Niedrige Arbeitseinkommen - ein wachsendes Problem

Sind Mindestlöhne die Lösung?

Mittlerweile werden Niedrigeinkommen als soziales Problem wahrgenommen - bisher wurden sie vor allem als Teil der Lösung des Beschäftigungsproblems propagiert.

Lang anhaltende Massenarbeitslosigkeit, jahrelange Netto-Realeinkommensverluste, verschlechterte sozial- und arbeitsrechtliche Bedingungen (u.a. Hartz IV), Lücken in der Tarifbindung und nicht zuletzt die Öffnung der vorher national verfassten Arbeitsmärkte im Zuge der voranschreitenden europäischen Integration haben zu anhaltendem Druck gerade auf die Ausdifferenzierung der Niedrigeinkommen geführt. Der Anteil der Niedriglohnbezieher, d.h. der Arbeitnehmer mit einem Bruttostundenverdienst, der mehr als 25 % unter dem länderspezifischen Durchschnitt liegt, ist in Deutschland, Irland, Niederlande und dem Vereinigten Königreich am höchsten. 54 % der gering qualifizierten Arbeitnehmer sind in Deutschland Niedriglohnbezieher - ein Anteil der weit über dem EU-Durchschnitt von 34 % liegt. Vgl. EU-Kommission, Beschäftigung in Europa 2003, Brüssel Juli 2003, S. 106, Tabelle 37 (S. 111)

Die Debatte über Mindestlöhne hat sowohl bei den politischen Parteien als auch in der politischen Öffentlichkeit an Brisanz gewonnen. Die politischen Kommentatoren sind sich noch nicht einig, wie sie die überraschende Hinwendung der SPD zu diesem Thema durch Müntefering werten sollen. Die einen vermuten darin ein Angebot zum politischen Tauschhandel nach dem Motto: "Wir geben euch den Mindestlohn, ihr akzeptiert Hartz IV". (Vgl. Süddeutsche Zeitung, Jonas Viering, Mit dem Mindestlohn ein Geschäft machen, 17.8. 2004) Die anderen sehen darin eher den geschickten Versuch, die Debatte zu öffnen, um sie zum Verstummen zu bringen (Vgl. N. Fickinger, Im Fangnetz der Tarife, FAZ, Nr. 217, 17.9.2004). Letzteres wird wohl nicht so leicht gelingen. Denn das Thema bietet hinreichend Gründe für politisches Handeln, wie nachfolgend gezeigt werden wird.

Unzureichende rechtliche Verankerung:

Regeln für ein verbindliches unteres Arbeitseinkommensniveau neu fassen

Prinzipiell herrscht bei Lohnvereinbarungen Vertragsfreiheit - also Marktwirtschaft pur. Für Gewerkschaftsmitglieder, die bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt sind, gelten dagegen die Tariflöhne als Mindestbedingungen. Diese können durch Allgemeinverbindlicherklärung auch auf Nicht-Verbandsmitglieder ausgeweitet werden. Das geschieht bei Lohnverträgen selten - es scheitert vor allem am Widerstand der Arbeitgeber.

Dort, wo es keine Tarifbindung gibt, sind der Lohnkonkurrenz Tür und Tor geöffnet. Allerdings lässt die Rechtsordnung Deutschlands keine unbegrenzte Absenkung der Arbeitsentgelte zu. Die Grenze für untertarifliche Entlohnungsvereinbarungen zieht Paragraph 138 BGB. Danach verstößt ein Arbeitsvertrag gegen die guten Sitten, wenn unter Ausbeutung einer Zwangslage Leistungen vereinbart werden, die in auffälligem Missverhältnis zur Gegenleistung stehen.

Den Maßstab für ein "auffälliges Missverhältnis" hat mittlerweile das Bundesarbeitsgericht vorgegeben (Urteil vom 23. 5. 2001 - 5 AZR 527/99 - in EzA Nr. 29 zu § 138 BGB). Demnach sind Entgelte dann sittenwidrig, wenn sie um 1/3 unterhalb des vergleichbaren Tariflohnes oder des ortsüblichen Lohnniveaus liegen.

