Transnational und fragend voran?!

Anmerkungen zum Stand der Bewegung angesichts des zweiten Europäischen Sozialforums

Einige interessante, aber gleichzeitig beunruhigende Tendenzen innerhalb der "Bewegung für eine Globalisierung von unten" vom 2. Europäischen Sozialforum (ESF) vom 12. bis 15. November 2003 in Paris

Zum zweiten Europäischen Sozialforum (ESF) trafen sich vom 12. bis zum 15. November 2003 in Paris 60 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus 60 Ländern. Das Forum wurde an vier verschiedenen Orten, in den Stadtteilen Ivry-sur-Seine und La Villette und den migrantisch geprägten Vorstädten St. Denis und Bobigny veranstaltet. Einen Teil der 55 Plenarsitzungen, 262 Seminare, 303 Workshops und 53 Kunst- und Kulturveranstaltungen auch in den "Quartiers dÂ’exile", im "Aus der Vorstädte"1, stattfinden zu lassen, gehörte zum Programm des ESF und wurde von vielen Bewohnern als willkommene Geste der Solidarität gewertet.

Statt hier in Form eines Konferenzberichts die Ereignisse des ESF zu rekapitulieren, möchten wir auf einige interessante, aber gleichzeitig beunruhigende Tendenzen innerhalb der "Bewegung für eine Globalisierung von unten"2 aufmerksam machen, wie sie in Paris manifest wurden. Unsere kritische Analyse zielt darauf ab, in die Debatte über Sinn und Zweck von Sozialforen einzugreifen und das Augenmerk auf die notwendige Verständigung der Bewegung über sich selbst zu lenken. Ein unmittelbares Verständigungsproblem bestand freilich im Sprachengewirr. Ohne das europäische Netzwerk ehrenamtlicher Übersetzer "Babel", das in Paris in letzter Minute einsprang, nachdem bekannt geworden war, dass eine Koalition von ultrarechten und bürgerlichen Parteien die bereits sicher geglaubte Kostenübernahme für die Übersetzung verhindert hatte, wäre das ESF im Sprachenchaos versunken. Darüber hinaus besteht aber ein politisches Verständigungsdefizit, das unseres Erachtens sehr viel gravierender ist und das wir daher genauer untersuchen werden.

Die Rückständigkeit der europäischen Bewegung
Der Begriff der "Bewegung der Bewegungen" macht die netzwerkartige Struktur plastisch, auf dem ihr Organisationsmodell fußt. Es geht darum, Bewegungen aus aller Welt mit unterschiedlichen Ausrichtungen und Wirkungsbereichen unter einem sehr flexiblen Dach zusammen zu bringen und sie im Zuge gemeinsamer politischer Praxis zu einer einzigen Bewegung zusammen zu schmieden.3 Die in ihr aufgehobene Differenz ist die Stärke der "Bewegung der Bewegungen", aber es könnte - wie auch mehrfach in Paris geäußert wurde - auch ihre Schwäche werden.

Der europäische Arm der "Bewegung der Bewegungen" ist bisher vergleichsweise schwach entwickelt, was vor allem mit der Geschichte der sozialen Bewegungen in Europa zu tun hat, wie sich am (west-)deutschen Fall anschaulich zeigen lässt. Als später Erfolg der klassischen Arbeiterbewegung konnten sich die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg relativ erfolgreich etablieren und Bürger-, politische und soziale Rechte wohlfahrtsstaatlich und bürokratisch institutionalisieren. Interessen, die außerhalb des historischen Kompromisses des Fordismus positioniert waren (Frauen, Umwelt, teilweise Einwanderer), formierten sich in den 70er und 80er Jahren als "neue soziale Bewegungen" - mit Konsequenzen, die bis heute nachwirken.

