizienz statt an der traditionellen Solidarität zwischen den Arbeitenden und ihren Gewerkschaften, wird noch offensichtlicher, vergleicht man diese Entwicklung mit derjenigen der kanadischen CAW, die sich zu Beginn der 80er Jahre im Protest gegen diese Konsens- und Konzessionspolitik für unabhängig erklärte, und in den folgenden zwei Jahrzehnten sozialpolitische Verschlechterungen nicht nur weitgehend verhindert, sondern mehr noch neue sozialpolitische Erfolge erkämpft hat.
Ganz nebenbei ist auf diesem Wege auch eine kämpferische Gewerkschaftskultur hervorgegangen, die zur Erneuerung einer sozialistischen Linken wesentliches beigetragen hat und als solche gerade in den 90er Jahren zum Bezugspunkt auch vieler europäischer und deutscher Gewerkschaftslinker geworden ist.

Erfahrungen 2004
Tom Adler (DaimlerChrysler Stuttgart) und Wolfgang Schaumberg (Opel Bochum) knüpften an den Ausführungen Riexingers an und brachten die Erfahrungen der jüngsten Betriebskämpfe ins Spiel. Nachdem er sich von jener platten Gewerkschaftskritik, die alles Schlechte einzig in den verräterischen Führungen ausmacht, distanziert hatte, betonte Adler jedoch umso mehr, dass es vor allem deren Verantwortung gewesen sei, dass die klassenkämpferischen Situationen des letzten Jahres für eine gewerkschaftspolitische Offensive nicht genutzt, dass die Kämpfe nicht wie 1996/97 politisiert wurden.
"Sechs Tage Proteste haben nicht gereicht, um Jahrzehnte der Entpolitisierung zu kompensieren", ergänzte Schaumberg und schilderte eindrucksvoll, dass und wie selbst die oppositionellen Gewerkschaftsvertreter im Kampf um Opel zur Entmündigung einer bemerkenswert selbsttätigen Belegschaft beigetragen haben.
Auch Adler betonte, dass sich die real existierende Gewerkschaftslinke in diesen Kämpfen nicht gerade mit Ruhm bekleckert habe. Er sprach von einer dramatischen gegenwärtigen Situation, in der es gerade an der betrieblichen Basis eine weitreichende Unzufriedenheit mit Sozialkahlschlag und betrieblichem Alltag gibt, es andererseits aber keine Kraft gäbe, diese Stimmung aufzugreifen und etwas daraus zu machen. Die Gewerkschaftsführungen hätten, so Adler unter dem Beifall der Versammelten, den neoliberalen Kurs verinnerlicht.
Hier knüpfte auch Werner Sauerborn (Ver.di Baden-Württemberg) an und betonte, dass die Gewerkschaften als solche in einer tiefen, von ihnen selbst offenbar ignorierten Krise stecken. Bei all dem, was ihre eigentliche Aufgabe ausmacht - beim Kampf um Arbeitsbedingungen, Löhne, Sozialleistungen etc. - stehe seit langem ein Minuszeichen, die Mitglieder laufen weg, die Organisationsstrukturen erodieren.
Sauerborn sieht im Wesentlichen drei vorherrschende Lösungsstrategien für diese Krise. Die erste werde von Merkel und Westerwelle symbolisiert und wolle den ultimativen Angriff auf die institutionalisierte Macht der Gewerkschaftsbewegung. Rot-Grün sage den Gewerkschaftern dagegen, dass sie diese Institutionalisierung sichern wolle, aber nur um den Preis, dass die Gewerkschaften den neoliberalen Umstrukturierungsprozess als Ganzen mittragen. Damit machen sich die Arbeitervertreter aber zu Komplizen eines Prozesses, gegen den sie eigentlich angehen müssen und wollen.