In der Regel ist der "vergleichbarer Tariflohn" höher als der "ortsübliche Lohn". Letzterer erhält vor allem in jenen Regionen, in denen der Tariflohn nur noch eine geringe Rolle spielt - so vor allem in den neuen Bundesländern - , verstärkt Bedeutung. . Denn - so auch die Begründung in Gerichtsurteilen - gerade in diesen Gebieten bestimmt sich der objektive Wert der Arbeitsleistung nicht mehr nach dem Tariflohn. "Der Tariflohn stellt dort nicht die verkehrsübliche Vergütung dar." (LAG Sachsen, Az. 3 Sa 1025/03 - 12 CA 2181/03 ArbG Chemnitz, 28.4.2003). Deshalb müsse auf das allgemeine (ortsübliche) Lohnniveau Bezug genommen werden (hierfür: BAG, Urteil vom 23. 5. 2001, a.a.O.). Konkret heisst dies, dass der ohnehin schon unterhalb des Tariflohnes liegende ortsübliche Lohn nochmals um 1/3 unterschritten werden darf, ehe die als sittenwidrig definierte Grenze der Entlohung erreicht wird.

Die gesetzliche Untergrenze zieht also die Grenzen äußerst weit und ist letztlich nicht hilfreich, wenn es um die Vermeidung von Lohnunterbietung und die Sicherung auskömmlicher Arbeitseinkommen geht. In der Realität kann es sogar zu Arbeitsverhältnissen kommen, die selbst diese niedrige Entgeltgrenze nicht einhalten. Denn es gilt der Grundsatz: "Wo kein Kläger, da kein Richter." Bezahlung unter Tarif bzw. unterhalb des ortsüblichen Lohnes ist kein Tatbestand, bei dem der Staatsanwalt oder die Gewerbeaufsicht eingreifen. Es muss der individuelle Klageweg gegangen werden - Verbandsklage gibt es nicht. So ist es nicht verwunderlich, dass die betroffenen Arbeitnehmer häufig nicht klagen - denn sie riskieren alltägliche Schikanen des Arbeitgebers bis hin zum Arbeitsplatzverlust. Schon allein aus diesen Gründen ist eine rechtsverbindliche untere Lohngrenze erforderlich.

Tariflöhne sind Mindestlöhne - doch wie weit reichen sie?

Bis vor Jahren konnte man davon ausgehen, dass die Arbeitsentgelte einer breiten Mehrheit von Branchen und Beschäftigten durch Tarifverträge definiert waren - auch wenn es immer schon nicht tarifgebundene Arbeitsverhältnisse gab, so waren die Tariflöhne doch die repräsentative Bezugsgröße für die mindestens zu zahlenden Entgelte. Auch die tariflichen und "ortsüblichen" Arbeitsentgelte unterschieden sich nur selten. Der tarifliche Lohn war insofern auch für die gerichtliche Auseinandersetzung der in den meisten Fällen typische Bezugspunkt bei der Bemessung von sittenwidrigen Löhnen.

Das ist nicht mehr der Fall, da die Tarifverträge in manchen Branchen und Regionen, vor allem in den neuen Bundesländern, nur noch einen kleinen Teil der Beschäftigten abdecken. Auch in den Organisationsbereichen der IG Metall - insbesondere im Metallhandwerk, bei Textil-/Bekleidung, Holz und Kunststoff - trifft dies zu. Auf diese Weise werden die niedrigeren "ortsüblichen Löhne" in zunehmendem Maße zur Referenzgröße.

Damit sind für den Unterbietungswettbewerb neue Freiräume entstanden. Diese werden sich ausweiten, wenn die beabsichtige EU-Richtlinie zur Liberalisierung der Dienstleistungen so beschlossen werden sollte wie sie derzeit formuliert ist. Künftig soll demnach das "Herkunftslandprinzip" gelten - also jene Entgelte bezahlt werden, wie sie im Herkunftsland des die Dienstleistung ausführenden Unternehmens gelten. Auf diese Weise würde das mühsam im Rahmen des Entsendegesetzes durchgesetzte "Arbeitsortprinzip" (gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort) für die Entlohnung bei der grenzüberschreitenden Entsendung von Arbeitskräften innerhalb der EU unterlaufen (ausgenommen wären nur jene Branchen, für die jetzt das Entsendegesetz gilt, also im wesentlichen der Bau- und baunahe Sektor). Da "Dienstleistungstätigkeiten" nicht branchengebunden sind, sich vielmehr in allen Branchen finden (man denke nur an Gebäudemanagement, Reinigung, Sicherheitsdienste, Wartung, Instandhaltung, software-Beratung etc.), würde es folglich zum Lohnunterbietungswettbewerb quer über die Branchen hinweg in den mittlerweile 25 EU-Mitgliedsländern kommen.