Erstens leitete die Entstehung der neuen sozialen Bewegungen einen Prozess der Fragmentierung des Protestspektrums ein. "Single-Issue"-Orientierung, "Politik in der ersten Person" und die Selbstmarginalisierung radikaler Gruppen führte trotz aller Erfolge zumindest punktuell zum Verzicht auf die Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse. Die politisch-praktische Zerklüftung der Bewegungsmilieus zeitigte auch Effekte in der Theorie. Zeitweise feierte der Nihilismus fröhliche Urständ und viele westliche Intellektuelle verlegten sich auf die eine oder andere Spielart postmoderner Beliebigkeit. 4 Dennoch war die Zersplitterung linker Politik und Theorie nicht einfach ein historischer Irrtum, sondern ein für die Artikulation marginaler Interessen offenbar notwendiger Schritt. Jedenfalls lässt sich der Zerfall der einen in viele Bewegungen "after the fact" gar nicht kritisieren, sondern nur als Problematik einer neuen für Differenz sensibilisierten Synthese begreifen.

Zweitens trugen die alten, aber mittlerweile unglücklichen Ehen von Sozialdemokratie und Gewerkschaften sowie von grüner Partei und neuen sozialen Bewegungen zumindest bis vor kurzem zu einer Winterstarre des Protests bei. Die Theorie vom parlamentarischen Stand- und außerparlamentarischen Spielbein, wonach jede soziale Bewegung ihre eigene Partei benötigt, um den "Marsch durch die Institutionen" antreten und ihre Ziele effektiv in den parlamentarischen Raum transportieren zu können, wurde in Deutschland spätestens mit dem Eintritt von Grüne/Bündnis90 in die rot-grüne Regierungskoalition gründlich diskreditiert. Die beiden Beine gehörten ganz offensichtlich verschiedenen Spielern, die mittlerweile in gegnerischen Mannschaften spielen. Obwohl die grüne Partei ebenso wie die real existierende Sozialdemokratie mittlerweile zu den Vollstreckern neoliberaler Politik geworden sind, scheint aber der Lerneffekt auf Seiten der neuen sozialen Bewegungen ebenso wie der Gewerkschaften erst langsam in seiner ganzen Konsequenz durchzuschlagen, denn der Bruch zwischen den Parteien und den Bewegungen ist noch längst nicht komplett vollzogen.

Drittens holte das Kapital just im Moment der größten Schwäche zum Generalangriff aus. Nach dem von den Gewinnlern des Kalten Krieges ausgerufenen "Ende der Geschichte" befanden sich alle linken Projekte, egal ob sie sich gegenüber dem Realsozialismus kritisch oder affirmativ positioniert hatten, auf dem absteigenden Ast. Zu den schweren Geschützen des Kapitals gehören Globalisierung und Standortdebatte, die aufgrund der ökonomischen Leerstelle bei den neuen sozialen Bewegungen und der sozialpartnerschaftlichen Eingebundenheit der Gewerkschaften auf wenig Gegenwehr stießen. Gleichzeitig konnte das Kapital für seine Flexibilisierungsstrategie, die für viele in der Prekarität mündete, auf Motive der neuen sozialen Bewegungen, etwa Forderungen nach mehr Autonomie in der Arbeit oder der Entstandardisierung von Biographien, aufbauen und diese funktionalisieren.5

Während die europäische Linke noch kaum begonnen hatte, ihre Niederlage zu verkraften und das Ausmaß des Angriffs durch die Globalisierung zu verstehen, war am 1. Januar 1994 aus dem lakadonischen Regenwald das erst spät verstandene Aufbruchsignal des zapatistischen Aufstandes in Chiapas zu vernehmen. Der Anschein einer militärisch agierenden Guerilla war schnell verflogen, als anhand der veröffentlichten Kommuniqués deutlich wurde, dass die Zapatistas das welthistorisch neue Projekt verfolgen, "die Welt (zu) verändern, ohne die Macht zu übernehmen"6, während sie mangels einer Gebrauchsanleitung "fragend vorangehen" ("preguntando caminamos"). Neben Chiapas stach Brasilien auf der Landkarte der alternativen Globalisierung hervor. Die brasilianische PT begann, starke Elemente "partizipativer Demokratie"7 einzuführen, und die mobilisierungsstarke Landlosen-Bewegung MST macht sich daran, eine de facto Landreform zu erzwingen, was in einem von Großgrundbesitz, Militärherrschaft und Korruption regierten Land geradezu revolutionäre Qualität besaß. Während die lateinamerikanische Linke längst den Gegenangriff organisiert hatte und daher in der Lage war, das Weltsozialforum aus der Taufe zu heben, befand sich die europäische Linke mit wenigen Ausnahmen noch in einer anderen Epoche.