Perspektiven der Gegenwehr
Sauerborn verortet dieses strategische Dilemma in den Spezifika der neuartigen Globalisierung, in der nicht mehr das Kapital zur Arbeit, sondern die Arbeit zum Kapital gehe. Der Neoliberalismus sei vor diesem Hintergrund weniger pure Ideologie, sondern der ideologische Reflex neuer politisch-ökonomischer Realitäten, vor denen Gewerkschafter und Linke nicht länger ihre Augen verschließen dürften. Gegen die neue Qualität länderübergreifender Konkurrenz innerhalb der Arbeiterklasse helfe nur ein neuer, qualitativer Schritt zu globalen Gewerkschaftsstrukturen, die er positiv in der ITF, der gewerkschaftlichen Internationale der Seeleute. verkörpert sieht (vgl. nebenstehende Rezension).
Es passte, dass Bernd Kamin (Hafen, Hamburg), gerade diese, allgemein als positiv eingeschätzte ITF-Erfahrung mit einem eigenen Beitrag einbrachte und deren Kämpfe und Kampfformen schilderte.
Dass die Globalisierungsprozesse nicht nur international neue Aktionsformen erheischen, sondern auch national, wurde in einer Extra-Arbeitsgruppe zum Thema. Mag Wompel (Labournet) schilderte engagiert die objektiven Hindernisse heutiger Gegenwehr: Nicht nur, dass vielen Betrieben die Kenntnis von Streikformen abhanden gekommen sei, da sie seit 20-30 Jahren keinerlei Erfahrung mehr damit haben, mehr noch machen die zunehmend unorganisierten Betriebe und die neuen prekären Beschäftigungsverhältnisse sowie die Scheinselbständigen als solche neue Aktionsformen notwendig, die stärker als bisher auf das Kriterium der Wirksamkeit zu achten hätten.
Das von ihr ausgemachte Spektrum solcher Aktionsformen reicht dabei vom "Dienst nach Vorschrift" über individuelle Ungehorsamsaktionen auf kleinstem Niveau bis zu neuen Streikmethoden wie der öffentlich erklärten Weigerung von Fahrausweiskontrollen durch Bedienstete des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs oder der selektiven Postzustellung, die private, nicht aber Geschäftspost zustellt.
Diese unorthodoxen Aktionsformen, das wurde in der anschließenden Diskussion deutlich, sind nicht nur geeignet, Widerstand und Klassenbewusstsein unterhalb der großen Streikebene zu befördern, sie leben wesentlich auch von jener Machtressource öffentliche Meinung, die immer wichtiger werde, wenn es darum gehe, auch in den Köpfen der Menschen Veränderungsprozesse herbeizuführen. Der Produzentenmacht wird hier die Kunden- oder Konsumentenmacht zur Seite gestellt. So erntete ein Diskutant großen Beifall, als er vorschlug, spätestens im Falle eines Wiederaufbrechens des Opelkampfs zum Boykott der Opelprodukte aufzurufen, um die Arbeiter solidarisch zu unterstützen.
Neue Kämpfe, das propagierte schließlich Jakob Schäfer (Wiesbaden), erfordern auch neue Formen und Niveaus der Vernetzung. Sein vorbereitetes Plädoyer für festere Strukturen der Gewerkschaftslinken und ein häufigeres Positionieren in aktuellen Kämpfen wurde trotz mancher Bedenken angenommen. Nun will man an einer gemeinsamen Grundsatzerklärung arbeiten und diese bereits im Sommer, auf einem weiteren Kongress, zur Diskussion stellen.
2004 war ein Jahr der Niederlagen für die abhängig Beschäftigten und ihre Linken. Doch nicht selten in der Geschichte, darauf verwies Tom Adler, ist gerade aus solchen Niederlagen politisches Bewusstsein, Klassenbewusstsein erwachsen. Sollte es der Gewerkschaftslinken gelingen, hierzu beizutragen, dürfte sich Bernd Riexingers zu Beginn des Kongresses geäußerte Vermutung bestätigen, dass dieser Kongress der Gewerkschaftslinken neben dem Gründungskongress einer der wichtigsten sein könnte.