Eine weitere Relativierung der Tarifentgelte als Mindestlöhne ergibt sich schließlich durch die neue "Zumutbarkeitsregel" bei der Vermittlung von Arbeitslosen. Löhne, die unterhalb des Tariflohnniveaus liegen, sind demnach zumutbar - die Grenze zieht nur die oben beschriebene und wenig hilfreiche gesetzliche Schranke der sittenwidrigen Entgelte.

Ein verbindliches unteres Arbeitsentgelt: Wie gestalten?

Gewerkschaftliches Ziel ist, Lohnunterbietung (Lohndumping) zu verhindern und ein auskömmliches Arbeitseinkommen zu sichern. Mindestlöhne können prinzipiell garantieren, dass es nicht zu einem weiteren Abrutschen der gezahlten Löhne am unteren Ende kommt. Doch auch dies gewährleisten sie nur dann, wenn gesetzliche Mindestlöhne mindestens genauso hoch wie die derzeitigen untersten Tarifentgelte sind. Das ist erheblich zu bezweifeln.

Denn ein gesetzlicher, für alle Wirtschaftsbereiche gleichermaßen anzuwendender Mindestlohn würde sich allenfalls am Durchschnitt der jetzt existierenden untersten Lohngruppen - also einschließlich der Branchen Gaststätte, Reinigungsgewerbe etc. - orientieren. Da zudem der sogenannte "ortsübliche Lohn" - also der in einer Region durchschnittlich effektiv gezahlte Lohn - schon heute in vielen Fällen niedriger als der Tariflohn liegt, wird die zu erwartende Höhe eines bundesweiten Mindestlohnes auch davon beeinflusst sein.

Das bedeutet: Ein nationaler Mindestlohn, der quer über alle Branchen und Regionen hinweg einheitlich festgesetzt würde, läge mit hoher Wahrscheinlichkeit unterhalb der untersten Tarifgruppe der Metallindustrie, des Metall-Handwerks, der Holz- und evt. sogar der Textil-/Bekleidungsindustrie. Unterbietung wäre dann gewissermaßen gesetzlich "erlaubt" - nicht im engen rechtlichen Sinne, aber in der politischen Auseinandersetzung. Denn jede Branchen- bzw. Unternehmenskrise würde natürlich dazu genutzt, die Beschäftigten zu erpressen. Standort- bzw. Beschäftigungssicherung wäre nur zu haben, wenn die Löhne zumindest für Teilbereiche der Beschäftigten auf die niedrigeren Mindestlöhne abgesenkt würden.

Daraus folgt, dass in vielen Tarifbereichen - auch jenen der IG Metall - ein nationaler Mindestlohn nicht helfen, sondern eher Probleme machen würde. Man kann sich aber sehr wohl einen auf die Branche bezogenen gesetzlichen Mindestlohn vorstellen. So etwas gibt es ja mittlerweile. Denn der Mindestlohn entsprechend dem Entsendegesetz ist ja auf die Branche bezogen und muss von Entsendefirmen bezahlt werden.

Praktisch könnte dies wie folgt aussehen: Künftig wird gesetzlich festgelegt, dass das unterste Tarifeinkommen einer Branche zugleich zum gesetzlichen Mindesteinkommen dieser Branche wird. Dieses gesetzliche Branchen-Mindesteinkommen gilt für alle Beschäftigten/Unternehmen der Branche, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu den jeweiligen Tarifverbänden. Italien hat gleichfalls eine branchenbezogene Mindestlohnregelung: "Nach Auslegung der Zivilgerichte (preture), die in Italien die Funktion von Arbeitsgerichten haben, entspricht der "Lohn, der ... ausreichend sein muss, ... ein freies und würdiges Leben zu gewährleisten", dem in der Branche vereinbarten tariflichen Mindestlohn für die jeweilige Berufsgruppe. Diesbezügliche Urteile der Zivilgerichte wurden bei Berufungsverfahren von den Kassationsgerichten (cassazione) stets bestätigt. Somit sind Arbeitgeber verpflichtet, den Grundlohn zu zahlen, selbst wenn sie keiner Tarifpartei angehören. Laut Auslegung der Gerichte umfasst der "Grundlohn" ein 13. Monatsgehalt, auf das nun jeder Arbeitnehmer in Italien seinen Anspruch hat, aber kein 14., 15. oder 16. Monatsentgelt." Bispinck, R., Kirsch, J., Schäfer, C., Projekt Mindeststandards für Arbeits- und Einkommensbedingungen und Tarifsystem für das Ministerium für Wirtschaft und Arbeit des Landes Nordrhein-Westfalen, Projektbericht, S. 297