Die fehlenden Voraussetzungen einer möglichen neuen Synthese
Die europäische Rückständigkeit etwa gegenüber Erfahrungen in Lateinamerika wirkte beim ESF in Paris noch nach, wo weder vom zapatistischen "preguntando caminamos" noch vom argentinischen "luchamos preguntando", dem fragenden Kämpfen, etwas zu spüren war. In den beiden Leitsätzen verdichtet sich der historische Lerneffekt, dass gewaltige und drängende Probleme anstehen, deren Lösung einer kollektiven politischen Praxis bedarf, deren konkrete Form und Stoßrichtung jedoch unklar sind und die deshalb der permanenten kritischen Reflexion und Korrekturen der eigenen Praxis bedarf. Ein solcher Prozess kollektiver Reflexion einschließlich aller Zweifel, Irrtümer und Konflikte wird nicht leicht zu organisieren sein, insbesondere, wenn dabei vermieden werden soll, dass hierarchische und exklusive Strukturen verstärkt oder gar neu geschaffen werden. Die Aufgabe der Reflexion aber auszusparen, würde für das ESF und den europäischen "Arm" der Bewegung bedeuten, sich in einer historisch offenen Situation der Gefahr der taktischen und strategischen Orientierungslosigkeit auszuliefern.

Auch die Drohung an die Adresse der Herrschenden: "Our resistance will be as transnational as capital!", mit der die Bewegung einmal angetreten war,8 um die grundlegende Asymmetrie im Kapital- Arbeit-Verhältnis zumindest ein wenig auszugleichen, wurde in Paris nicht glaubwürdig erneuert. Eine Bewegung für eine Globalisierung von unten muss sich nicht nur ihres Namens, sondern auch der Sache wegen transnational organisieren, statt nationalstaatlich in Lokalpatriotismus zu verharren. Lokale Autonomiebestrebungen und partikulare Bewegungen, die die globale Ebene aus den Augen verlieren, wirken ausgrenzend. Wer vom us-amerikanischen Imperialismus der Bush-Administration reden will, darf von den Großmachtgelüsten in der Europäischen Union nicht schweigen. Auch hier müssen neue Formen der Verständigung gefunden werden, die über nationale Grenzen hinausgehen und die sich durch die Aufnahme antipatriarchaler und antirassistischer Kritik permanent erneuern. Der Mangel solcher Strukturen wurde in Paris schmerzlich bewusst. Für die Weiterentwicklung und Stärkung der Bewegung ist das Ringen um tragfähige transnationale Verbindungen jedoch essentiell.9

Das ESF als Manifestation von Defiziten
Die Formierung einer europäischen Bewegung für eine Globalisierung von unten setzte, abgesehen von wenigen lokalen Ereignissen, wie etwa der (allerdings weitgehend nationalen) Mobilisierung gegen die Jahrestagung des IWF und der Weltbank bereits 1988 in West-Berlin, sehr spät ein. Reclaim the Streets in London und die von den Zapatistas inspirierten Tutte Bianche in Italien gehörten, zeitlich verstanden, zur "Avantgarde" der praktischen Globalisierungskritik in Europa. Seattle, wo sich die globale Bewegung 1999 erstmals in ihrer vollen Eindrücklichkeit präsentierte, löste den Startschuss für die erste Runde tatsächlich transnational organisierter Protestereignisse aus. Zeit und Ort der Proteste waren zunächst von den Gipfeln der neoliberalen Globalisierungsinstitutionen bestimmt, in Europa z. B. vom Jahrestreffen des Internationalen Währungsfonds und der Weltbankgruppe 2000 in Prag, vom Gipfel der Europäischen Union 2001 in Göteburg, vom G-8-Gipfel 2001 in Genua und vom alljährlich stattfindenden informellen Weltwirtschaftsforum in Davos. Um von der Hase-und-Igel-Politik des nachwandernden Protestes loszukommen und auch weil die neoliberale Elite ihre Gipfel zunehmend entweder abseits der mobilisierungsstarken Länder oder in Hochsicherheitsquarantäne veranstaltete, wie die WTO-Konferenzen 2001 in Doha, Qatar, und 2003 in Cancún, Mexico, gezeigt haben, fand die Idee einer bewegungseigenen Veranstaltung schnell Zuspruch. Mit der Etablierung des Weltsozialforums 2001 in Porto Alegre und der anschließenden Redimensionierung der Sozialforumsidee zunächst auf die Ebene der Kontinente, später auch auf die Ebene der Städte und Nationalstaaten, setzte schließlich ein Prozess der Institutionalisierung der Bewegung ein. Fortan wurde das Wort über die Tat gestellt und zentrale gegenüber dezentralen Organisationsformen privilegiert. Aus der aktionsorientierten affinity group, der dezentral und mit flachen Hierarchien agierenden Bezugsgruppe zur praktischen Bewältigung von Polizeigewalt auf Demonstrationen, wurde die thematische Arbeitsgruppe, die ihrer "Mutter"-Organisation inhaltlich zuarbeiten soll; in die ursprüngliche Netzwerkstruktur werden nun feste Etagen eingezogen.