Maßstab ist jener Tarifvertrag, der von der für den jeweiligen Wirtschaftszweig "repräsentativsten Organisation der Tarifvertragsparteien" (Zitat aus EU-Entsende-Richtlinie, Art. 3) geschlossen worden ist. Ein bestimmtes Mindest- oder Höchstmaß an Tarifbindung ("Quorum") ist nicht erforderlich. Durch den Verweis auf die jeweils "repräsentativste Tarifvertragspartei" wird aber vermieden, dass von "gelben Gewerkschaften" vereinbarte Tarife zur Grundlage für den branchentypischen gesetzlichen Mindestlohn werden.

In Bereichen, in denen keine einschlägigen Tarifverträge existieren, werden die Tarifverträge vergleichbarer Bereiche herangezogen oder die für die Leiharbeitnehmer vereinbarten Tarifsätze als Bezugsgröße genommen. Denn der heute existierende Tarifvertrag für Leiharbeitnehmer ist von seinem Charakter her eine bundesweit für alle Branchen gleichermaßen gültige Vereinbarung, die schon jetzt branchenübergreifend beim Einsatz von Leiharbeitnehmern angewandt wird. Das macht ihn auch als Bezugsgröße für Bereiche ohne tarifliche Bindung so geeignet.

Die Vorteile eines auf Branchenebene verallgemeinerten Mindestlohnes liegen in folgendem:

(1) Es wird kein neues Mindestlohnniveau eingeführt, vielmehr werden die unteren Tarife für die jeweilige Branche verallgemeinert. Dadurch entsteht ein verbindlicher unterer Branchen-Referenz-Lohn, der auch bei Arbeitsvermittlung und vor Gericht bei Einzelfallentscheidungen maßgeblich wäre;

(2) Das Verhältnis von Mindestlohn und Sozialeinkommen wird nicht durch ein neues niedrigeres allgemeines Mindestlohnniveau zu Lasten der Sozialeinkommen verändert;

(3) Die bestehenden Lösungen gemäß Entsendegesetz und Zeitarbeitnehmer können gut integriert werden;

(4) Es entstehen keine neuen (politischen) Abhängigkeiten und auch keine neuen bürokratischen Einrichtungen bei der Gestaltung der (unteren) Arbeitseinkommen;

(5) Die Anpassung der unteren Löhne an die wirtschaftliche Entwicklung erfolgt im Rahmen der regelmäßigen Tarifverhandlungen, geschieht also zeitnah und in Verbindung mit der ökonomischen Lage der Branche. Die Tarifparteien haben es selbst in der Hand, das angemessene Niveau des jeweiligen Mindesteinkommens je Branche zu bestimmen.

(6) Die Tarifautonomie wäre nur marginal berührt.

Mindestlohn - nur ein Element, um Armut zu verhindern

Der Arbeitslohn und damit auch der Mindestlohn ist immer auf den einzelnen Beschäftigten bezogen. Er kann diesem eine angemessene Bezahlung zur Sicherung der individuellen Reproduktion garantieren. Doch er kann nicht automatisch Armut verhindern: Armut ist auch bei Arbeitseinkommen, die weit über dem unteren individuellen Sicherungsniveau liegen, möglich. Denn der Tatbestand der Armut ist erst bei Kenntnis der spezifischen Bedarfslage gemäß der jeweiligen Haushalts- bzw. Familiensituation und des gesamten verfügbaren Haushaltseinkommens feststellbar. Zum verfügbaren Einkommen zählen neben den Arbeitseinkommen auch alle sonstigen Einkommen aller Haushaltsmitglieder (soziale Transfers; Zinsen, Mieten etc.). Aus der Armutsforschung ist bekannt, dass Einkommensarmut vorrangig bei Familien mit Alleinverdiener, Familien mit zwei und mehr Kinder; sowie bei Alleinerziehenden auftritt.