Mittlerweile lassen sich innerhalb der Bewegung entgegen ihrem eigenen Selbstverständnis Tendenzen der internen Formierung und externen Schließung beobachten, die das ohnehin spannungsreiche Verhältnis der Bewegung zu ihren Elementen, die ja selbst Bewegungen sind, zusätzlich unter Druck setzen. Um nur einige dieser Tendenzen, wie sie jüngst während des ESF zu erkennen waren, zu nennen:

  • Die Kämpfe um Einfluss innerhalb der Bewegung nehmen zu, wie am (gescheiterten) Versuch von Attac Frankreich, das ESF in eine kleine, aber feine Veranstaltung parteinaher Kräfte umzuwandeln, 10 ebenso zu sehen war wie an der gewalttätigen Konfrontation zwischen dem Block der französischen sozialistischen Partei und einem "sozialrevolutionären", libertären Block.11 Das frische und noch fragile "Wir", das die Bewegung hergestellt hat, differenziert sich nicht nur netzwerkförmig, sondern auch hierarchisch aus.
  • Die internen Widersprüche der Bewegung werden unübersehbar, wie die Präsenz nationalistischer "Befreiungsbewegungen" (z. B. aus dem spanischen Baskenland) innerhalb einer dem Anspruch nach transnationalen Bewegung zeigte, die nationale Borniertheiten hinter sich lassen will. Solche Widersprüche werden gegenwärtig ausgesessen, statt im Rahmen öffentlicher Auseinandersetzungen ausgetragen.
  • Der Wettstreit um die Spitze des Demonstrationszuges, die die "sans papiers", die illegalisierten und deshalb hochgradig prekarisierten Einwanderer, vergeblich einzunehmen versuchten, machte deutlich, dass die in Genua noch selbstverständliche Solidarisierung mit den verletzbarsten Teilen der Bewegung nur noch sparsam gewährt wird.
  • Das Problem egalitärer Repräsentation, also die Fragen, wer für wen sprechen darf und soll, ist nach wie vor ungelöst. Wenn auch dieses Problem in letzter Konsequenz unlösbar sein mag, so kann es aber doch erheblich entschärft werden. Offensichtlich wurde das Fürspracheproblem beim ESF z. B. daran, dass die französischen Frauen im Frauenblock es für selbstverständlich hielten, dass Männer nicht nur in "ihrem" Block mitliefen, sondern per Megafon die "Solidarité aves les femmes de tout le monde!" ausriefen - ein in anderen politischen Kontexten undenkbarer Vorgang.
  • Die Frage nach der Zukunft der Bewegung und der Art und Weise der Vermittlung ihrer Ziele in den politisch-institutionellen Raum ist offen und kann beim derzeitigen Stand der Bewegung nicht sinnvoll beantwortet werden. Dennoch drängen sowohl die Öffentlichkeit als auch ein Teil der Aktiven permanent und penetrant auf eine Antwort. Wer mit uns die Potentiale der Bewegung aber noch nicht entfaltet sieht, muss sich hier einmal mehr in revolutionärer Geduld üben.

Was kann und soll ein Sozialforum leisten?
Im Grunde bleibt die Funktion von Sozialforen auch nach dem vierten Weltsozialforum und dem zweiten ESF unbestimmt. Gegenüber der Weltöffentlichkeit geht es beim Weltsozialforum darum, einen demokratischen, sozialen und ökologischen Kontrapunkt zum fast zeitgleich in Davos stattfindenden Weltwirtschaftsforum der neoliberalen Elite aus Wirtschaft und Politik zu setzen. Das ESF hingegen erfüllt in erster Linie bewegungsimmanente Funktionen. Es löst angesichts der Masse und Internationalität seiner Teilnehmerinnen und Teilnehmer zunächst einmal Begeisterung und Motivationsschübe aus und füllt die Kräftereservoirs. Als eine Art kompakte europäische Volksuni ermöglicht es außerdem die politische Bildung über Nationalgrenzen hinweg und den Austausch über die Lage der Welt. Schließlich befördert es persönliche Kontakte und konkrete Absprachen zwischen Aktivisten über europaweite Aktionen oder sogar langfristige gemeinsame Kampagnen. Die große und unabweisbare Aufgabe, die es bisher nicht erfüllt hat, besteht darin, einen möglichst hierarchiefreien Raum zu eröffnen, in dem über die Ziele und Strategien der Bewegung verhandelt werden kann. Die Starintellektuellen der Bewegung können diese Aufgabe nicht im Auftrag der Bewegung lösen.

Wir befinden uns bereits in einer neuen Phase des Kapitalismus und stellen beim Versuch, den Widerstand dagegen zu erneuern, erschrocken fest, dass dieser erst kollektiv entwickelt werden muss. Dabei fehlen uns weniger die Kenntnisse über den Gegner als die Fähigkeit, "uns" trotz aller Differenzen innerhalb dieser Kategorie als kollektives Subjekt des Widerstandes zu entwerfen und die internen Widersprüche praktisch auszuhalten. Die Vielheit in der Einheit, die eine transnationale "Bewegung der Bewegungen", der Singular der Plurale, notwendig darstellt, stellt die Bewegung vor enorme Herausforderungen, von denen neben den offenkundigen sprachlichen Problemen zwei Schwierigkeiten besonders hervorstechen:

Erstens müssen neue inklusive und egalitäre Formen der kollektiven Verständigung über sich selbst gefunden oder vielmehr erfunden werden. So banal diese Forderung erscheinen mag, so utopisch bleibt ihre Umsetzung. Podiumsdiskussionen, die klassische Form der politischen Frontalveranstaltung und während des ESF in Paris vermutlich der häufigste Veranstaltungstyp, werden dem Anspruch an Inklusivität und Egalität jedenfalls nicht gerecht. Während Inklusivität hier die grundsätzliche Möglichkeit der Teilhabe am politischen Prozess meint, erhebt das Kriterium der Egalität die Forderung nach Teilhabe unter gleichen Bedingungen, also eine politische Auseinandersetzung auf gleicher Augenhöhe. Ein Beispiel, was Inklusivität und Egalität politisch-praktisch bedeuten könnten, mag die Charta des Berliner Sozialforums - SFB vermitteln. In seinen Leitlinien der Zusammenarbeit verpflichtet sich das SFB darauf, "ausgehend von den positiven Erfahrungen nicht-hierarchischer Zusammenarbeit " und ohne "vorschnelle Vereinheitlichung", die "auch immer Ausgrenzung bedeuten kann", "eine von gegenseitigem Respekt getragene politische Streitkultur" zu entwickeln und, die eigenen "Handlungsmöglichkeiten (zu) erweitern", "die gesamte Breite" der "Erfahrungen und Aktionsmöglichkeiten (zu) respektieren" und mit Aktionen der teilnehmenden Gruppen und Personen solidarisch (zu) sein, auch wenn (Â…) an manchen inhaltlichen Punkten Differenzen" bestehen. Das Bemühen um kollektive "Handlungsfähigkeit " ohne "vorschnelle Vereinheitlichung", das hier deutlich wird, gekoppelt an die Bereitschaft, "voneinander (zu) lernen" (SozialForum Berlin 2003), ist genau das, was auf dem Europäischen Sozialforum nicht erkennbar war.12