Die spezifischen Bedarfslage ist vor allem abhängig von der Haushalts- bzw. Familiensituation: Kinder, nicht berufstätige Haushaltsmitglieder, Pflegebedürftige etc. erhöhen den Bedarf. Nun kann aber die vollständige materielle Sicherung dieser spezifischen Familien- bzw. Haushaltssituation systematisch gesehen nicht in jedem Fall über das jeweilige individuelle Arbeitseinkommen gesichert werden. Geschähe dies, dann würden sich negative Arbeitsmarktkonsequenzen für jene ergeben, die besondere existentielle Zusatzbedarfe in ihrem Lohn abgegolten sehen wollen. In der gewerkschaftlichen Diskussion wurde dies frühzeitig erkannt.

Im Verlauf der Nachkriegszeit kam es zur systematischen "Entmischung" von "Soziallohn"-Bestandteilen und Individuallohn - Zuschläge für Verheiratete, für Kindererziehung und ortsbedingte Sondersituationen des Lebens ("Ortszuschläge") sind nun weitgehend aufgelöst und in die Sozial- und Steuerpolitik integriert. Folglich sind nun für eine umfassende materielle Sicherung weitere Einkommenselemente zu garantieren, wie vor allem:

- sozialpolitische Einkommenshilfen wie Kindergeld, Pflegegeld, Wohngeld, Sozialhilfe etc.

- steuerpolitische Regelungen, die das Verhältnis von Netto- zu Bruttolohn anheben, wie die Erhöhung des steuerfreien Existenzminimums; kinderspezifische Steuer-Klassen ("Kinder-Lastenausgleich" statt Ehegattensplitting) etc.

- Entlastung bei Sozialversicherungsabgaben für untere Einkommen.

Die wirksame Bekämpfung von Einkommensarmut muss deshalb neben den Arbeitseinkommen auch sozialpolitische und steuerliche Regelungen umfassen. Die materielle Sicherung der Lage der abhängig Erwerbstätigen kann nur in einem funktionierenden differenzierten System von Arbeitseinkommen, Steuersystem und Sozialeinkommen gelingen. Vermeidung und Bekämpfung von Armut muss alle Instrumente dieses Systemzusammenhanges nutzen. Es greift zu kurz, dies nur über den Mindestlohn lösen zu wollen.

Resümee:

Mindestlohn - notwendiges Element im System der Einkommenssicherung

Gesetzliche Regelungen zu Mindestarbeitseinkommen bieten sich als Ersatzlösung an, wenn die bisher üblichen Instrumente zur Regelung unterer Arbeitsentgelte (Tarifvertrag; Tarifbindung, Rechtsprechung) eklatante Regelungsdefizite aufweisen. Dort, wo tarifliche Entgelte nur noch oder überwiegend in Einzelunternehmen ausgehandelt werden und dort, wo Tarifverträge nur noch einen geringen Teil der Arbeitseinkommen rechtlich erfassen, drängt sich eine gesetzliche Fixierung der unteren Lohngrenze geradezu auf. Übrigens nicht nur aus Gründen der Sicherung eines auskömmlichen Arbeitseinkommens, sondern auch aus (unternehmerischen) Gründen der Vermeidung "unlauteren Wettbewerbs" und aus gesamtwirtschaftlichen Gründen der Vermeidung von deflationären Tendenzen, wie sie bei einem nach unten völlig offenen Lohnsystem einträten. ("The less wage negotiations take place on an industry level the more government set minimum wages become necessary." Herr, Hansjörg, Wages, Employment and Prices, Working Papers of the Business Institute Berlin at the Berlin School of Economics (FHW-Berlin), Berlin June 2002, S. 43)

Klassischerweise fand man Mindestlöhne bisher vor allem in jenen Ländern, in denen die gewerkschaftliche Organisation schwach und die flächendeckende Wirkung der Tarifverträge äußerst lückenhaft sind (z.B. Frankreich, Vereinigtes Königreich, USA ). Insofern sind gesetzlich abgesicherte Mindestentgelte als "Lückenfüller" eher die zweitbeste Lösung - aber sie sind als Bestandteil eines umfassenderen tarif-, steuer- und sozialpolitischen Konzeptes der Einkommenssicherung unumgänglich geworden.