Zweitens müssen die Akteure der Bewegung eine Vorstellung davon entwickeln und Praxis einleiten, um lokale und überlokale, gar globale Kämpfe miteinander in Beziehung zu setzen. Der historisch-materialistische Geograph David Harvey weist in diesem Zusammenhang auf das Problem des "Jumping Scales" hin, darauf nämlich, dass das Verhältnis lokaler Partikularkämpfe zu globalen Auseinandersetzungen nicht einfach dem Verhältnis von Teilen zur Summe der Teile entspricht. Vielmehr findet im Übergang vom Besonderen zum Allgemeinen außerdem eine "gewalttätige" "Übersetzung " vom Konkreten ins Abstrakte statt, bei der die Möglichkeiten der direkten Erfahrung und der darauf aufbauenden Solidarität verloren gehen.13 Probleme der Übersetzung von Partikularkämpfen auf die europäische oder globale Ebene werden zwangsläufig auftauchen und bedürfen der moderierenden Intervention. Selbstverständlich muss diese Art der Intervention wiederum den Prinzipien der Inklusivität und Egalität folgen.

"Eine andere Welt ist möglich" - dieser Leitsatz der Bewegung war intendiert, um das TINA-Prinzip ("There is no alternative" - Margret Thatcher), die postulierte Alternativlosigkeit des Neoliberalismus, anzugreifen und die politische Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse ins kollektive Gedächtnis zu rufen. Heute besteht die Herausforderung nicht mehr darin, die grundsätzliche Möglichkeit zu beschwören, sondern nach neuen - inklusiven und egalitären - Wegen ihrer Verwirklichung zu suchen. Ein weites und noch zu wenig beackertes Feld.

Andrea Plöger - Jg. 1970; Ethnologin und Videoaktivistin/ Dokumentar- filmemacherin/-Filmerin

Erwin Riedmann - Jg. 1969; Soziologe; promoviert an der FU Berlin über "die Bewältigung sozialer Ausgrenzung im Armuts- und Einwanderungsquartier"

1 François Dubet und Didier Lapeyronnie: Im Aus der Vorstädte. Der Zerfall der demokratischen Gesellschaft, Stuttgart 1994.

2 In Abgrenzung zum inhaltlich verfälschenden Begriff der "Antiglobalisierungsbewegung ", dessen Ersatzbegriff der "globalisierungskritischen Bewegung" die Sache auch nicht besser traf, wird mittlerweile häufig im deutschen Sprachraum umständlich, aber zutreffend von der "Bewegung für eine Globalisierung von unten" gesprochen. In Frankreich war allenthalben von den "altermondialistes" (in etwa: die, die eine andere Globalisierung wollen) die Rede. Mit dieser Begriffsbildung reagiert die Bewegung auf den angesichts ihrer eigenen Globalisierung absurden Vorwurf, sie lehne Globalisierung per se ab, und schärft gleichzeitig ihre Gegnerschaft - je nach Couleur - zur neoliberalen, kapitalistischen oder ökonomischen Globalisierung.

3 Vgl. Thomas Seibert: The People of Genova. Plädoyer für eine postavantgardistische Linke, in: BUKO (Hrsg.): radikal global. Bausteine für eine internationalistische Linke, Berlin, Hamburg, Göttingen 2003. Seibert hebt hervor, dass die Bewegung "in einem ebenso programmatischen wie organisatorischen Internationalismus bereits ihren Ausgangspunkt gefunden hat" und "wie noch keine Bewegung so entschieden die eigene heterogene Zusammensetzung bejaht". (S. 61)

4 Für ein anschauliches Beispiel von den Stilblüten postmoderner Wissenschaftlichkeit vgl. Editors of Lingua Franca (Hrsg.): The Sokal Hoax. The Sham that Shook the Academy. University of Nebraska Press, Lincoln 2000. Der Physiker Alan Sokal behauptete in einem die postmoderne Diktion persiflierenden Artikel, dass die Schwerkraft eine gesellschaftliche Erfindung sei, von der sich die Wissenschaft endlich befreien müsse. Die renommierte Zeitschrift Social Text nahm den Artikel sofort an und veröffentlichte ihn in der Meinung, es handle sich um einen ernstzunehmenden wissenschaftlichen Beitrag zur Dekonstruktion.

5 Vgl. Luc Boltanski und Ève Chiapello: Befreiung vom Kapitalismus? Befreiung durch Kapitalismus? In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 4, 2000, S. 476-487.

6 John Holloway: Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen. Münster 2002.

7 Ubiratán De Souza: Die Partizipative Haushaltsführung im Bundesstaat Rio Grande do Sul (Brasilien), in: UTOPIE kreativ, Heft 158 (November 2003).

8 Massimiliano Andretta u. a.: No Global-New Global. Identität und Strategien der Antiglobalisierungsbewegung, Frankfurt/ Main, New York 2003. 450

9 Vgl. ebenda, S. 212 f: "Während die reduzierte Fähigkeit der politischen Parteien, als Kanäle der Mediation neuer Forderungen im politischen System zu funktionieren, ihre Auswirkung in der raschen Vermehrung des Protests vor allem auf lokaler Ebene fand (Â…), lag die Stärke der ›Bewegung der Bewegungen‹ darin, dass es ihr gelang, viele der Proteste in einem gemeinsamen Projekt zusammenzuführen. Wenn die Suche nach neuen Formen der Demokratie somit mit einem wachsenden Bedürfnis nach Partizipation zusammenklingt (auch weil es immer weniger durch die politischen Parteien erfüllt wird), so bleibt das Problem der Kanalisierung der Forderungen der Bewegung in die Agenden der Institutionen offen. Im Hinblick auf die Herausforderungen, die sich den alten Modellen der Repräsentanz durch die Durchsetzung einer mehrebenigen Governance stellen, findet sich die Bewegung für eine Globalisierung von unten mit der schwierigen Suche nach demokratischen Institutionen konfrontiert, die nicht nur partizipativ sind, sondern auch effizient und den Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet."

10 Bernhard Schmid: Ein Forum für alle. Im Vorfeld des Europäischen Sozialforums gibt es heftigen Streit um das Verhältnis zu islamischen Migranten und Linksparteien, in: Jungle World, Nr. 45. 29. Oktober 2003.

11 Vgl. http://aris.indymedia.org/article.php3?id_article=9965Zugriff am 19. Januar 2004.

12 SozialForum Berlin: Leitlinien der Zusammenarbeit im Sozial Forum Berlin (Fassung vom 19.9.2003). In: http://www.sozialforumberlin.de/print.php?sid=23 Zugriff am 19. Januar 2004.

13 David Harvey: Justice, Nature, and the Geography of Difference. Blackwell: Oxford 1996, p. 194, und ders.: City and Justice: Social Movements in the City, in: ders.: Spaces of Capital. Towards a Critical Geography, Edinburgh 2001, p. 33.

in: UTOPIE kreativ, H. 163 (Mai 2004), S. 447-453

aus dem Inhalt:

Essay ULRICH BUSCH: Geiz ist geil! Wieso auf einmal? Interview Interview mit PAUL M. SWEEZY "Ich mußte mich einfach dem Marxismus zuwenden" Linksparteien in Skandinavien HENNING SÜSSNER: Parlamentarische Erfolge - organisatorische Krise. Die Erfahrungen der Linkspartei Schwedens; PETER BIRKE: Sosialistisk Venstreparti - eine linkssozialistische Partei in Norwegen Europa im Umbruch JÜRGEN MEIER: Wissenschaft ist fortschrittlich! Und die Kunst?; ANDREA PLÖGER, ERWIN RIEDMANN: Transnational und fragend voran?! Anmerkungen zum Stand der Bewegung angesichts des zweiten Europäischen Sozialforums; VICTORIA KENDLER, PETER ULLRICH: Report Back: European Identity Forum, Paris 2003 Standorte GOTTFRIED STIEHLER: Was wäre wenn? Bücher & Zeitschriften Erhard Hexelschneider: Rosa Luxemburg und die Künste. (MICHAELWEGNER); Detlef Nakath, Gerd Rüdiger Stephan (Hrsg.): Entweder es geht demokratisch - oder es geht nicht. Klaus Höpcke - Kolloquium anlässlich seines 70. Geburtstages (KURT PÄTZOLD); Michael Schumann: Metamorphosen von Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein (MARCUS SCHWARZBACH); Hella Hertzfeldt, Katrin Schäfgen (Hrsg.): Demokratie als Idee und Wirklichkeit (NINA NEUHAUS); Summaries